122 DER CREGLINGER MARIENALTAR VON TILMAN RIEMENSCHNEIDER
hängig wird um 1200 mit der Entstehung der gotischen Kathedralen in Frankreich ein zweiter
Bildtypus der Aufnahme Mariens entwickelt, wobei hier der tote Leib Mariens zumeist hori-
zontal auf einem Tuch liegend von Engeln erhoben wird.
6.3.7 Die Veränderung der Bildtypen und ihre Einbindung in
Bildprogramme als Wandel des Bildbegriffs
um 1280/1300 bis 1350/70
An dieser Stelle kann die Untersuchung zur Bildgeschichte des Todes Mariens und ihrer
Aufnahme seit der Jahrtausendwende wieder aufgenommen und fortgeführt werden. Bis in die
Zeit um 1300 werden die Bildtypen vom Tod und der leiblichen Aufnahme Mariens nebenein-
ander dargestellt und - bis auf wenige Ausnahmen - selten miteinander kombiniert. Erst seit
dem 14. Jahrhundert finden sich dagegen vermehrt Bildwerke, die sich zwar formal auf ältere
Bildtypen zu beziehen scheinen, jedoch die Bildtypen kombinieren oder zum Teil verändern.
Eine ikonographische Argumentation, die die hier konstatierten Bildfindungen und ihre Bild-
deutungen von der seelischen oder leiblichen Aufnahme Mariens notwendig mit einander ver-
bindet und jedes weitere Bildwerk losgelöst von seinem Kontext starr nach dieser Beziehung
interpretiert, wird die Besonderheit des Bildwandels in den folgenden Jahrhunderten nicht ver-
stehen und Bildwerke falsch interpretieren. Belting konstatiert in seinem für den mittelalterli-
chen Bildbegriff grundlegenden Buch ‘Bild und Kult’, daß „der Pluralismus der Gesellschaft
am Ausgang des Mittelalters ... sich im verwirrenden Spektrum der religiösen Bilder [spie-
gelt], die sie im Gebrauch hat. ... So kommen sie in immer mehr Hände, in denen sie sich ent-
sprechend verändern. Die Verfügbarkeit macht den Unterschied des neuen Bildes aus. Sie un-
terlaufen die alte Distanz, die das heilige Bild bislang vom ‘Volk’ trennte: Es gehört ja zum
Exklusivrecht einer Institution, Bilder und Reliquien zu verwalten. In der neuen Ära verlieren
die Institutionen das Monopol.“"” Die wirtschaftlichen und städtepolitischen Umwälzungen im
14. Jahrhundert, das große abendländische Schisma, das zu großen Unsicherheiten in der
abendländischen Kirche führte, die religiösen Bewegungen, die von der deutschen Mystik ge-
prägt waren und die Kirche in weiten Teilen reformieren wollten, und nicht zuletzt die Pest-
epidemie von 1348-52, an der bis zu einem Drittel der Bevölkerung in Europa gestorben ist,
sind Sinnbilder eines Jahrhunderts, das von großen gesellschaftspolitischen Veränderungen
ergriffen war. Dieser Kontext darf nicht aus den Augen gelassen werden, weil sich in ihm ein
neuer Bildbegriff konstituiert. Die Feststellung der Uneinheitlichkeit und Mehrdeutigkeit der
Bildfindungen im 14. Jahrhundert und ihre Darlegung ist das eine, ihre Erklärung aber ein an-
deres. Denn in diesem Phänomen spiegelt sich eine Veränderung im Bild- und Andachtsver-
603 Belting 1991, S. 458.
hängig wird um 1200 mit der Entstehung der gotischen Kathedralen in Frankreich ein zweiter
Bildtypus der Aufnahme Mariens entwickelt, wobei hier der tote Leib Mariens zumeist hori-
zontal auf einem Tuch liegend von Engeln erhoben wird.
6.3.7 Die Veränderung der Bildtypen und ihre Einbindung in
Bildprogramme als Wandel des Bildbegriffs
um 1280/1300 bis 1350/70
An dieser Stelle kann die Untersuchung zur Bildgeschichte des Todes Mariens und ihrer
Aufnahme seit der Jahrtausendwende wieder aufgenommen und fortgeführt werden. Bis in die
Zeit um 1300 werden die Bildtypen vom Tod und der leiblichen Aufnahme Mariens nebenein-
ander dargestellt und - bis auf wenige Ausnahmen - selten miteinander kombiniert. Erst seit
dem 14. Jahrhundert finden sich dagegen vermehrt Bildwerke, die sich zwar formal auf ältere
Bildtypen zu beziehen scheinen, jedoch die Bildtypen kombinieren oder zum Teil verändern.
Eine ikonographische Argumentation, die die hier konstatierten Bildfindungen und ihre Bild-
deutungen von der seelischen oder leiblichen Aufnahme Mariens notwendig mit einander ver-
bindet und jedes weitere Bildwerk losgelöst von seinem Kontext starr nach dieser Beziehung
interpretiert, wird die Besonderheit des Bildwandels in den folgenden Jahrhunderten nicht ver-
stehen und Bildwerke falsch interpretieren. Belting konstatiert in seinem für den mittelalterli-
chen Bildbegriff grundlegenden Buch ‘Bild und Kult’, daß „der Pluralismus der Gesellschaft
am Ausgang des Mittelalters ... sich im verwirrenden Spektrum der religiösen Bilder [spie-
gelt], die sie im Gebrauch hat. ... So kommen sie in immer mehr Hände, in denen sie sich ent-
sprechend verändern. Die Verfügbarkeit macht den Unterschied des neuen Bildes aus. Sie un-
terlaufen die alte Distanz, die das heilige Bild bislang vom ‘Volk’ trennte: Es gehört ja zum
Exklusivrecht einer Institution, Bilder und Reliquien zu verwalten. In der neuen Ära verlieren
die Institutionen das Monopol.“"” Die wirtschaftlichen und städtepolitischen Umwälzungen im
14. Jahrhundert, das große abendländische Schisma, das zu großen Unsicherheiten in der
abendländischen Kirche führte, die religiösen Bewegungen, die von der deutschen Mystik ge-
prägt waren und die Kirche in weiten Teilen reformieren wollten, und nicht zuletzt die Pest-
epidemie von 1348-52, an der bis zu einem Drittel der Bevölkerung in Europa gestorben ist,
sind Sinnbilder eines Jahrhunderts, das von großen gesellschaftspolitischen Veränderungen
ergriffen war. Dieser Kontext darf nicht aus den Augen gelassen werden, weil sich in ihm ein
neuer Bildbegriff konstituiert. Die Feststellung der Uneinheitlichkeit und Mehrdeutigkeit der
Bildfindungen im 14. Jahrhundert und ihre Darlegung ist das eine, ihre Erklärung aber ein an-
deres. Denn in diesem Phänomen spiegelt sich eine Veränderung im Bild- und Andachtsver-
603 Belting 1991, S. 458.