E.Sichavt: MÄDCHEN AM FENSTER
VIELLEICHT...
Ich habe meinen alten Spieß getroffen.
Du lieber Himmel, sah der aus.
Die Haare lang, den schmutz'gen Kragen offen
Und Hosen — wie vom Krankenhaus.
Verschwunden Stiefel, Breeches-Hosen ...
Sein Gürtel hing im letzten Loch.
Kein Schimmer mehr von seinen Heldenposen,
Und seine Stimme — war sie's noch?
Vorm Arbeitsamt war's, wo wir standen.
Uns beide drückte wohl der gleiche Schuh.
In der Sekunde, als wir uns erkannten,
Da machte grad der Schalter zu.
Was hatte ich mir einst nicht vorgenommen —
Gesetzt den Fall, wir kämen heil zurück ...
Nun ist die ganze Sache so gekommen.
Na ja. Vielleicht war's unser Glück. Kränzchen
Die historische Stunde
i
Wenn ich früher in Geschichtsbüchern von einer
historischen Stunde las, fühlte ich ehrfürchtige
Schauer über mein Rückgrat rieseln. Die Weihe des
längst vergangenen Augenblicks erlebte in der
Gänsehaut des unwürdig Nachgeborenen ihre Auf-
erstehung.
Seit ich mit der Sitzung des Bayerischen Landtags
vom 19. und 20. Mai, in der über das Bonner
Grundgesetz abgestimmt wurde, eine solche histo-
rische Stunde erlebte, fühle ich furchtsame Schauer
über mein Rückgrat rieseln. Bei dem Gedanken,
ich könnte noch einmal. ..
Cave historiam — hütet euch vor den Geschichts-
schreibern und ihrem übertreibenden Pathos!
Dies- weiteren Nachgeborenen zur Vermeidung un-
gerechtfertigter Gänsehaut ins Stammbuch.
II
Das Wort von der „historischen STUNDE" ist ein
Euphemismus. Die Zeitspanne zwischen seiner
ersten und letzten Erwähnung betrug 14 geschla-
gene Stunden. Ohne die Pausen.
Eine vierzehnstündige historische Stunde lang
prasselte Geistesblitz auf Geistesblitz auf die
immer mehr ermattenden Historienmacher. Und die
obligaten historischen Schlachtenbummler im Saal
und am Rundfunkgerät. Als sich die Fülle der
Geistesblitze erschöpfte, sprang der Himmel mit
seinen Blitzen helfend ein. Und mit Donnergrollen.
Es war wahrhaft historisch. Gerade zur Zeit der
Abstimmung.
Historie-besessene Romantiker und romantische
Historie-Besessene raunten runend von einem
Menetekel. Die Mehrheit im Saal kümmerte sich
nicht um den himmlischen Zorn. Sie stimmte trotz-
dem mit Nein. Schließlich kann ein christlicher Ab-
geordneter seine Überzeugung nicht dem nächst-
besten Aberglauben opfern.
Nüchterne Zuhörer freuten sich des Gewitters. Es
waren immerhin seit 14 Stunden die ersten faß-
baren Blitze. Wenn auch ohne Geist.
III
Schreckliche Erkenntnis: die historische Stunde ist
es nicht.
Auch wenn 14, 18 oder 20 Stunden oder 2 Tage lang
die Abgeordneten sich mit den Händen in den
Hosentaschen Bekenntnisse zu Deutschland ab-
ringen und die Landtagsdiener alle Hände voll zu
tun haben, das gedroschene Stroh aus dem Saal
zu schaffen — sie ist es nicht.
Und wenn jeder der 26 Redner inbrünstig an die
Gegenseite hinredend den Eindruck zu erwecken
versuchte, er wolle noch in letzter Minute den
anderen von seinem Standpunkt überzeugen, und
wenn mit Worten wie mit Schwertern gefochten
wurde — es war nur Spiegelfechterei. Es wußte
jeder vom anderen längst, warum er anders wollte.
Es wußte auch jeder, daß das Abstimmungsergebnis
längst feststand. Seit den Probeabstimmungen in
den Fraktionen am Vortag.
Die eigentliche historische Stunde ist in aller Stille
längst bei den Sternen, wenn die sogenannte be-
ginnt. Aber diese wird protokolliert.
Es läßt sich nicht leugnen, daß Klio, die Muse der
Geschichte, eine leibliche Schwester Thaliens, der
Muse des Thealers, ist.
IV
Man atmete förmlich Geschichte; ihre Weihe war
spürbar im Raum, obwohl man natürlich wußte,
daß ein Parlament keine Kaserne ist, in der man
nur „jawoll" sagt; obwohl man einsah, daß der
Wunsch nach mehr Feierlichkeit und Würde ein
verdammenswerter Rest nazistischen Ungeistes ist;
obwohl man sich darüber klar war, daß einem
Parlamentarier einmal der Gaul durchgehen und
er seinen Kollegen auch persönlich angreifen darf,
ohne daß die Würde des Hauses verletzt wird;
denn es ist ein Präsident da, der zu weit Gegange-
nes zurückweist; obwohl man selbst erkennt, daß
Zwischenrufe geistreicher gestaltet werden können;"
obwohl offenbar ist, daß Takt auch im Parlament
nicht jedermanns Sache und es daher durchaus in
Ordnung ist, wenn alle Abgeordneten den Saal
verlassen, während ein Kollege spricht, obwohl
sich herumgesprochen hat, daß die Presse an allem
schuld ist.
Seitdem weiß ich, daß der Nimbus historischer
Stunden lediglich durch die Patina der Zeit auf-
getragen wird.
Wir haben unsere Erfahrungen mit historischen
Stunden. Im nächsten Jahr stehen sie als Gedenk-
tage im Kalender. Im übernächsten Jahr kann sie
ein Systemwechsel wieder auslöschen. Dann wird
die historischste Stunde bestenfalls zum dies ater.
Erfahrungsgemäß wird dann das Schlechte bald
vergessen. Dann ist es mit der ganzen Historik
Essig. Man nimmt darum besser erst gleich den
Mund nicht so voll.
VI
Uberhaupt. Was soll daran historisch sein, wenn
der Bayerische Landtag über das Grundgesetz ab-
stimmt? Zehn andere Landtage haben das auch
getan. Macht zehn historische Stunden Die An-
nahme im Parlamentarischen Rat und den Zu-
sammentritt der ersten westdeutschen Regierung
hinzugerechnet, macht zwölf.
Daß es nur nicht bald dreizehn schlägt!
Mir scheint, die Herren nehmen sich selbst etwas
zu wichtig.
VII
Keine historische Stunde ohne historisches Wort.
Der Geist der Bayerischen Landtagssitzung von
1849 wurde beschworen, als man sich mannhaft
gegen die preußische Majorisierung stemmte. Das
historische Zitat aber lieferte Wellington, aus der
Schlacht bei Waterloo von 1815. Es wurde per Tele-
gramm an den Landtag geschickt und vom Präsi-
denten pflichtschuldigst verlesen. Es lautete:
„Ich wollte.es wäre Abend oder diePreußen kämen.*
Wenn in 100 Jahren die nächste historische Sitzung
des Bayerischen Landtags über das Verhältnis
Bayerns zum Gesamtdeutschland befinden wird,
wird man das historische Wort des Landtags-
präsidenten von 1949 zitieren:
„Man darf die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie
sie sind." m—
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VIELLEICHT...
Ich habe meinen alten Spieß getroffen.
Du lieber Himmel, sah der aus.
Die Haare lang, den schmutz'gen Kragen offen
Und Hosen — wie vom Krankenhaus.
Verschwunden Stiefel, Breeches-Hosen ...
Sein Gürtel hing im letzten Loch.
Kein Schimmer mehr von seinen Heldenposen,
Und seine Stimme — war sie's noch?
Vorm Arbeitsamt war's, wo wir standen.
Uns beide drückte wohl der gleiche Schuh.
In der Sekunde, als wir uns erkannten,
Da machte grad der Schalter zu.
Was hatte ich mir einst nicht vorgenommen —
Gesetzt den Fall, wir kämen heil zurück ...
Nun ist die ganze Sache so gekommen.
Na ja. Vielleicht war's unser Glück. Kränzchen
Die historische Stunde
i
Wenn ich früher in Geschichtsbüchern von einer
historischen Stunde las, fühlte ich ehrfürchtige
Schauer über mein Rückgrat rieseln. Die Weihe des
längst vergangenen Augenblicks erlebte in der
Gänsehaut des unwürdig Nachgeborenen ihre Auf-
erstehung.
Seit ich mit der Sitzung des Bayerischen Landtags
vom 19. und 20. Mai, in der über das Bonner
Grundgesetz abgestimmt wurde, eine solche histo-
rische Stunde erlebte, fühle ich furchtsame Schauer
über mein Rückgrat rieseln. Bei dem Gedanken,
ich könnte noch einmal. ..
Cave historiam — hütet euch vor den Geschichts-
schreibern und ihrem übertreibenden Pathos!
Dies- weiteren Nachgeborenen zur Vermeidung un-
gerechtfertigter Gänsehaut ins Stammbuch.
II
Das Wort von der „historischen STUNDE" ist ein
Euphemismus. Die Zeitspanne zwischen seiner
ersten und letzten Erwähnung betrug 14 geschla-
gene Stunden. Ohne die Pausen.
Eine vierzehnstündige historische Stunde lang
prasselte Geistesblitz auf Geistesblitz auf die
immer mehr ermattenden Historienmacher. Und die
obligaten historischen Schlachtenbummler im Saal
und am Rundfunkgerät. Als sich die Fülle der
Geistesblitze erschöpfte, sprang der Himmel mit
seinen Blitzen helfend ein. Und mit Donnergrollen.
Es war wahrhaft historisch. Gerade zur Zeit der
Abstimmung.
Historie-besessene Romantiker und romantische
Historie-Besessene raunten runend von einem
Menetekel. Die Mehrheit im Saal kümmerte sich
nicht um den himmlischen Zorn. Sie stimmte trotz-
dem mit Nein. Schließlich kann ein christlicher Ab-
geordneter seine Überzeugung nicht dem nächst-
besten Aberglauben opfern.
Nüchterne Zuhörer freuten sich des Gewitters. Es
waren immerhin seit 14 Stunden die ersten faß-
baren Blitze. Wenn auch ohne Geist.
III
Schreckliche Erkenntnis: die historische Stunde ist
es nicht.
Auch wenn 14, 18 oder 20 Stunden oder 2 Tage lang
die Abgeordneten sich mit den Händen in den
Hosentaschen Bekenntnisse zu Deutschland ab-
ringen und die Landtagsdiener alle Hände voll zu
tun haben, das gedroschene Stroh aus dem Saal
zu schaffen — sie ist es nicht.
Und wenn jeder der 26 Redner inbrünstig an die
Gegenseite hinredend den Eindruck zu erwecken
versuchte, er wolle noch in letzter Minute den
anderen von seinem Standpunkt überzeugen, und
wenn mit Worten wie mit Schwertern gefochten
wurde — es war nur Spiegelfechterei. Es wußte
jeder vom anderen längst, warum er anders wollte.
Es wußte auch jeder, daß das Abstimmungsergebnis
längst feststand. Seit den Probeabstimmungen in
den Fraktionen am Vortag.
Die eigentliche historische Stunde ist in aller Stille
längst bei den Sternen, wenn die sogenannte be-
ginnt. Aber diese wird protokolliert.
Es läßt sich nicht leugnen, daß Klio, die Muse der
Geschichte, eine leibliche Schwester Thaliens, der
Muse des Thealers, ist.
IV
Man atmete förmlich Geschichte; ihre Weihe war
spürbar im Raum, obwohl man natürlich wußte,
daß ein Parlament keine Kaserne ist, in der man
nur „jawoll" sagt; obwohl man einsah, daß der
Wunsch nach mehr Feierlichkeit und Würde ein
verdammenswerter Rest nazistischen Ungeistes ist;
obwohl man sich darüber klar war, daß einem
Parlamentarier einmal der Gaul durchgehen und
er seinen Kollegen auch persönlich angreifen darf,
ohne daß die Würde des Hauses verletzt wird;
denn es ist ein Präsident da, der zu weit Gegange-
nes zurückweist; obwohl man selbst erkennt, daß
Zwischenrufe geistreicher gestaltet werden können;"
obwohl offenbar ist, daß Takt auch im Parlament
nicht jedermanns Sache und es daher durchaus in
Ordnung ist, wenn alle Abgeordneten den Saal
verlassen, während ein Kollege spricht, obwohl
sich herumgesprochen hat, daß die Presse an allem
schuld ist.
Seitdem weiß ich, daß der Nimbus historischer
Stunden lediglich durch die Patina der Zeit auf-
getragen wird.
Wir haben unsere Erfahrungen mit historischen
Stunden. Im nächsten Jahr stehen sie als Gedenk-
tage im Kalender. Im übernächsten Jahr kann sie
ein Systemwechsel wieder auslöschen. Dann wird
die historischste Stunde bestenfalls zum dies ater.
Erfahrungsgemäß wird dann das Schlechte bald
vergessen. Dann ist es mit der ganzen Historik
Essig. Man nimmt darum besser erst gleich den
Mund nicht so voll.
VI
Uberhaupt. Was soll daran historisch sein, wenn
der Bayerische Landtag über das Grundgesetz ab-
stimmt? Zehn andere Landtage haben das auch
getan. Macht zehn historische Stunden Die An-
nahme im Parlamentarischen Rat und den Zu-
sammentritt der ersten westdeutschen Regierung
hinzugerechnet, macht zwölf.
Daß es nur nicht bald dreizehn schlägt!
Mir scheint, die Herren nehmen sich selbst etwas
zu wichtig.
VII
Keine historische Stunde ohne historisches Wort.
Der Geist der Bayerischen Landtagssitzung von
1849 wurde beschworen, als man sich mannhaft
gegen die preußische Majorisierung stemmte. Das
historische Zitat aber lieferte Wellington, aus der
Schlacht bei Waterloo von 1815. Es wurde per Tele-
gramm an den Landtag geschickt und vom Präsi-
denten pflichtschuldigst verlesen. Es lautete:
„Ich wollte.es wäre Abend oder diePreußen kämen.*
Wenn in 100 Jahren die nächste historische Sitzung
des Bayerischen Landtags über das Verhältnis
Bayerns zum Gesamtdeutschland befinden wird,
wird man das historische Wort des Landtags-
präsidenten von 1949 zitieren:
„Man darf die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie
sie sind." m—
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Mädchen am Fenster"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 4.1949, Nr. 12, S. 137.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg