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Ornament aus der 5t irche St. Pierre in Moissac.

6. Die EnLwickelung nationaler Kunstweisen.

1. Die nordische Kunft im elften und zwölften Jahrhundert.

as Widmungsbild in dem Münchener Evangeliar Ottos III. zeigt den thronenden
Kaiser, vom Schwert- nnd Schildträger und von Vertretern der Kirche itmgeben
(Fig. 88), wie ihm Roma, Gallia, Germania und Sclavinia hüldigend nahen.
Noch lebt in der Kunst also die alte Anschauung, welche im Kaiser den Welt-
herrscher, den mächtigmi Nachfolger der römischen Jmperatoren erblickt. Und wie
die von ihm beherrschten Lünder noch die überlieferten Namen führen, so erscheinen auch ihre
Vertreter in der von Ostrom nnd den Karolingern vererbten Gestalt. Einige Menschenalter
später besaß die Phantasie für solche Bilder keinen Raum mehr. Zwar verknüpst die Völker
des westlichen Europa die Einheit der Lehre und verketterl sie kirchliche Anstalten nntereütander.
Die Mönchsorden der Benediktiner und Cisterzienser liefern nicht allein Kolonisten und machen
öde Strecken fruchtbar, sie bilden auch ein internationales Band, da sie einen stetigen Verkehr
zwischen den einzelnen Ansiedelungen unterhalten. Zwar besitzt die lateinische Sprache noch
immer Weltgeltung und bleibt die Sprache der Wissenschaft und der Kirche; selbst die lateinische
Poesie ist noch nicht ausgestorben. Endlich ist der Einfluß der Antike auch jetzt noch nicht
untergraben. Er offenbart sich z. B. in der häufigelr Uebernahme antiker Glieder und Orna-
mente in den herrschenden Banstil, in dern Festhalten an einzelnen Personisikationen und in der
allerdings schematischen Wiedergabe des überlieferten Faltenwurfes. Sogar antike Statnen
(Dörnauszieher) werden zuweilen noch kopiert. Aber diesen einigenden Elenlenten stehen stärkere,
trennende gegenüber. Die Bildung strönlt nicht von einigen wenigen großen Mittelpunkten aus,
sich über weite Gebiete gleichmäßig ergießelld, sondern setzt gleichzeitig an zahlreichen Stellen an,
welche nur lose zusammenhängen, ost selbständig beharren. Die Folge war, daß die gemein-
samen Traditionen verblaßten, die verschiedenen Landschaften und Länder der örtlichen Bedingt-
heit in ihren Schöpfungen ungehinderteren Ausdruck gaben. Dadurch sank aber auch die Summe
des technischen Vermögens. Auf sich angewiesen, eines weiteren Ueberblickes beraubt, konnten
die Werkleute und Künstler unmöglich so Tüchtiges leisten, wie die älteren Geschlechter. Jm
Vergleiche mit der ottonischen Periode wird im elften Jahrhnndert ein Rückgang der technischen
Künste bemerkbar. Die Antike Half nicht aus, da sie nicht als ein geschlossenes Ganzes nach-
lebte, vielmehr nur Vereinzelte, zusällig vorhandene oder aufgedeckte Werke, neben Resten von
Bauten insbesondere Gegenstände der Kleinkunst verwertet werden konnten. Nicht nur das
Handwerk, auch der Sinn für formale Schönheit, für das Ebenmaß und die Harmonie waren
im Laufe des elften Jahrhunderts gesunken. Die veränderte kirchliche Anschauung, vornehmlich

Springer, Kunstgeschichte. II. 11
 
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