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Simon, Holger
Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider — Berlin: VWF, Verl. für Wiss. und Forschung, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.51324#0114
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DER CREGLINGER MARIENALTAR VON TILMAN RIEMENSCHNEIDER

einem Bild zusammengefasst. Maria ist als Mensch im unteren Bildfeld einen weltlichen Tod
gestorben, dennoch mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden, wo die Gottes-
mutter ewiglich an der Seite Christi als Himmelskönigin herrscht.
An dieser Stelle kann zusammenfassend festgehalten werden, daß der Bildtypus einer
stehenden und mandorlierten Maria-Orans als Verbildlichung der leiblichen Aufnahme
Mariens im dem 11. Jahrhundert gedeutet und von der Seelenaufnahme in Verbindung mit der
Dormitio unterschieden werden muß. Tn der Berliner Biblia Vulgata (Abb. 89) wird die
Dormitio zwar mit der leiblichen Aufnahme Mariens in einer Miniatur verbunden, dennoch
sind beide Bildfindungen aufgrund der Bildtypen eindeutig zu unterscheiden. Auf der Insel
Reichenau wurde schon um 1000 versucht, den Tod Mariens mit ihrer leiblichen Aufnahme in
den Himmel in einer Miniatur zu verbinden. Die zwei gegenüberliegenden Miniaturen in dem
Hildesheimer Lektionar und Kollektar (Abb. 84, 85) ermöglichen nun, die ganzseitige
Miniatur in dem Perikopenbuch vom Kaiser Heinrich II.539 richtig zu deuten. In diesem
Perikopenbuch ist in Anlehnung an den byzantinischen Bildtypus der Koimesis der Tod
Mariens dargestellt. Christus tritt nicht an das Sterbebett heran, um die Seele Mariens
aufzunehmen, sondern er sitzt als Majestas Domini in der oberen Hälfte der Miniatur und
empfängt Maria, die in einem von Engeln getragenen Clipeus als Maria-Orans in Halbfigur
abgebildet ist. Diese Bildfindung konnte im Hildesheimer Lektionar und Kollektar als
leibliche Aufnahme Mariens identifiziert werden. Im Reichenauer Tropar und Sequentiar vom
1OO1540 findet sich eine ganz ähnliche Miniatur (Abb. 90), die als Verbindung von Tod und
leiblicher Aufnahme Mariens gedeutet werden kann.541
Neben diesem Bildtypus einer stehenden, von Engeln erhobenen Maria-Orans für das Bild
der leiblichen Aufnahme Mariens tritt im Abendland 200 Jahre später ein zweiter Bildtypus,
der sich unabhängig vom ersten Bildtypus entwickelt. Im oberen Bildfeld des Tympanons (um
1205-1210) am Nordportal der Kathedrale von Chartres542 (Abb. 102), das in drei Bildfelder
unterteilt ist, sitzen Maria und Christus auf dem Himmelsthron unter einer Säulenarchitektur,
wobei Christus die gekrönte Maria segnet. Unter der Krönungsdarstellung befinden sich zwei
Bildfelder, die vertikal durch eine Säule getrennt sind. In dem linken Bildfeld befindet sich
eine Darstellung der Dormitio entsprechend dem bekannten Bildtypus: Christus ist an das
Sterbebett getreten und nimmt die nackte Seelenfigur Mariens zu sich. In dem rechten Bildfeld
heben Engel den Leib Mariens auf Tüchern aus einem Sarkophag, der sich formal von dem
Sterbebett in dem linken Bildfeld deutlich unterscheidet. In Laon543 wird um 1180-1200 auf
dem Tympanon des Westportales (Abb. 105) der Tod Mariens und die Aufnahme ihres Leibes
539 PERIKOPENBUCH Heinrich II, Reichenau, 1007/1012, München, Bayerische Staatsbibi. (Clm. 4452), fol. 161. - Vgl-
dazu zuletzt AUSSTELLUNGSKATALOG, Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Hildesheim 1993, Bd-
2, S. 480f. Vertier 1980, S. 63f.
540 Tropar und Sequentiar, Reichenau, 1001, Bamberg, Staatsbibliothek (Msc. Lit. 5), fol. 121v. - Vgl. Verdier 1980,
S. 63f.
541 SCHILLER 1980, S. 99, will in beiden Miniaturen Darstellungen der Seelenaufnahme erkennen.
542 Chartres, Kathedrale, Nordportal, 1205-1210. - Vgl. auch Noyon, Kathedrale, südliches Westportal, 1220-1230.
543 Laon, Kathedrale, mittleres Westportal, 1180-1200. - Vgl. auch Maastricht, St. Servatius, Westportal, 2. Viertel, U-
Jh.
 
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