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Springer, Anton
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 1): Das Altertum — Leipzig, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.27217#0112
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L. Griechenland. 3. Skulptur.

gleichmäßigen Aussüllung dcs Raumes auf. Vollkommen griechischer Art erscheinen dagegen
schon die Reliefs au dem sog. Harpyiendenkmal in Lanthos (Fig. 161), obschon sie nicht rein
griechischem (lykischem) Boden entstammen. Die Reliefs ziehen sich als Baud oben um einen
viereckigen Grabturm hin und führen uns sitzende Männer und Frauen (die verklärten Toten),
die Gaben in Empfaug nehmeir, und geflügelte Todesdämonen (Harpyien?), die Kinder in den
Armen davontragen, vor die Augen. Die Deutung der Vorgänge unterliegt manchen Zweifeln;
mit vollkommener Klarheit schauen wir die Grundzüge des altionischen Stiles, die Zierlichkeit
in der Anordnung der Gewänder, die fast weichliche Behaudlung der Körper, neben den
gedrungenen Körpern der Männer die zeremoniöse Aumut in
Haltung und Bewegung der Weiber, Vorzüge, die die einzelnen
Zeichenfehler für den Betrachter zurückdrängen.

Welch schroffer Gegensatz zu deu Schöpfungen an der
Westgrenze der griechischen Kulturwelt, zu den altdorischen
Skulpturen in Sizilien! Von dem mittleren Burgtempel in
Selinunt (Fig. 134, gegen 600 v. Chr.) haben sich mehrere
Metopenreliefs erhalten (Fig. 162). Das eine Relief stellt
Herakles dar, der die diebischeu Kerkopen angebunden an einem
Tragholze über den Schultern davontrügt; das audere schildert
die Tötung der Medusa im Beisein Athenes und die Geburt

Fig. 162. Metopen von Selinunt. Palermo. Fig. 163. Fliegende Nike aus Delos.

des (aus dem Blute der Medusa entsprungenen) Pegasus. Der Reliefstil ist uoch wenig ent-
wickelt, die Figuren heben sich scharf und hoch vom Grunde ab, erscheinen aber von vorn ziemlich
flach. Sie sind kurz, untersetzt in den Verhältnissen, ähulich wie in der Plastik des frühen
Mittelalters. Prosil- und on faos-Stellung tvechselt (S. 23), wie in der ägyptischen Kunst, bei
den einzelneu Gliedern, um die Handlung jedes Körperteiles möglichst deutlich zu machen.

Außer besonderen Stammeseigeuschafteu hat gewiß in Kleinasien die Nachbarschaft uralter
Kultur, in Sizilien das abgeschlossene Leben der jungen Kolonie Einfluß auf die so ganz ver-
schiedene Gestalt der plastischen Werke geübt. Dort wird die dekorative Richtung angestrebt,
hier drücken die plumpen, beinahe hölzernen Figuren wesentlich uur lebendige Kraft aus. Auf
den Jnseln uud dem hellenischen Festlande erscheinen diese schroffen Gegensätze vou Menschen-
alter zu Menschenalter immer mehr gemildert, bis sie endlich in Attika ihre harmonische Aus-
gleichung finden.
 
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