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Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider
die Maria-Orans leicht ins Profil gedreht ist und über dem leeren Grab im Kreise ihrer Apostel
gen Himmel fährt, wo die Majestas Domini sie erwartet. Auf einer turonischen Elfenbeinplatte
(Abb. 118) aus der Zeit um 800, die sich heute im Nationalmuseum in München befindet,596
steht analog zur Tuotilo-Tafel in der Mitte der Tafel eine stehende Maria-Orans, die hier von
den vier Evangelistensymbolen und den 12 Aposteln gerahmt wird. Die wenigen erhaltenen
Bildwerke aus der Zeit vor 1000 lassen hier keine eindeutige Deutung zu und eine Bildge-
schichte ist unmöglich zu eruieren. Dennoch können in diesen Bildwerken erste Darstellungs-
versuche einer leiblichen Aufnahme Mariens vermutet werden. Diese Vermutung unterstützt
ein Altarbehang597 598 aus S. Maria Maggiore in Rom, der aus der Zeit des Papstes Pascal 1 (817-
824) stammt und auf dessen Bordüre mit den Worten des Liber Pontificalis explizit auf die
leibliche Aufnahme Mariens hingewiesen wird:
„qualiter beata Dei genitrix Maria corpore est assumpta“.™
Wie ich schon an anderer Stelle hervorgehoben habe, kann in karolingischer und schon gar
in merowingischer Zeit, als die Transitustexte ins Lateinische übersetzt wurden, nicht von ei-
ner generellen Ablehnung des Glaubens an eine leibliche Aufnahme Mariens gesprochen wer-
den. Die offizielle Kirche tritt dieser Glaubensvorstellung im 9. Jahrhundert aufgrund der karo-
lingischen Apokryphenkritik zwar entgegen. Dennoch hat es den Glauben an die leibliche
Aufnahme Mariens gegeben, wie es merowingische Schriften, der oben genannte Altarbehang
aus Rom oder der Brief Cogitis rne von Radbertus belegen. Für die Interpretation dieser frühen
Bildfindungen ist sicherlich mit zu berücksichtigen, daß es sich hier im Gegensatz zu den
frühchristlichen Freskenprogrammen nicht explizit um Bildwerke im kirchlich-offiziellen oder
im staatlich-repräsentativen Bereich handelt, sondern um Bildwerke, die in privaten oder klei-
neren, recht abgeschlossenen Enklaven innerhalb der Klöster verwendet wurden. In diesen
Enklaven war es möglich eine Bildfindung der Aufnahme Mariens als stehende Maria-Orans
zu entwerfen, die sich erst später in der ottonischen Buchmalerei im 1 1. Jahrhundert allgemein
durchsetzen wird.
Es sind zu wenig Bildwerke vorhanden, bzw. erhalten, so daß hier keine Bildgeschichte, die
die Zusammengehörigkeit dieser Bildwerke beschreibt, vorgelegt werden kann, und die nach-
weisen würde, daß diese Bildfindungen Vorbilder für den in der ottonischen Buchmalerei ent-
wickelten Bildtypus sind. Die ottonische Bildfindung der stehenden Maria-Orans kann auch
unabhängig von diesen frühen Verbildlichungen entwickelt worden sein und sich entweder aut
den Bildtypus der byzantinischen Maria-Orans oder der Himmelfahrt Christi beziehen.
In der Kirche S. Marco in Venedig ist mit der "Madonna delle Grazie’599 (Abb. 91) aus dem
11. Jahrhundert eine byzantinische Ikone der Maria-Orans als Bildwerk erhalten, das ein altes
byzantinisches Kultbild aus frühchristlicher Zeit als Archetypus zitiert. Diese Ikone wurde im
596 Elfenöeinplatte, um 800, München, Nationalmuseum.
597 Altarbehang, um 817-824, Rom S. Maria Maggiore. Vgl. Hecht 1951, S. 7; VERDIER 1980, S. 66, 70f„
598 VERDIER 1980, S. 66, Anm. 36. - Zum Liber Pontificalis siehe Edition von L’Abbe Louis DuCHESNE, Le Liber Pontif1'
calis, Texte, Introduction et commentaire, 2 Bde, Paris 1955, hier 2. Bd, S. 61.
599 Madonna delle Grazie, Byzanz, 11. Jh., Venedig, San Marco. Vgl. Belting 1991, S. 226f. - Vgl. auch MAiuA
Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider
die Maria-Orans leicht ins Profil gedreht ist und über dem leeren Grab im Kreise ihrer Apostel
gen Himmel fährt, wo die Majestas Domini sie erwartet. Auf einer turonischen Elfenbeinplatte
(Abb. 118) aus der Zeit um 800, die sich heute im Nationalmuseum in München befindet,596
steht analog zur Tuotilo-Tafel in der Mitte der Tafel eine stehende Maria-Orans, die hier von
den vier Evangelistensymbolen und den 12 Aposteln gerahmt wird. Die wenigen erhaltenen
Bildwerke aus der Zeit vor 1000 lassen hier keine eindeutige Deutung zu und eine Bildge-
schichte ist unmöglich zu eruieren. Dennoch können in diesen Bildwerken erste Darstellungs-
versuche einer leiblichen Aufnahme Mariens vermutet werden. Diese Vermutung unterstützt
ein Altarbehang597 598 aus S. Maria Maggiore in Rom, der aus der Zeit des Papstes Pascal 1 (817-
824) stammt und auf dessen Bordüre mit den Worten des Liber Pontificalis explizit auf die
leibliche Aufnahme Mariens hingewiesen wird:
„qualiter beata Dei genitrix Maria corpore est assumpta“.™
Wie ich schon an anderer Stelle hervorgehoben habe, kann in karolingischer und schon gar
in merowingischer Zeit, als die Transitustexte ins Lateinische übersetzt wurden, nicht von ei-
ner generellen Ablehnung des Glaubens an eine leibliche Aufnahme Mariens gesprochen wer-
den. Die offizielle Kirche tritt dieser Glaubensvorstellung im 9. Jahrhundert aufgrund der karo-
lingischen Apokryphenkritik zwar entgegen. Dennoch hat es den Glauben an die leibliche
Aufnahme Mariens gegeben, wie es merowingische Schriften, der oben genannte Altarbehang
aus Rom oder der Brief Cogitis rne von Radbertus belegen. Für die Interpretation dieser frühen
Bildfindungen ist sicherlich mit zu berücksichtigen, daß es sich hier im Gegensatz zu den
frühchristlichen Freskenprogrammen nicht explizit um Bildwerke im kirchlich-offiziellen oder
im staatlich-repräsentativen Bereich handelt, sondern um Bildwerke, die in privaten oder klei-
neren, recht abgeschlossenen Enklaven innerhalb der Klöster verwendet wurden. In diesen
Enklaven war es möglich eine Bildfindung der Aufnahme Mariens als stehende Maria-Orans
zu entwerfen, die sich erst später in der ottonischen Buchmalerei im 1 1. Jahrhundert allgemein
durchsetzen wird.
Es sind zu wenig Bildwerke vorhanden, bzw. erhalten, so daß hier keine Bildgeschichte, die
die Zusammengehörigkeit dieser Bildwerke beschreibt, vorgelegt werden kann, und die nach-
weisen würde, daß diese Bildfindungen Vorbilder für den in der ottonischen Buchmalerei ent-
wickelten Bildtypus sind. Die ottonische Bildfindung der stehenden Maria-Orans kann auch
unabhängig von diesen frühen Verbildlichungen entwickelt worden sein und sich entweder aut
den Bildtypus der byzantinischen Maria-Orans oder der Himmelfahrt Christi beziehen.
In der Kirche S. Marco in Venedig ist mit der "Madonna delle Grazie’599 (Abb. 91) aus dem
11. Jahrhundert eine byzantinische Ikone der Maria-Orans als Bildwerk erhalten, das ein altes
byzantinisches Kultbild aus frühchristlicher Zeit als Archetypus zitiert. Diese Ikone wurde im
596 Elfenöeinplatte, um 800, München, Nationalmuseum.
597 Altarbehang, um 817-824, Rom S. Maria Maggiore. Vgl. Hecht 1951, S. 7; VERDIER 1980, S. 66, 70f„
598 VERDIER 1980, S. 66, Anm. 36. - Zum Liber Pontificalis siehe Edition von L’Abbe Louis DuCHESNE, Le Liber Pontif1'
calis, Texte, Introduction et commentaire, 2 Bde, Paris 1955, hier 2. Bd, S. 61.
599 Madonna delle Grazie, Byzanz, 11. Jh., Venedig, San Marco. Vgl. Belting 1991, S. 226f. - Vgl. auch MAiuA