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IKONOLOGISCHE UNTERSUCHUNG DES RETABELS

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genitrix) begründet liegt. Weitere Miniaturdarstellungen, wie z. B. die in der Augsburger
Dom-Missale (Abb. 87) dürfen dann nicht als „eine andere Form der Seelenassumptio“534
falsch gedeutet werden, sondern eingedenk des Bildtypus einer stehenden von einer Mandorla
hinterfangenen Maria, die von Engeln erhoben wird, versinnbildlichen sie die leibliche Auf-
nahme Mariens.
Im 11. Jahrhundert bildet sich in diesen Miniaturen ein Bildtypus der leiblichen Aufnahme
Mariens heraus, die die folgende Bildgeschichte der Assumptio Mariae bis in die Moderne
bestimmen wird. In der Missale aus Saint-Maur-les-fosses535 aus dem 12. Jahrhundert befindet
sich in der Majuskel V der Venerandaoration zur Festmesse der Aufnahme Mariens eine ste-
hende und gekrönte Maria-Orans, die von einer Mandorla hinterfangen ist. In der Venerandao-
ration wird die leibliche Aufnahme Mariens direkt angesprochen und betont, daß „die heilige
Gottesmutter zwar den zeitlichen Tod erlitten habe, dennoch konnte sie durch die Fesseln des
Todes nicht niedergedrückt werden.“536 In der Berliner Biblia Vulgata531 aus der Zeit um
1310/20 wird dieser Bildtypus dann inschriftlich mit der leiblichen Aufnahme Mariens ver-
bunden (Abb. 89). Die Miniatur ist in drei Bildfelder horizontal geteilt und wird von einem
Leistenrahmen mit Zierrosetten gerahmt. Im unteren Bildfeld trauern die Apostel um Maria,
die auf einem Bett liegend entschläft. Diese Bildfindung orientiert sich an dem Bildtypus der
bormitio, nur daß hier nicht Christus am Sterbebett steht und die Seele Mariens aufnimmt. Im
oberen Bildfeld der Miniatur sitzen Maria und Christus jeweils auf einen Thron, wobei ein En-
gel Maria krönt und Christus sie segnet. Im mittleren Bildfeld steht Maria im Orantengestus,
die von einer Mandorla hinterfangen und von sechs Engeln nach oben geleitet wird. Die wol-
kenähnliche horizontale Trennung zwischen dem unteren und mittleren Bildfeld und die wol-
kenähnlichen Begrenzung innerhalb der Mandorla heben das mittlere Bildfeld besonders her-
v°r. Auf dem Rand der Mandorla steht in lateinischen Buchstaben:
Transit ad ethera virgo puerpera filia iesse/
Non sine corpore sed sine tempore Transit ad esse.
„Nicht ohne Körper, sondern ohne Zeit“ sei sie in den Himmel zu ihrem Sohn aufgenom-
üten worden. Dieser Reim bezieht sich auf ein im 13. Jahrhundert verbreitetes Gebet, das in
der Legenda aurea innerhalb des Kapitels zur Himmelfahrt Mariens aufgenommen wurde und
dort als Nachweis für die Richtigkeit der leiblichen Aufnahme angeführt wird.538 In der ganz-
seitigen Miniatur der Biblia Vulgata sind die Prämissen der Himmelsherrschaft Mariens in

SJ4 Lateinischer Text bei Verdier 1980, S. 69.
5JS Schiller 1980, S. 99.
SJ6 Missale aus Saint-Maur-les-fosses, 12. Jh., Paris, Bibliotheque National (lat. 12054), fol. 218v.
y-Veneranda/ nobis d(omi)ne huius/ diei fesüvitas opem/ conferat salutare(m)/ in qua sancta dei ge/nitrix morte(m)
subiit/ temporale(m) nec tam(en)/ mortis nexib(us) de/primi potuit que(m)/filium tuam d(omi)n(um) n(ost)r(u)m de se
s37 genuit incarnatu(m)/ qui tecum vivitffi
Biblia Vulgata, um 1310/20, Berlin, Kupferstichkabinett (Hs. 78 E 2), fol 2r. VgL Verdier 1980, S. 142. - Weitere
Beispiele vgl. Sechspassfenster, um 1290, Freiburg, Münster; Simone en Machilone von Spoleto, Altartafel, um
1270-1280, Antwerpen, Mayer van der Bergh.
Benz 1984, S. 591. - Vgl. auch das lateinische Reimgebet In Assumptione BMV, 1351, Clm. Monacem. (ol. Emmera-
men.) 14343. Ediert von Dreves/Blume 1893, Nr. 58, S. 85, Vers 17.
 
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