IKONOLOGISCHE UNTERSUCHUNG DES RETABELS
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aus Maria genommen war und beide in einem ganz eigenen Ursprungsverhältnis zueinander
stehen, müssen sie sich notwendigerweise auch in ihren inneren Gnadenzuständen ähneln, so
lautet die Auffassung Radberts.“* 590 * Die Vorstellung Mariens als Gottesgebärerin (Deigenitrix)
fördert den Glauben an die Einheit zwischen Mutter und Sohn im Leib (unitas carnis), die aber
an dieser Stelle von einer Einheit in der Person (unitas personae), die nur der Trinität zu-
kommt, streng zu unterscheiden ist. „Diese Identität zwischen der ‘caro Jesu’ und der ‘caro
Mariae’ ist aber ein Grundaxiom in der später von Ps.-Augustinus ‘De Assumptione B. M.
V.entwickelten Apologie für die ‘Assumptio corporalis’ Mariens.“592 Die besondere Aus-
zeichnung des Leibes der Gottesmutter führt zu einer ikonographisch formalen und inhaltli-
chen Angleichung der Himmelfahrt Christi und der Aufnahme Mariens. Eingedenk dieses
Verständnisses kann im Mittelalter auch die leibliche Aufnahme Mariens mit dem Begriff as-
cendere umschrieben werden, so daß es nicht verwundert, wenn in der schon erwähnten Mi-
niatur in der angelsächsischen Handschrift593 594 (Abb. 88) aus der Zeit um 1100 die Aufnahme
Mariens durch das Wort „ascendit“ ausgedrückt und dadurch das besondere Verhältnis von
Christus zu Maria hervorgehoben wird.
Folglich muß aus formal-ikonographischen, kontextuellen und semantischen Gründen die
Bildfindung auf linke Tafel der St. Gallener Elfenbeintafeln (Abb. 112) aus der Zeit um 900
als leib-seelische Aufnahme Mariens gedeutet werden. Maria wird auf den Elfenbeintafeln
Christus gegenübergestellt, an dessen Seite sie aufgrund ihrer Leibeinheit mit Christus im
Himmel herrscht.
Schon aus merowingischer Zeit sind vereinzelte Bildwerke erhalten, die eine stehende Ma-
na-Orans darstellen und in Beziehung zu den Transitustexlen als Aufnahme Mariens gedeutet
Werden können. Auf einem merowingischen Stoffrest aus dem Schatz der Kathedrale von
SensM4 (Abb. 113) sind mehrere Medaillons gestickt, auf deren Rand jeweils in lateinischen
Buchstaben geschrieben steht:
„com transis/set maria ma/ter domino de/ apostolis“
In den Medaillons kann in der oberen Bildhälfte zwischen zwei Engeln stehend, eine Maria-
Crans identifiziert werden. Darunter befinden sich zehn Personen, über denen sie auffährt. Die
Inschrift lässt diese Bildfindung eindeutig als die Aufnahme Mariens im Kreise ihrer Apostel
deuten. Hecht nennt noch ein kleines Enkolpion595 (Abb. 114) aus dem 8. Jahrhundert auf dem
Scheffczyk. 1959, S. 338. Vgl. PL 120, 1371 B: „... et si caro eius [Mariens] de massaprimaepraeyaricationis venit,
quomodo Christi Verbum caro sine peccato fuit, qui de carne peccati carnem assumpsit, nisi quia Verbum quod caro
s91 factum est eam primum obumbravit, in quam Spiritus sanctus supervenit et virtus Altissimi eam totam possedifC
s92 40, 1141-1148. Handschrift wird in die Mitte des 12. Jh. datiert.
593 Scheffczyk 1959, S. 105.
Angelsächsischen Handschrift, um 1100, London, British Library (ms Add. 17739), fol. 17v: „Hodie Maria caelos
594 ascendit, gaudete quia cum Christo regnat in aeternum“.
Stoffrest eines Laienantependiums, 7./8. Jh., Sens, Tresor de la cathedrale (TC B 283). - Vgl. Beissel 1909, S. 14; E.
Lhartraire, Des tissus anciens du tresor de la cathedrale de Sens, in: Revue de l’art chretien 61 (1911), S. 452-468,
hier S. 463-465; Staedel 1935, S. 14f.; Hecht 1951, S. 7; Ausstellungskatalog, La reine Bathilde et son temps
S9s Exposition Merovingienne), Ville de Chelles 1961, Nr. 209; Verdier 1980, S. 65.
Assumptio-Enkolpion, 8. Jh., Paris, Sammlung des Schlosses Gluchow. Vgl. Hecht 1951, S. 7.
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aus Maria genommen war und beide in einem ganz eigenen Ursprungsverhältnis zueinander
stehen, müssen sie sich notwendigerweise auch in ihren inneren Gnadenzuständen ähneln, so
lautet die Auffassung Radberts.“* 590 * Die Vorstellung Mariens als Gottesgebärerin (Deigenitrix)
fördert den Glauben an die Einheit zwischen Mutter und Sohn im Leib (unitas carnis), die aber
an dieser Stelle von einer Einheit in der Person (unitas personae), die nur der Trinität zu-
kommt, streng zu unterscheiden ist. „Diese Identität zwischen der ‘caro Jesu’ und der ‘caro
Mariae’ ist aber ein Grundaxiom in der später von Ps.-Augustinus ‘De Assumptione B. M.
V.entwickelten Apologie für die ‘Assumptio corporalis’ Mariens.“592 Die besondere Aus-
zeichnung des Leibes der Gottesmutter führt zu einer ikonographisch formalen und inhaltli-
chen Angleichung der Himmelfahrt Christi und der Aufnahme Mariens. Eingedenk dieses
Verständnisses kann im Mittelalter auch die leibliche Aufnahme Mariens mit dem Begriff as-
cendere umschrieben werden, so daß es nicht verwundert, wenn in der schon erwähnten Mi-
niatur in der angelsächsischen Handschrift593 594 (Abb. 88) aus der Zeit um 1100 die Aufnahme
Mariens durch das Wort „ascendit“ ausgedrückt und dadurch das besondere Verhältnis von
Christus zu Maria hervorgehoben wird.
Folglich muß aus formal-ikonographischen, kontextuellen und semantischen Gründen die
Bildfindung auf linke Tafel der St. Gallener Elfenbeintafeln (Abb. 112) aus der Zeit um 900
als leib-seelische Aufnahme Mariens gedeutet werden. Maria wird auf den Elfenbeintafeln
Christus gegenübergestellt, an dessen Seite sie aufgrund ihrer Leibeinheit mit Christus im
Himmel herrscht.
Schon aus merowingischer Zeit sind vereinzelte Bildwerke erhalten, die eine stehende Ma-
na-Orans darstellen und in Beziehung zu den Transitustexlen als Aufnahme Mariens gedeutet
Werden können. Auf einem merowingischen Stoffrest aus dem Schatz der Kathedrale von
SensM4 (Abb. 113) sind mehrere Medaillons gestickt, auf deren Rand jeweils in lateinischen
Buchstaben geschrieben steht:
„com transis/set maria ma/ter domino de/ apostolis“
In den Medaillons kann in der oberen Bildhälfte zwischen zwei Engeln stehend, eine Maria-
Crans identifiziert werden. Darunter befinden sich zehn Personen, über denen sie auffährt. Die
Inschrift lässt diese Bildfindung eindeutig als die Aufnahme Mariens im Kreise ihrer Apostel
deuten. Hecht nennt noch ein kleines Enkolpion595 (Abb. 114) aus dem 8. Jahrhundert auf dem
Scheffczyk. 1959, S. 338. Vgl. PL 120, 1371 B: „... et si caro eius [Mariens] de massaprimaepraeyaricationis venit,
quomodo Christi Verbum caro sine peccato fuit, qui de carne peccati carnem assumpsit, nisi quia Verbum quod caro
s91 factum est eam primum obumbravit, in quam Spiritus sanctus supervenit et virtus Altissimi eam totam possedifC
s92 40, 1141-1148. Handschrift wird in die Mitte des 12. Jh. datiert.
593 Scheffczyk 1959, S. 105.
Angelsächsischen Handschrift, um 1100, London, British Library (ms Add. 17739), fol. 17v: „Hodie Maria caelos
594 ascendit, gaudete quia cum Christo regnat in aeternum“.
Stoffrest eines Laienantependiums, 7./8. Jh., Sens, Tresor de la cathedrale (TC B 283). - Vgl. Beissel 1909, S. 14; E.
Lhartraire, Des tissus anciens du tresor de la cathedrale de Sens, in: Revue de l’art chretien 61 (1911), S. 452-468,
hier S. 463-465; Staedel 1935, S. 14f.; Hecht 1951, S. 7; Ausstellungskatalog, La reine Bathilde et son temps
S9s Exposition Merovingienne), Ville de Chelles 1961, Nr. 209; Verdier 1980, S. 65.
Assumptio-Enkolpion, 8. Jh., Paris, Sammlung des Schlosses Gluchow. Vgl. Hecht 1951, S. 7.