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IV. ÜBER DEN URSPRÜNGLICHEN ZUSTAND DER BALUSTRADE.

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dalenbinderin nicht daneben sieht oder sich ihrer nicht genau
erinnert. Weit freier und in der Erfindung frischer erscheint
die jugendliche Gestalt links, welche in der Art, wie der
nackte Körper zwischen dem Gewand sichtbar wird, an das
Gewandmotiv des Knaben, der das Gewand hält, auf dem
Ostfries des Parthenon und desjenigen auf dem Eleusinischen
Relief erinnert. Ist auch sie von der Balustrade genommen?
und hat die Herme dort irgendwo ihr Vorbild ? Schaftartig ist
der nicht mehr deutliche Gegenstand, der den westlichen Ab-
schluss der Südseite bildet. Aber von der Porträtherme eines
siegreichen Heerführers an solcher Stelle kann in dem from-
men und eifersüchtig demokratisch nivellirenden Athen der
Zeit, welcher die Balustrade angehört, unmöglich die Rede
sein. Wenn eine Hermathena, oder ein Palladion, als eine
ältere Cultform der Athena Nike, gemeint wäre, so könnte sie
nicht einsam ungeschmückt und ungeehrt stehen. Hermes
und Dionysos haben als Götter hier kein Recht: man könnte
sich ihre Herme nur in dem Sinne gefallen lassen, dass sie
einen örtlichen Abschnitt, eine Grenze bezeichnet, wie z. B.
auf Vasenbildern eine Herme die Grenze der Unterwelt be-
zeichnet und ähnliches mehrfach vorkommt. Ob der 'Eppjs
itponolaio? eine Statue oder eine Herme sei, ist nicht ohne weiteres
sicher. Die Hermen bei der Agora spielen in dem Festzug der
Panathenäen eine bedeutende Rolle und bilden, wie es scheint,
einen entscheidenden Ausgangspunkt. Indess kann nur jener
undeutliche Gegenstand am westlichen Ende der Südseite diese
Vermutung, dass zugleich mit der gebückten Frau auch die
Herme von der Balustrade entlehnt sei, wachrufen. Denn
Hermenschmückungen kommen so häufig vor, dass die Ein-
schiebung einer Herme an Stelle eines Tropäons oder auch
einer sitzenden Athena leicht denkbar ist. Auch kann weder
die Sandalenbinderin in die unmittelbare Nähe jenes undeut-
lichen schaftartigen Gegenstandes gebracht werden, noch
braucht sich die Aehnlichkeit des Münchener Reliefs der
einen Figur wegen auf alle Teile zu erstrecken. Die Flügel-
losigkeit der beiden Frauen, die veränderte Bedeutung der
Bewegung in der sich bückenden, die Hermenschmückung
selbst lehren unzweifelhaft, dass das Münchener Relief, welchen
Zusammenhang wir auch immer voraussetzen mögen, doch
mindestens in ganz verschiedenem Sinne verstanden worden
ist, und alsdann wird die Grenze der Selbständigkeit oder
Eigenmächtigkeit sich nicht so scharf bezeichnen lassen. Der
Gestalt zur Linken der Herme entspricht genau keine der
erhaltenen Figuren der Balustrade: in der Haltung ist, nur
in umgekehrter Richtung, die Nike M unverkennbar ganz
gleichartig, obwol diese weniger gedehnt steht; aber die
Anlage des Gewandes ist von dieser Nike M und überhaupt
von sämtlichen erhaltenen Niken der Balustrade so völlig
verschieden, dass man sie sich schwer als eine Erfindung
desselben Künstlers denken kann, der sonst überall einem
andern Ideal nachgeht und gewohnt ist, den Reiz nicht in
dem Gegensatz des Nackten zum Gewand, sondern überall
in dem Verhältniss des einfachen oder doppelten Stoffes und
seiner grossen, geschwungenen, bewegten, fliegenden und
schmiegsamen, zarten und feinen, gebrochenen und durch-
sichtigen Falten zu dem Körper, den sie umflattern, den sie
bedecken und auf dem sie aufliegen, zu seiner Bewegung,
zu seinen Formen, die sie abzeichnen, und in der Anmut zu
suchen, die aus allem dem entspringt. Merkwürdig ist die
Uebereinstimmung mit dem Münchener Relief, welche die
einem Fackelläufer eine Binde reichende Nike auf der
Schale des Museum Gregorianum II 71, 3 darbietet. Aber
ich bezweifle, dass die in diesem Vasenbild als Nike
verwendete Gestalt ursprünglich zu gleicher Zeit so ge-
wandet und beflügelt erfunden worden sei. Denn zwar ge-
winnt durch die Beflügelung die Gesamterscheinung unge-
mein an Schönheit und Kraft; aber der Flügelansatz, so
dicht an dem nackten Körper und gerade eben durch das

darüber fallende, breit herabfallende Gewand verdeckt, hat
etwas gezwungenes. Wie viel schöner und freier ist die auf
unserer Tafel IV M abgebildete Nike! Ich kann deshalb die
Figur des Münchener Reliefs nur für eine Umbildung dieser
Nike M halten, bei welcher der umbildende Künstler die
wegfallende Beflügelung durch das am Rücken breiter herab-
fallende Gewand und den eigenen Reiz des anliegenden und
sich anschmiegenden Gewandes durch den, andern Vorbildern
entnommenen Gegensatz des aus dem Gewand sich abheben-
den nackten Körpers zu ersetzen suchte. Dieses Ausnutzen
des dorischen Chitons für eine bestimmte künstlerische Wirkung
kömmt auf Vasenbildern mehrfach vor. Aber in diesem Fall
ist die Uebereinstimmung der ganzen Gestalt doch zu gross,
als dass sie für zufällig gelten könnte. Dann muss die von
mir angenommene Umbildung ziemlich früh fallen und ich
leugne nicht, dass sie vielleicht zunächst erst in einer Ge-
wandveränderung bei Belassung der Beflügelung bestanden
haben und in dem Münchener Relief erst eine zweite Um-
bildung vorliegen könnte. Aber der Vasenmaler kann auch
selbständig die ursprüngliche Beflügelung wieder zugefügt
haben, wenn er gerade einer Nike bedurfte. Eine Wegnahme
der Beflügelung liegt auch in der Vaticanischen und Floren-
tiner Reliefcomposition vor und wie überaus fruchtbar die
einmal vor Augen gestellten Reliefs der Balustrade fort-
wirkten, hat bereits die Erläuterung der einzelnen Bruchstücke
mit Hülfe verwandter späterer Kunstwerke klar gemacht.
Die zu Platte A angeführten und die ähnlichen Vasenbilder
verwenden Motive des Opferzugs teils zu Dionysischer Fest-
feier, wie auch das Florentiner und Vaticanische Relief ver-
mutlich zu verstehen sind, teils für die Feier des Sieges im
Fackelwettlauf und dies um so hübscher, wenn Benndorfs
Vermutung richtig ist, dass das Ziel der Lampas eben die
Terrasse der Athena Nike gewesen sei 29). Auch in den Dar-
stellungen der Nereiden mit den Waffen für Achill, in den
Abschieds- und Rüstungsscenen der Vasenbilder werden An-
regungen aus der Balustrade vorhanden sein, so wie in den
Eroten, welche Tropäen errichten und Waffen tragen, und in
dem pompejanischen Gemälde, auf welchem ein Eros bei
dem Opfer am Altar einen Helm trägt. Aber die Verfolgung
solcher ferner Nach- und Anklänge, die sich weit ausspinnen
Hesse, gestattet keine bestimmteren Rückschlüsse auf die
ursprüngliche Composition der Balustrade.

Ich fasse die Ergebnisse, welche ich für die Anordnung
der Balustradenreliefs gefunden zu haben glaube und welche
ich zum Teil für sicher, zum Teil für sehr wahrscheinlich
halte, in dem folgenden Schema zusammen, indem ich zu-
gleich die Sicherheit oder den Grad der Wahrscheinlichkeit,
die ich dem Schlüsse oder der Vermutung zuschreibe, thun-
lichst kenntlich mache.

Von der Südwand nach dem Tempel zu einspringender
Teil. Zwei Platten und ein Eckstück.

Ankunft des Opferzuges am Altar. Die rechts, vom Be-
schauer aus gerechnet, frei endigende Endplatte enthält die
opfernde Nike DD (S. 10 f.) auf der Kuh. Links folgen die
beiden Niken mit der vorwärts in die Höhe springenden Kuh:
A. Am Eckstück vermutlich die Nike D (S. 6).

Südwand. Sechs Platten und zwei Eckstücke, von wel-
chen das eine nur einen kurzen Teil an dieser Langseite hat.

Opferzug, von der Südwestecke vorwärts schreitend. An
die Südwestecke gehört das Eckstück B, das auf der Süd-
seite neben einem architektonischen Abschluss (S. 6) eine
nach rechts gewendete Nike zeigt. Auf diesen Teil der
Langseite ist der Zug in Vorbereitung und im Beginn der

29) Benndorf,
Sonderdruckes.

Geschichte des attischen Theaters. S. 69 des
 
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