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Mit etwas trüben Empfindungen habe ich bei meinem letzten Besuch in
unseren Stellungen in die Skizze der Kirche, die ich mir im Dezember ge-
macht, ein paar neue, von unseren Granaten verursachte Ornamente am
Turm eingezeichnet, die keineswegs im Sinne des gotischen Baumeisters
lagen. Eine einfallende Granate hat einen Pfeiler im Langhaus umgeworfen,
ohne die Konstruktion der Umgebung zu zerstören. Aber noch ist hier die
Substanz des Bauwerks im wesentlichen erhalten. Und erhalten ist auch
die die Kathedrale noch um 9 Meter überragende zweitürige Front von
St. Jean-des-Vignes, der in Ruinen liegende Rest der Abtei, in der der
heilige Thomas von Canterbury, der damals noch Thomas Decket hieß,
neun Jahre gelebt hat. Die ganze reiche Anlage der Kirche und Abtei ist
längst bis auf diese Front verschwunden. Die französische Revolution
hat sie ebenso zerstört, wie sie an den drei Portalen der Kathedrale die
Skulpturen völlig bis auf den letzten Rest mutwillig zertrümmert hat, hier
ebenso wie an der Front der Kathedrale zu Noyon. Cornelius Gurlitt hat
einmal erzählt, daß der Sergeant, der die Führung in der Ruine hatte, ganz
gutgläubig die Zerstörung durch die Revolutionshorden den deutschen
Truppen zuschrieb, die 1.870 schon einmal Soissons vier Tage beschossen
hatten. Was wird nun alles in späteren Jahrzehnten von den Untaten
der Revolution auf den Deutschen Krieg von 1915 abgewälzt werden?
Nun endlich Reims mit seiner Kathedrale. Unter all den franzö-
sischen Denkmälern jetzt das meist genannte, auf das heute ganz Frank-
reich wie hypnotisiert blickt, so daß es Chartres und Paris, Amiens und
Rouen darüber völlig vergessen hat, das heute den Franzosen als ihr ein-
zigstes nationales Heiligtum erscheint. „Sainte cathedrale toute mutilee,
tu demeures notre relique nationale,“ schließt Maurice Barres seinen Hymnus
auf die Kathedrale. Immer wieder haben französische und deutsche Kunst-
gelehrte voll Bewunderung vor der Front gestanden, haben an dem Bau
des Jean d’Orbais die Weisheit in der Fülle, über die Front von Notre-Dame
in Paris hinaus die Klarheit im Aufbau der Fassade, die schöne Besonnenheit
und das völlige Gleichmaß selbst bei dem ungeheuren Luxus des statua-
rischen Schmuckes (das sind Worte von Dehio) bewundert, die puissance
raisonnee et mesuree du style, wie Auguste Rodin es in seinen Phantasien
über die Kathedrale nennt. Auch in ihrem architektonischen Gefüge sieht
Wilhelm Vöge am stärksten den plastischen Geist ausgesprochen. So stark
war im Mittelalter der Respekt vor dem ersten Planerfinder der Fassade,
daß man mit einer Pietät, die schwerlich in der mittelalterlichen Bau-
führung eine Parallele hat, noch nach anderthalb Jahrhunderten bei der
Fertigstellung der Westfront, die bis in das Jahr 1420 führt, den ursprüng-
lichen Plan festgehalten hat. Der Skulpturenschmuck der Kathedrale hat
vor allem auch deutsche Forscher immer und immer wieder angezogen,
so Dehio und Goldschmidt, Weese und Hamann, und Vöge hat schon vor
zwei Jahrzehnten seine eingehenden Studien über die Plastik der Kathedrale
begonnen, die nun, wenn uns dies Werk nach langer sorgsamer Vorbereitung
vorgelegt werden wird, eine so schmerzliche Aktualität haben werden. Von
der alten Gruppe der mittelfranzösischen Kunst, von jenen steifen, in ihre
Gewandung eingeschnürten Figuren mit den übergroßen überhängenden
Köpfen vollzieht sich hier der Übergang zu dem freien Stil der höchsten
Vollendung, zu jenen Werken der jüngeren Meister, in denen eine ganz neue
Mit etwas trüben Empfindungen habe ich bei meinem letzten Besuch in
unseren Stellungen in die Skizze der Kirche, die ich mir im Dezember ge-
macht, ein paar neue, von unseren Granaten verursachte Ornamente am
Turm eingezeichnet, die keineswegs im Sinne des gotischen Baumeisters
lagen. Eine einfallende Granate hat einen Pfeiler im Langhaus umgeworfen,
ohne die Konstruktion der Umgebung zu zerstören. Aber noch ist hier die
Substanz des Bauwerks im wesentlichen erhalten. Und erhalten ist auch
die die Kathedrale noch um 9 Meter überragende zweitürige Front von
St. Jean-des-Vignes, der in Ruinen liegende Rest der Abtei, in der der
heilige Thomas von Canterbury, der damals noch Thomas Decket hieß,
neun Jahre gelebt hat. Die ganze reiche Anlage der Kirche und Abtei ist
längst bis auf diese Front verschwunden. Die französische Revolution
hat sie ebenso zerstört, wie sie an den drei Portalen der Kathedrale die
Skulpturen völlig bis auf den letzten Rest mutwillig zertrümmert hat, hier
ebenso wie an der Front der Kathedrale zu Noyon. Cornelius Gurlitt hat
einmal erzählt, daß der Sergeant, der die Führung in der Ruine hatte, ganz
gutgläubig die Zerstörung durch die Revolutionshorden den deutschen
Truppen zuschrieb, die 1.870 schon einmal Soissons vier Tage beschossen
hatten. Was wird nun alles in späteren Jahrzehnten von den Untaten
der Revolution auf den Deutschen Krieg von 1915 abgewälzt werden?
Nun endlich Reims mit seiner Kathedrale. Unter all den franzö-
sischen Denkmälern jetzt das meist genannte, auf das heute ganz Frank-
reich wie hypnotisiert blickt, so daß es Chartres und Paris, Amiens und
Rouen darüber völlig vergessen hat, das heute den Franzosen als ihr ein-
zigstes nationales Heiligtum erscheint. „Sainte cathedrale toute mutilee,
tu demeures notre relique nationale,“ schließt Maurice Barres seinen Hymnus
auf die Kathedrale. Immer wieder haben französische und deutsche Kunst-
gelehrte voll Bewunderung vor der Front gestanden, haben an dem Bau
des Jean d’Orbais die Weisheit in der Fülle, über die Front von Notre-Dame
in Paris hinaus die Klarheit im Aufbau der Fassade, die schöne Besonnenheit
und das völlige Gleichmaß selbst bei dem ungeheuren Luxus des statua-
rischen Schmuckes (das sind Worte von Dehio) bewundert, die puissance
raisonnee et mesuree du style, wie Auguste Rodin es in seinen Phantasien
über die Kathedrale nennt. Auch in ihrem architektonischen Gefüge sieht
Wilhelm Vöge am stärksten den plastischen Geist ausgesprochen. So stark
war im Mittelalter der Respekt vor dem ersten Planerfinder der Fassade,
daß man mit einer Pietät, die schwerlich in der mittelalterlichen Bau-
führung eine Parallele hat, noch nach anderthalb Jahrhunderten bei der
Fertigstellung der Westfront, die bis in das Jahr 1420 führt, den ursprüng-
lichen Plan festgehalten hat. Der Skulpturenschmuck der Kathedrale hat
vor allem auch deutsche Forscher immer und immer wieder angezogen,
so Dehio und Goldschmidt, Weese und Hamann, und Vöge hat schon vor
zwei Jahrzehnten seine eingehenden Studien über die Plastik der Kathedrale
begonnen, die nun, wenn uns dies Werk nach langer sorgsamer Vorbereitung
vorgelegt werden wird, eine so schmerzliche Aktualität haben werden. Von
der alten Gruppe der mittelfranzösischen Kunst, von jenen steifen, in ihre
Gewandung eingeschnürten Figuren mit den übergroßen überhängenden
Köpfen vollzieht sich hier der Übergang zu dem freien Stil der höchsten
Vollendung, zu jenen Werken der jüngeren Meister, in denen eine ganz neue