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DER CREGLINGER MARIENALTAR VON TILMAN RIEMENSCHNEIDER

neranda-Oration, die die Messe zum Festtag der Assumptio Mariae abschließt, halten die En-
gel ein Tuch mandorlaartig hinter Maria. Maria steigt über dem leeren Grab, an dem elf Apo-
stel stehen, in den Himmel zu Christus hinauf, der in einer Glorie über ihr erscheint und sie
empfängt. Entsprechend dem ersten Bildtypus steht sie als eine Maria-Orans vor dem Tuch,
und ihre Krone als Zeichen des ewigen Lebens zeichnet sie als Braut Christi, als Ecclesia aus.
Die formale Anlehnung dieser Bildfindung an die Bildgeschichte der stehenden Maria-Orans
einerseits und das leere Grab, über dem Maria entschwebt, andererseits lassen diese Bildfin-
dung in der Majuskel als leibliche Aufnahme Mariens deuten.578
Auf dem Türsturz des Südquerhauses vom Straßburger Münster579 (Abb. 108) wurde um
1220-35 in einer ikonographischen Sonderform die leibliche Aufnahme Mariens versinnbild-
licht. Während an dem südlichen Doppelportal der Tod Mariens, ihre Grabtragung und Krö-
nung eindeutig zu bestimmen sind, wird das ursprüngliche Türsturzrelief sehr unterschiedlich
gedeutet. Schiller will in dem Relief eine „levatio animae“ erkennen, während Verdier diese
Bildfindung als „l’assumption du corps porte par les anges dans le linceul“ deutet.580 Das heu-
tige Relief ist aus dem 19. Jahrhundert und bezieht sich formal auf die barocken Himmel-
fahrtsschöpfungen des 17. Jahrhunderts. In dem Jahre 1793 wurde das Original zerstört, das
aber in einem Kupferstich58' von Isaak Brunn von 1617 erhalten ist (Abb. 107). Das Doppel-
portal wird auf diesem Stich exakt wiedergegeben, so daß man eine getreue Kopie des zerstör-
ten Bildfeldes in diesem Stich annehmen kann (Abb. 109). In dem Stich scheint Maria nackt in
einem Tuch zu stehen, das von zwei Engeln erhoben wird. Diese Bildfindung erinnert formal
an den Bildtypus der Levatio animae, wie ihn Chapeaurouge seit dem 9. Jahrhundert hat
nachweisen können und der auf vielen Bildwerken als Aufnahme der Seele von Heiligen dar-
gestellt wird.582 Am Straßburger Münster übergibt aber Maria ihren Gürtel an den Apostel
Thomas, der bei der leiblichen Aufnahme Mariens nicht anwesend war und der ein Zeichen
dieses Wunder von Maria erbeten hat, welches Maria ihm durch die Spende ihres Gürtels gab.
Dieses Gürtelmotiv ist daher ein Nachweis für die leibliche Aufnahme Mariens. Zudem ver-
weist die Stellung dieses Reliefs am Doppelportal nach der Grablege und vor der Krönung
Mariens darauf, daß hier in Straßburg der Bildtypus der Levatio animae zwar formal aufge-
nommen, aber inhaltlich mit der leiblichen Aufnahme Mariens verbunden wird.

578 Vgl. Verdier 1980, S. 35; Schiller 1980, S. 103, 107; Schaffer 1985, S. 1985, S. 131: „Zum erstenmal ... eine
Darstellung der Assumptio animae et corporis“; L1EBL 1991 [wie Anm. 457], S. 207: „assumptio animae et corporis“.
579 STRAßBURG, Münster, Südquerhaus, Aufnahme Mariens, um 1220-35, 1793 zerstört, heutiges Relief aus dem 19. Jh.
580 Schiller 1980, S. 102, Anm. 255; Verdier 1980, S. 143.
581 Isaak Brunn, Kupferstich, aus: Oseas Schadaeus, Münsterbüchlein, 1617.
582 Chapeaurouge 1973, S. 20f. - Vgl. Reims, Kathedrale, sog. Porte romane, um 1180; Grabmal des San Vincent^’
um 1190, Avila (Kastilien), Basilica de San Vincente; Meister der Ursulalegende, Tafel der Ursulalegende, 1495-
1505, London, Viktoria and Albert Museum.
 
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