Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
figuren der Kanzel in Pistoja schildert er die Sybillen, die Frauen der
heidnischen Welt, die nach der Anschauung der Kirche, ebenso wie in der
jüdischen Welt die Propheten, Christus vorausgeahnt hatten. Wie er die
tiefe Erregung, den seelischen Aufschwung dieser Frauen charakterisiert,
die auf die Heils Verkündung himmlischer Boten lauschen, das ist, gerade
wegen der bescheidenen’Ausdrucksmittel, eminent. Michelangelo hat das
Motiv wieder aufgenommen. Oder er erzählt die Kreuzigung. Er ist hier
der erste, der sich nicht mit dem alten Typus begnügt. Die Szene hat in
seiner Phantasie ein neues Leben gewonnen, ist ihm als eine Vision zum
Erlebnis geworden, in das er den Beschauer mit hineinreißt. Christus
stirbt unter Qualen. Johannes und Magdalena weinen, Maria, die Mutter,
bricht zusammen unter dem furchtbaren Schmerze. Engel kommen vom
Himmel herab und stimmen in das Jammern der Nächsten ein. Das ganze
Bild tönt wie ein einziger, aus der Tiefe des Herzens dringender Schrei des
Schmerzes um dieses Opfer. Die persönliche Empfindung triumphiert
über die Lehre, Giotto knüpft hier an den Vorgänger an.
Die Darstellung, in der das ganze Wesen jeder Generation der italie-
nischen Künstler sich am deutlichsten offenbarte, war die Madonna mit
dem Kinde. Im Mittelalter war Maria überall die Königin des Himmels
gewesen, die den künftigen Herrn und Heiland den Andächtigen zeigte.
In Giovanni Pisanos Statue ist sie noch die gekrönte Königin. Aber sie ist Abb. 94
auch Mutter. Und das Kind hat vollends die frühreife Herrscherwürde
verloren. Es segnet nicht, sondern es greift mit zärtlicher Hand nach der
Wange der Mutter, die sich ihm neigt und seinen lächelnden Blick mit
einem holden erwidert. Und wenn der Künstler noch nicht wagt, die Ma-
donna ins Menschliche zu ziehen, so ist das Kind doch ein rechter Bam-
bino, dem Leben abgewonnen. Man ahnt, welche Möglichkeiten diese Auf-
fassung der Madonna der Kunst eröffnet.
Die Entwicklung, die hier angebahnt wird, nahm dieselbe Richtung,
wie im Norden in der gotischen Zeit, aus deren Arbeiten sich leicht Werke
zum Vergleich heranziehen ließen. Nur waren in vieler Hinsicht in Italien
die Bedingungen günstiger.
Auch die Freude an der heimischen Natur, wie sie im Norden schon
an spät romanischen Werken hervorgetreten war, dann aber in der Gotik

301
 
Annotationen