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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1878

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https://doi.org/10.11588/diglit.66814#0193
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Textile Kunst. Stoffe. Seide.

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nun der Geschmack bereits so früh diese Richtung genommen hatte, fanden
die orientalischen für den Markt producirten seidenen Dutzendwaaren, als
roba da fiera nothgedrungen bestimmungs- und inhaltslos, einen gar
willkommenen Absatz. Die eingewirkten chimärischen Bestien, mit denen
diese Stoffe überstreut sind, nichts wie verkümmerte und stereotypisirte
Nachkommen jener phantastischen assyrischen Fabelthiere (die übrigens
sämmtlich Erzeugnisse der Stickerei waren, auf welchen Umstand ich
noch später zurückkomme), bildeten nun sogar den Schmuck und die
Zierde der liturgischen Priesterornate, so wie der Kirchenparamente, der
Vorhänge, Himmeldecken und Fussteppiche.
§• 43.
Neu-Babylonischer Seidenstil.
Auf diese noch in Messgewändern, Krönungsornaten und sonstigen
Feierkleidern ziemlich zahlreich erhaltenen Stoffe des Orients, die auch
später in Griechenland, Sicilien und Italien nachgemacht wurden, und zu
denen die beissende Satire des frommen Bischofs Asterius so gut passt
(wie würde er erst sich geäussert haben, wenn sie schon zu seiner Zeit
ihren Eingang in das Heiligthum der Kirche gefunden hätten), richtet
sich heutzutage vorzugsweise das Interesse der christlichen Antiquare,
Ikonographen und Symboliker, die dergleichen gewirkte Ungeziefer und
Kleiderbestien der Gegenwart wieder schmackhaft zu machen bemüht
sind, wobei es dann natürlich nothwendig wird, den Salamandern, Greifen,
Einhörnern, Hasen, Füchsen, Affen, Elephanten, Leoparden, Hirschen,
Ochsen, Löwen, Adlern, Gänsen und sonstigem Wildpret, womit jene
Stoffe übersät sind, eine symbolisch-geistliche Bedeutung unterzulegen,
ohne welche die Ungereimtheit ihres häufigen Vorkommens auf geweihten
Kirchenimplementen und liturgischen Gewändern doch zu augenfällig wäre,
als dass eine Wiedererneuerung dieser Mode unserem Geschmacke zuge-
muthet werden könnte. Allerdings glaubte man vielleicht zu jener Zeit
wie diese Stoffe Mode waren, theils an die heilige, theils an die kabba-
listische Symbolik jener textilen Bilder, woher es kam, dass sie einen so
wichtigen Einfluss auf die gesammte Kunstrichtung jener Zeiten, vor-
züglich aber auf die Baukunst hatten, aber es wird für uns schwer sein,
uns wieder in diesen Glauben hineinzustudiren.
Bis gegen das Ende des IX. Jahrhunderts hinab scheinen diese
neubabylonischen Stoffe in der Kirche keinen besonderen Eingang gefunden
Semper, Stil. I. 10
 
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