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IKONOLOGISCHE UNTERSUCHUNG DES RETABELS

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6.3.6 Bildfindungen einer leiblichen Aufnahme Mariens vor 1000
Bevor die Bildgeschichte zum Tod und zur leiblichen Aufnahme Mariens bis um 1550 wei-
ter fortgeführt wird, möchte ich in einem weiteren Exkurs vereinzelte Bildwerke vor 1000 hin-
sichtlich einer möglichen Darstellung der leiblichen Aufnahme Mariens diskutieren und nach
möglichen Vorlagen für die beiden oben beschriebenen Bildtypen fragen. Dieser Exkurs ist
nicht nur für die Bildgeschichte der Aufnahme Mariens wichtig, sondern es lässt sich zeigen,
daß schon Bildfindungen zur Aufnahme Mariens entwickelt wurden, bevor die offizielle Kir-
che den Glauben an das Wunder der Aufnahme Mariens vertreten hat, das heißt, man kann das
Bild vor dem Text nachweisen. Versteht man die Bildwerke als ein Medium der Welterfassung
und -Interpretation, so können sie - insofern sie vom offiziellen Einfluss abgeschirmt und in
der Enklave des ‘Privaten’ entstanden sind - hier mehr über die differenzierten Glaubensvor-
stellungen im Mittelalter aussagen als die theologischen und liturgischen Schriften, die stärker
’n dessen Abhängigkeit standen.
Zwei Elfenbeintafeln583 (Abb. 112) aus der Zeit um 900 schmücken ein Evangeliar aus St.
Gallen, welches dem Mönch Tuotilo gehört haben soll. Beide Elfenbeintafeln haben die glei-
che Größe und beziehen sich formal und ikonographisch aufeinander. Die Tafeln werden je-
weils durch ein Schriftband horizontal in drei Bildfelder geteilt. Auf der rechten Tafel thront in
der Mitte die Majestas Domini, die von Seraphinen, den Symbolen der vier Evangelien und
v°n verschiedensten christlichen und paganen Figuren umgeben ist. Das obere und untere
Bildfeld ist durch Ranken verziert. Auf den die Bildfelder trennenden Schriftbändern stehl in
lateinischen Buchstaben:
HIC RESIDET XPC VIRTV/
TVM STEMMATE SEPTUS.
Auf der linken Tafel ist im oberen Bildfeld innerhalb der verzierenden Ranken ein Tier-
kampf und im unteren Bildfeld sind zwei Szenen aus dem Leben des Hl. Gallus dargestellt,
dazwischen steht die Maria-Orans auf leicht gewelltem, wolkenähnlichem Boden, flankiert
v°n je zwei Engeln und stilisierten Sträuchern. Auf dem oberen Schriftband, das sich auf das
mittlere Bildfeld bezieht, steht geschrieben:
ASCENSIO SCE MARIE
Das untere Schriftband mit der Inschrift
S GALLUS PANE PORRIG1TVRSO
bezieht sich auf das untere Bildfeld.

Elfenbeintafel, um 900, St. Gallen, Stiftsbibliothek (Codex 53).
 
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