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Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider
Hecht will in dem mittleren Bildfeld der linken Elfenbeintafel eindeutig eine Assumptio
animae et corporis erkennen, die jedoch hier „nicht als zeitgebundener, realistischer Akt, son-
dern als zeitloser, metaphysischer Endzustand“ aufgefasst werden soll.584 Schaffer und Liebl
lassen eine abschließende Deutung offen, weil diese Bildfindung ihrer Meinung nach nicht
exakt zu bestimmen sei.585 Schiller bemerkt zu diesem Relief, daß der Begriff ascensio bei den
karolingischen Theologen für die Aufnahme der Seele in das Paradies steht und daß in diesem
Zusammenhang auch Paschasius Radbertus in seinem Brief Cogitis me an das Nonnenkloster
von Soissons von ascendere sprechen würde. „Die Autorität dieses Briefes“, argumentiert
Schiller, „war so unbestritten, daß er als Lesung in das kirchliche Stundengebet des Festes am
15. August aufgenommen“ und erst 1568 von Pius V. durch positive Stellungnahmen zur As-
sumptio corporis ersetzt wurde.586 Notker von St. Gallen (f 912), so Schiller, habe in Bezie-
hung zu Tuotilo gestanden und die Vorstellung einer Aufnahme der Seele Mariens (levatio
animae) in das Paradies vertreten, wo sie dem Genuss der Gottesschau teilhaftig werde. Folg-
lich hält Schiller die Tuotilo-Tafel nicht für eine Darstellung der leiblichen Aufnahme Mari-
ens, sondern deutet die Maria-Orans als Seele Mariens, die an der Verherrlichung des Herrn im
Paradies partizipiere. Die Wolken und paradiesischen Pflanzen würden eine solche Deutung
nahe legen.587 588 589
Einige Gründe sprechen jedoch gegen Schillers Deutung. Zum einen spricht die Bildfin-
dung aus formal-ikonographischen Gründen für die Deutung einer leiblichen Aufnahme Mari-
ens, weil der in der Buchmalerei des 11. Jahrhunderts ausgebildete Bildtypus einer stehenden
Maria-Orans, die von Engeln erhoben wird, hier schon vorgebildet ist. Zum anderen kann Verdier
nachweisen, daß Notker von St. Gallen in dem ‘Miraculoruni Liber I: De gloria martyrum,M die
Auffassung Gregor von Tours verteidigt, daß der Körper Mariens aufgenommen und im Paradies
mit der Seele vereinigt wurde. Notker schreibt in einem anderen Traktat wörtlich:
„specialis assumptio corporis venerandae genitrixis Virginis Mariae“.™
Verdier hält daher die linke Elfenbeintafel für eine der ersten Bildfindungen, die die an Leib
und Seele aufgenommene Gottesmutter im Paradies darstellt. Schließlich muß noch darauf
hingewiesen werden, daß der Begriff ascendere in der karolingischen Theologie nicht nur für
die Seelenaufnahme stand, sondern differenzierter betrachtet werden muß. Schiller ist zwar
insofern zuzustimmen, daß mit ascendere eigentlich die Himmelfahrt Christi verbunden wird
und die offizielle Kirche in karolingischer Zeit den Glauben an eine leibliche Aufnahme Mari-
ens ablehnt oder sich darüber ausschweigt. Dennoch spricht schon Radbertus von der Einheit
des Leibes zwischen Maria und Christus, woraus ein analoges Verhältnis der Himmelfahrt
Christi zur der Aufnahme Mariens abgeleitet werden kann. „Weil Christi menschliche Natur
584 Hecht 1951, S. 7, Zitats. 11.
585 SCHAFFER 1985, S. 118-121; Liebl 1991 [wie Anm. 457], S. 206.
586 Schiller 1980, S. 90.
587 Schiller 1980, S. 97f.
588 PL 71, 708, c. IV.
589 PL 131, 1141-1142. Vgl. auch VERDIER 1980, S. 67.
Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider
Hecht will in dem mittleren Bildfeld der linken Elfenbeintafel eindeutig eine Assumptio
animae et corporis erkennen, die jedoch hier „nicht als zeitgebundener, realistischer Akt, son-
dern als zeitloser, metaphysischer Endzustand“ aufgefasst werden soll.584 Schaffer und Liebl
lassen eine abschließende Deutung offen, weil diese Bildfindung ihrer Meinung nach nicht
exakt zu bestimmen sei.585 Schiller bemerkt zu diesem Relief, daß der Begriff ascensio bei den
karolingischen Theologen für die Aufnahme der Seele in das Paradies steht und daß in diesem
Zusammenhang auch Paschasius Radbertus in seinem Brief Cogitis me an das Nonnenkloster
von Soissons von ascendere sprechen würde. „Die Autorität dieses Briefes“, argumentiert
Schiller, „war so unbestritten, daß er als Lesung in das kirchliche Stundengebet des Festes am
15. August aufgenommen“ und erst 1568 von Pius V. durch positive Stellungnahmen zur As-
sumptio corporis ersetzt wurde.586 Notker von St. Gallen (f 912), so Schiller, habe in Bezie-
hung zu Tuotilo gestanden und die Vorstellung einer Aufnahme der Seele Mariens (levatio
animae) in das Paradies vertreten, wo sie dem Genuss der Gottesschau teilhaftig werde. Folg-
lich hält Schiller die Tuotilo-Tafel nicht für eine Darstellung der leiblichen Aufnahme Mari-
ens, sondern deutet die Maria-Orans als Seele Mariens, die an der Verherrlichung des Herrn im
Paradies partizipiere. Die Wolken und paradiesischen Pflanzen würden eine solche Deutung
nahe legen.587 588 589
Einige Gründe sprechen jedoch gegen Schillers Deutung. Zum einen spricht die Bildfin-
dung aus formal-ikonographischen Gründen für die Deutung einer leiblichen Aufnahme Mari-
ens, weil der in der Buchmalerei des 11. Jahrhunderts ausgebildete Bildtypus einer stehenden
Maria-Orans, die von Engeln erhoben wird, hier schon vorgebildet ist. Zum anderen kann Verdier
nachweisen, daß Notker von St. Gallen in dem ‘Miraculoruni Liber I: De gloria martyrum,M die
Auffassung Gregor von Tours verteidigt, daß der Körper Mariens aufgenommen und im Paradies
mit der Seele vereinigt wurde. Notker schreibt in einem anderen Traktat wörtlich:
„specialis assumptio corporis venerandae genitrixis Virginis Mariae“.™
Verdier hält daher die linke Elfenbeintafel für eine der ersten Bildfindungen, die die an Leib
und Seele aufgenommene Gottesmutter im Paradies darstellt. Schließlich muß noch darauf
hingewiesen werden, daß der Begriff ascendere in der karolingischen Theologie nicht nur für
die Seelenaufnahme stand, sondern differenzierter betrachtet werden muß. Schiller ist zwar
insofern zuzustimmen, daß mit ascendere eigentlich die Himmelfahrt Christi verbunden wird
und die offizielle Kirche in karolingischer Zeit den Glauben an eine leibliche Aufnahme Mari-
ens ablehnt oder sich darüber ausschweigt. Dennoch spricht schon Radbertus von der Einheit
des Leibes zwischen Maria und Christus, woraus ein analoges Verhältnis der Himmelfahrt
Christi zur der Aufnahme Mariens abgeleitet werden kann. „Weil Christi menschliche Natur
584 Hecht 1951, S. 7, Zitats. 11.
585 SCHAFFER 1985, S. 118-121; Liebl 1991 [wie Anm. 457], S. 206.
586 Schiller 1980, S. 90.
587 Schiller 1980, S. 97f.
588 PL 71, 708, c. IV.
589 PL 131, 1141-1142. Vgl. auch VERDIER 1980, S. 67.