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Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider
„Elevatus est thronus tuus super choros angelorum“”0
Verdier betont, daß der Topos „super choros angelorum“ seit Johannes von Damaskus (f
749) ein Leitmotiv der Transitustexte in bezug auf die leibliche Aufnahme Mariens ist.5’1 In der
Assumptiodarstellung des Hildesheimer Lektionars und Kollektars wird dieser Topos, die Er-
hebung Mariens über die Engelschöre, sogar direkt verbildlicht (Abb. 85), der die Deutung
dieser Miniatur als leibliche Aufnahme Mariens nur bestätigt. Dieser Bildtypus einer stehen-
den Maria in Oranten- oder Gebetsgestus, die von einer Mandorla oder Kreisglorie hinterfan-
gen wird, war im 11. Jahrhundert weit verbreitet. Stellvertretend für diesen Bildtypus seien an
dieser Stelle drei Miniaturen aus unterschiedlichen Handschriften, aus dem Sakramentar von
Mont-Saint-Michel (Mitte des 11. Jh.), einer angelsächsischen Handschrift (um 1100) und der
Augsburger Dom-Missale (1. Hälfte des 11. Jh.), genannt.5'2
Das Sakramentar von Mont-Saint-Michel wird in die Zeit datiert, als Raul de Beaumont
(t 1058) Bischof der Abtei Mont-Saint-Michel war. Innerhalb der Messe zum Festtag der As-
sumptio Mariae befindet sich auf der linken Seite eine ganzseitige Miniatur (Abb. 86), die die
Venerandaoration auf der gegenüberliegenden Seite einleitet. Inmitten der Miniatur steht mit
einer Palla bekleidet Maria, die gekrönt ist, als Zeichen des Paradieses eine Palme in der Hand
hält und von einer Mandorla hinterfangen wird. Zwei Engel halten die Mandorla in ihren Tuch
bedeckten Händen und führen sie nach oben einer Hand entgegen, die aus einem Himmels-
segment herausragt und Maria segnet. Eingeschlossen wird diese Bildfindung in einen Leisten-
rahmen mit Akanthusrosetten in den Ecken. Ein ganz ähnliches Bild der leiblichen Aufnahme
Mariens befindet sich in der wenig später entstandenen angelsächsischen Handschrift aus der
Zeit um 1100 (Abb. 88). Maria wird hier als gekrönte Orante dargestellt, die von einer Man-
dorla hinterfangen und von mehreren Engeln nach oben zu Christus begleitet wird, der dort als
Majestas Domini trohnt und Maria empfängt. Die Inschriften bei Maria und die Schriftbänder
der Engel legen die Deutung dieses Bildtypus als eine leiblichen Aufnahme Mariens nahe. Ma-
ria wird hier als Gottesgebärerin (alma Domini genitrix) angesprochen, die „jungfräulich den
König gleichsam einer zierlichen Rose gebar“ und „heute in den Himmel auffährt“ (ascendit),
man soll sich der Aufnahme Mariens in den Himmel erfreuen, „weil sie mit Christus im Him-
mel regiert“.5’3 Die Aufnahme Mariens wird in der angelsächsischen Handschrift nicht mit dem
Begriff assumptio umschrieben, sondern das Verb ascendere verweist bewusst auf die Nähe
zur Himmelfahrt Christi (ascensio christi), so daß diese Miniatur eindeutig als die leibliche
Aufnahme Mariens gedeutet und im Zusammenhang mit dem Glauben an ihre Leibeinheit mit
Christus, die unitas carnis, gesehen werden muß, die in ihrer Gottesmutterschaft (alma domini
530 Zitiert nach Verdier 1980, S. 70.
531 Verdier 1980, S. 70, Anm. 54.
532 Sakramentar von Mont-Saint-Michel, vor 1058, New York, The Pierpont Morgan Library (M. 641), fol. 142v;
Angelsächsischen Handschrift, um 1100, London, British Library (ms. Add. 17739), fol. 17v; Augsburger DoM-
Missale, 1. Hälfte 11. Jh., Reichenau-Umkreis, London, British Library (ms. Harley 2908); - Vgl. VERDIER 1980, S-
68 - 70.
533 „Hic est alma Domini genitrix et virgo Maria per quam spititus vite loto funditur orbe“; Jlaec est regina v/rgn»""
qnae genuit regem velut rosa decora“', „Hodie Maria caelos ascendit, gaudete quia cum Christo regnat in aeternutn ■
Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider
„Elevatus est thronus tuus super choros angelorum“”0
Verdier betont, daß der Topos „super choros angelorum“ seit Johannes von Damaskus (f
749) ein Leitmotiv der Transitustexte in bezug auf die leibliche Aufnahme Mariens ist.5’1 In der
Assumptiodarstellung des Hildesheimer Lektionars und Kollektars wird dieser Topos, die Er-
hebung Mariens über die Engelschöre, sogar direkt verbildlicht (Abb. 85), der die Deutung
dieser Miniatur als leibliche Aufnahme Mariens nur bestätigt. Dieser Bildtypus einer stehen-
den Maria in Oranten- oder Gebetsgestus, die von einer Mandorla oder Kreisglorie hinterfan-
gen wird, war im 11. Jahrhundert weit verbreitet. Stellvertretend für diesen Bildtypus seien an
dieser Stelle drei Miniaturen aus unterschiedlichen Handschriften, aus dem Sakramentar von
Mont-Saint-Michel (Mitte des 11. Jh.), einer angelsächsischen Handschrift (um 1100) und der
Augsburger Dom-Missale (1. Hälfte des 11. Jh.), genannt.5'2
Das Sakramentar von Mont-Saint-Michel wird in die Zeit datiert, als Raul de Beaumont
(t 1058) Bischof der Abtei Mont-Saint-Michel war. Innerhalb der Messe zum Festtag der As-
sumptio Mariae befindet sich auf der linken Seite eine ganzseitige Miniatur (Abb. 86), die die
Venerandaoration auf der gegenüberliegenden Seite einleitet. Inmitten der Miniatur steht mit
einer Palla bekleidet Maria, die gekrönt ist, als Zeichen des Paradieses eine Palme in der Hand
hält und von einer Mandorla hinterfangen wird. Zwei Engel halten die Mandorla in ihren Tuch
bedeckten Händen und führen sie nach oben einer Hand entgegen, die aus einem Himmels-
segment herausragt und Maria segnet. Eingeschlossen wird diese Bildfindung in einen Leisten-
rahmen mit Akanthusrosetten in den Ecken. Ein ganz ähnliches Bild der leiblichen Aufnahme
Mariens befindet sich in der wenig später entstandenen angelsächsischen Handschrift aus der
Zeit um 1100 (Abb. 88). Maria wird hier als gekrönte Orante dargestellt, die von einer Man-
dorla hinterfangen und von mehreren Engeln nach oben zu Christus begleitet wird, der dort als
Majestas Domini trohnt und Maria empfängt. Die Inschriften bei Maria und die Schriftbänder
der Engel legen die Deutung dieses Bildtypus als eine leiblichen Aufnahme Mariens nahe. Ma-
ria wird hier als Gottesgebärerin (alma Domini genitrix) angesprochen, die „jungfräulich den
König gleichsam einer zierlichen Rose gebar“ und „heute in den Himmel auffährt“ (ascendit),
man soll sich der Aufnahme Mariens in den Himmel erfreuen, „weil sie mit Christus im Him-
mel regiert“.5’3 Die Aufnahme Mariens wird in der angelsächsischen Handschrift nicht mit dem
Begriff assumptio umschrieben, sondern das Verb ascendere verweist bewusst auf die Nähe
zur Himmelfahrt Christi (ascensio christi), so daß diese Miniatur eindeutig als die leibliche
Aufnahme Mariens gedeutet und im Zusammenhang mit dem Glauben an ihre Leibeinheit mit
Christus, die unitas carnis, gesehen werden muß, die in ihrer Gottesmutterschaft (alma domini
530 Zitiert nach Verdier 1980, S. 70.
531 Verdier 1980, S. 70, Anm. 54.
532 Sakramentar von Mont-Saint-Michel, vor 1058, New York, The Pierpont Morgan Library (M. 641), fol. 142v;
Angelsächsischen Handschrift, um 1100, London, British Library (ms. Add. 17739), fol. 17v; Augsburger DoM-
Missale, 1. Hälfte 11. Jh., Reichenau-Umkreis, London, British Library (ms. Harley 2908); - Vgl. VERDIER 1980, S-
68 - 70.
533 „Hic est alma Domini genitrix et virgo Maria per quam spititus vite loto funditur orbe“; Jlaec est regina v/rgn»""
qnae genuit regem velut rosa decora“', „Hodie Maria caelos ascendit, gaudete quia cum Christo regnat in aeternutn ■