Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
1KONOLOG1SCHE UNTERSUCHUNG DES RETABELS

121

12. Jahrhundert aus Byzanz importiert und in S. Marco in einen für die Ikone ursprünglich
fremden Bildkult integriert. Dieser byzantinischen Bildtypus einer Maria-Orans kann als Vor-
lage für die Entwicklung des Bildtypus einer stehenden, von Engeln erhobenen Maria-Orans
gedient haben. Sie verkörpert die fruchtbringende Gottesgebärerin und konnte daher auch iko-
nographisch mit der Aufnahme Mariens verbunden werden.
Neben diesem byzantinischen Kultbild einer Maria-Orans kann der Bildtypus der leiblichen
Aufnahme Mariens von den Darstellungen der Auferstehung (fransfiguratio christi) und Him-
melfahrt Christi (ascensio christi) beeinflusst worden sein. Auf einem Diptychon aus der Mitte
des 9. Jahrhundert wird die Auferstehung Christi auf der einen Seite der Himmelfahrt Christi
auf der anderen Seite gegenübergestellt (Abb. 1 15, 1 16).600 601 602 Formal unterscheidet sich die
Christusfigur in beiden Bildfindungen nur geringfügig. Innerhalb des Auferstehungsbildes ist
Christus dem Betrachter en face zugewandt, während er in der Himmelfahrtsdarstellung zur
Seite gedreht ist und aktiv in den Himmel aufzusteigen scheint. In beiden Bildfindungen wird
Christus von einer Mandorla hinterfangen. In einer weiteren Elfenbeintafel™ (Abb. 117) aus
hem 10. Jahrhundert werden beide Bildfindungen zu einem gängigen Typus der Himmelfahrt
Christi kombiniert. Über den Aposteln entschwebt Christus vor einer Mandorla; sein Körper
steht en face dem Betrachter zugewandt, und nur noch der Kopf erscheint aus der Körperachse
gedreht. Auf einem Münchner Elfenbeinbuchdeckel“2 (Abb. 119) aus dem 11. Jahrhundert
entschwebt Christus über den Aposteln und Maria und wird von einer Mandorla und vier En-
geln umfangen. Diese Bildfindung steht formal dem ersten Bildtypus der leiblichen Aufnahme
Mariens, wie sie in der Buchmalerei im 11. Jahrhundert entwickelt wird, sehr nahe. Der ver-
breitete Glaube an die oben schon angesprochene Leibeinheit von Maria und Christus, der uni-
tas carnis, begründet die Beziehung zwischen der Himmelfahrt Christi und der Aufnahme Ma-
lens auch aus theologisch-dogmatischer Sicht und lässt daher eine formal-ikonographische
Einflussnahme der Bildfindungen als wahrscheinlich erachten.
Die Bildgeschichte der leiblichen Aufnahme Mariens beginnt demnach nicht erst im 11.
Jahrhundert, sondern es sind vereinzelte Bildwerke nachzuweisen, die als eine Bildfindung der
Aul nähme Mariens gedeutet werden können. Diese Bildwerke standen aber nicht im offiziel-
len Kontext, sondern sie sind Bildwerke der privaten Andacht, in deren Enklaven diese Bild-
endungen außerhalb der offiziellen Kirche entstehen konnten. Die offizielle Anerkennung Ma-
rfins als Gottesgebärerin und der daraus begründete Glaube an die unitas carnis hat diese
Eildfindungen einer Aufnahme Mariens im privaten Bereich aus theologisch-dogmatischer
Sicht begünstigt. Formal können diese ersten Bildfindungen von den frühchristlichen Bildwer-
ken einer Maria-Orans oder der Himmelfahrt Christi hergeleitet werden. Erst innerhalb der
ott°nischen Buchmalerei im 11. Jahrhundert setzt sich ein Bildtypus der Aufnahme Mariens
a's stehende Maria-Orans, die von Engeln erhoben wird, durch. Von diesem Bildtypus unab-

600 BlACHernitissa, um 1200, Venedig, S. Maria Mater Domine. Belting 1991, S. 400f.
601 BiptyCHONPLATTEN, Mitte 9. Jh., London, Victoria und Albert Museum (Nr. 253.67 und Nr. 254.67.)
602 BucHdeckel, 10- Jh, Karlsruhe, Großherzogi. Privat-Kunstkabinett (Kat. Nr. 2489).
BOchdeckel, Ende 11. Jh., München, StaatsBibl. (Cim. 53, Cod. lat. 23630).
 
Annotationen