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1 Einleitung

Eduard Tönnies zählt den Creglinger Marienaltar (Abb. 2), der sich heute in der Herrgotts-
kapelle bei Creglingen befindet und dem Würzburger Bildschnitzer Tilman Riemenschneider
(um 1460-1531) zugeschrieben wird, zu den „größten und bedeutendsten der drei erhaltenen
Altäre im Taubergrund“1, und Walter Paatz hebt ihn sogar als „Riemenschneiders vollkom-
menstes, schönstes Retabel“2 hervor. Eingedenk dieser Superlative, die in der Forschungs-
literatur nicht selten zu finden sind,3 verwundert es, daß dieses Schnitzretabel bis heute nur
unzureichend bearbeitet wurde.4 Den grundlegenden Forschungen von Hubertus Schrade und
Justus Bier5 aus den 20er Jahren konnte die nachfolgende Kunstgeschichtsschreibung nichts
Nennenswertes hinzufügen. Die Frage nach der Bedeutung des Creglinger Altares ist bis heute
nicht beantwortet, weil die Forschung bislang über eine Beschreibung des Retabels nicht hi-
nauskam. Seine stilistische Einordnung wirft grundsätzliche methodische Fragen auf, die die
allgemein anerkannte Datierung des Retabels in die Jahre 1505-1510 fraglich erscheinen las-
sen. In dieser Arbeit stellt sich daher der Autor die Aufgabe, dieses Desiderat in einer mono-
graphischen Studie zum Creglinger Marienaltar zu schließen. Sie erhebt den Anspruch, die
Antworten und Fragen der Forschungsliteratur zusammenzufassen und kritisch zu diskutieren,
um an ihnen die eigenen Fragestellungen dieser Arbeit zu präzisieren. Daher steht diese Arbeit
im Kontext der Forschungen zur spätmittelalterlichen Skulptur und setzt die Kenntnis der me-
thodischen Diskussionen voraus, die die kritische Grundlage für die Bearbeitung des Desidera-
tes am Creglinger Marienaltar ist.
Theodor Müller und Walter Paatz6 haben besonders in den 50er und 60er Jahren das Au-
genmerk der kunsthistorischen Forschung auf die spätmittelalterliche Skulptur aus dem
deutschsprachigen Raum gelenkt und damit einen neuen Schwerpunkt neben der an Italien
orientierten Forschung gesetzt. Zwei Jahrzehnte später macht es sich Michael Baxandall in
dem mehrfach wiederaufgelegten Buch ‘Die Kunst der Bildschnitzer’, das 1980 in englischer
Erstausgabe erschien, zur Aufgabe, „Kategorien der optischen Wahrnehmung zu entwickeln,
mit denen sich die Erscheinungsform der Bildwerke treffend erfassen lässt“. Neue Kategorien
seien notwendig, so Baxandall, weil „unsere Methoden, Kunstwerke begrifflich anzugehen,
wesentlich bestimmt sind durch die beherrschende französisch-italienische Kunsttradition des

' Tönnies 1900, S. 135.
2 Paatz 1963, S. 89.
3 Vgl. Lübke 1863, S. 527, „prachtvoller Marienaltar“; Adelmann 1898, S. 14, „sein schönstes Werk“; Pinder 1929, S.
416, „eigentliche Vollendung“ der frühen Phase; Schrade 1927, S. 120, „bedeutendste Werk Riemenschneiders“,
Demmler 1936, S. 54, „die Krone aller Werke“; Schmidt 1951, S. 7, „nicht nur der größte, sondern auch ... der
künstlerisch bedeutsamste der erhaltenen Schnitzaltäre Riemenschneiders“; Liebmann 1982, S. 296, „vollkommenste
Werk“.
Vgl. EHMER 1993, S. 149, „Eine neuere kunstgeschichtliche Monographie über den Creglinger-Riemenschneider-Altar
fehlt“.
5 Schrade 1927; Bier 1930.
6 Vgl. u. a. Müller 1954; Paatz 1951,1963 und 1967.
 
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