Textile Kunst. Aegyptische Säulenordnungen.
393
Sätzen verwandtes staatliches Prinzip, das sich in Hellas erhob und mit
richtigem politischem Takte sofort seinen Institutionen in grossartigem
Massstabe baulich monumentalen Ausdruck gab., konnte von reicheren
Formen, die gleichsam das Gemeingut aller Kulturvölker der antiken
Welt in frühesten Zeiten waren und sich, ähnlich wie in dem alten Reiche
Aegyptens und in Asien, auch in dem alten Hellas vorfanden, auf ein-
fachere verfallen und so die Grundzüge des dorischen Stiles feststellen,
ohne dieselben von den memphitischen Vorbildern zu entnehmen. Indessen
thut, wenn letzteres der Fall gewesen ist, diess der Originalität der dori-
schen Hellenen nicht den mindesten Abbruch, in Betracht dessen, was sie
aus diesem angeblich entlehnten Motive zu machen wussten.
Die Mitte zwischen dem sogenannten protodorischen Schafte, dessen
Kannelürenschmuck seinen augenbefriedigenden Reiz daher entnimmt, weil
er gleichsam der dynamischen Funktion der Säule zum Ausdrucke dient,
weil ihre Straffheit und konzentrirte Widerstandskraft durch ihn anschau-
lich wird, und dei’ Säule mit dem Kelchkapitäle, bei der das Struktur-
schema nichts mit der schmückenden Bekleidung gemein hat, hält die
Säule mit dem Lotoskelchkapitäle. Bei ihr ist der unsichtbare, den Abakus
tragende, Strukturkern gleichfalls, wie bei der Kelchsäule, von Rohr-
stämmen umkleidet, die, mit naturgetreuer Entasis, rings um den Fuss
des Strukturkernes wie aus gemeinsamem Petalon hervorwachsen, oben
unter der Knospenkrone durch Riemen um diesen befestigt sind; ein dem
gewöhnlichen Kopfputze der ägyptischen Damen abgeborgtes ornamentales
Motiv, nämlich Lotosblumen, die in die Riemen eingebunden scheinen,
legen sich in die Zwischenräume der Lotoskelche des Kapitäles, um dieses
zu beleben und zugleich als Haupt zu charakterisiren.1 Gleiche, rein
dekorative, noch nicht mystisch symbolische, Absicht verräth auch die
Weise ihres polychromen Schmuckes, der, wenigstens an einigen der
ältesten Beispiele, in abwechselnd blauen, gelben und grünen Ringen
besteht, die in gleichen Breiten den Schaft umgeben, gleich als wäre
dieser aus eben so vielen verschiedenfarbigen Quadern aufgeführt. Im
frühesten Auftreten besteht der Rohrbündel nur aus vier Schäften (Beni-
Hassan), hernach wächst die Zahl der letzteren bis auf acht und zwölf
(Soleb in Nubien, Luxor), endlich verschwinden sie, wie bei der späteren
Kelchsäule, hinter einer Hieroglyphendecke, die den Schaft sammt dem
Kapitäle umschliesst; nur an dem Fusse bleibt eine leichte gemalte Schilf-
blattverzierung zurück als letzte Reminiscenz des verhüllten Organismus,
1 Vergl. die Figuren auf Seite 198-
393
Sätzen verwandtes staatliches Prinzip, das sich in Hellas erhob und mit
richtigem politischem Takte sofort seinen Institutionen in grossartigem
Massstabe baulich monumentalen Ausdruck gab., konnte von reicheren
Formen, die gleichsam das Gemeingut aller Kulturvölker der antiken
Welt in frühesten Zeiten waren und sich, ähnlich wie in dem alten Reiche
Aegyptens und in Asien, auch in dem alten Hellas vorfanden, auf ein-
fachere verfallen und so die Grundzüge des dorischen Stiles feststellen,
ohne dieselben von den memphitischen Vorbildern zu entnehmen. Indessen
thut, wenn letzteres der Fall gewesen ist, diess der Originalität der dori-
schen Hellenen nicht den mindesten Abbruch, in Betracht dessen, was sie
aus diesem angeblich entlehnten Motive zu machen wussten.
Die Mitte zwischen dem sogenannten protodorischen Schafte, dessen
Kannelürenschmuck seinen augenbefriedigenden Reiz daher entnimmt, weil
er gleichsam der dynamischen Funktion der Säule zum Ausdrucke dient,
weil ihre Straffheit und konzentrirte Widerstandskraft durch ihn anschau-
lich wird, und dei’ Säule mit dem Kelchkapitäle, bei der das Struktur-
schema nichts mit der schmückenden Bekleidung gemein hat, hält die
Säule mit dem Lotoskelchkapitäle. Bei ihr ist der unsichtbare, den Abakus
tragende, Strukturkern gleichfalls, wie bei der Kelchsäule, von Rohr-
stämmen umkleidet, die, mit naturgetreuer Entasis, rings um den Fuss
des Strukturkernes wie aus gemeinsamem Petalon hervorwachsen, oben
unter der Knospenkrone durch Riemen um diesen befestigt sind; ein dem
gewöhnlichen Kopfputze der ägyptischen Damen abgeborgtes ornamentales
Motiv, nämlich Lotosblumen, die in die Riemen eingebunden scheinen,
legen sich in die Zwischenräume der Lotoskelche des Kapitäles, um dieses
zu beleben und zugleich als Haupt zu charakterisiren.1 Gleiche, rein
dekorative, noch nicht mystisch symbolische, Absicht verräth auch die
Weise ihres polychromen Schmuckes, der, wenigstens an einigen der
ältesten Beispiele, in abwechselnd blauen, gelben und grünen Ringen
besteht, die in gleichen Breiten den Schaft umgeben, gleich als wäre
dieser aus eben so vielen verschiedenfarbigen Quadern aufgeführt. Im
frühesten Auftreten besteht der Rohrbündel nur aus vier Schäften (Beni-
Hassan), hernach wächst die Zahl der letzteren bis auf acht und zwölf
(Soleb in Nubien, Luxor), endlich verschwinden sie, wie bei der späteren
Kelchsäule, hinter einer Hieroglyphendecke, die den Schaft sammt dem
Kapitäle umschliesst; nur an dem Fusse bleibt eine leichte gemalte Schilf-
blattverzierung zurück als letzte Reminiscenz des verhüllten Organismus,
1 Vergl. die Figuren auf Seite 198-