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V. TECHNIK. STYL. COMPOSITION. ENTSTEHUNGSZEIT.

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Jahrhundert gehört. Es könnte sich also von Seiten des
Syrakusiers Mikon nur um eine Umbildung der älteren Gruppe
handeln. Dass eine Umbildung des älteren, wie er damals
noch voraussetzte , von Myron herrührenden Werkes durch
Menächmos vorgenommen wurde, hat O. Jahn aus den Worten
des Plinius erkannt, der bei den Erzgiessern, 34, 80 die Worte
hat.: Menaechmi mtulus genu premitur replicata cervice. Es ist
einleuchtend, dass hier, wie O. Jahn will, der Name der
Victoria ausgefallen ist, neben mtulus oder vielleicht wahr-
scheinlicher im Genitiv nach genu. Die Gruppe des Menäch-
mos wird man sich also entsprechend der zweiten oder auch
der dritten Entwicklungsstufe des Motivs (s. oben S. 11) denken
müssen. Die dritte entfernt sich freier vom ursprünglichen
Vorbild, aber sie scheint fast nicht für ein Rundwerk, sondern
von Anfang an für das Relief erdacht zu sein. Die Nike auf
dem Münzbild, welches der römischen Zeit angehört, erinnert
durch die erhobene rechte Hand und die Bekleidung des
Oberkörpers an das ursprüngliche Motiv, aber die Stellung
und Wendung ist ungeschickt und entfernt sich unter allen
vorhandenen Wiederholungen am meisten von den plastischen
Vorlagen. In den Zeiten, in denen die Münze geschlagen
wurde, muss die Gruppe der Nike auf dem Opferthier längst
schon und in verschiedenen Unterarten zu dem als allgemeiner
Besitz gleitenden Vorrat überkommener Kunstformen gehört
haben und ich vermag deshalb den Schluss auf ein für das
Münzbild massgebendes Kunstwerk in Syrakus und auf den
Syrakusier Mikon als dessen Verfertiger nicht für zulässig
zu halten.

Das Kunstwerk, welches zum erstenmale die zum Schlag
ausholende Nike auf dem Opferthier zeigte, die Reliefgruppe
der Balustrade, war an einer der berühmtesten und zugäng-
lichsten Stellen der alten Welt, an der für die Fortentwick-
lung der Kunst,entscheidendsten Stelle, aller Augen ausge-
setzt. Wenn Tatian wirklich die Gruppe meinte, welche
Welcker, O. Jahn und Bursian aus seinen Worten verstehen,
und wenn er einen Mikon als ihren Verfertiger nennt, so
könnte dieser nur ein Mikon des fünften Jahrhunderts sein,
also der berühmte Maler und Bildhauer Mikon, des Phano-
machos Sohn, und die Gruppe kaum etwas anderes als die
Schlussgruppe der Balustrade.

Aber sofort erhebt sich eine Schwierigkeit. Mikon hat
für Kallias des Didymias Sohn, der in Olympia im Pankration
siegte, eine Siegerstatue ausgeführt, welche bei Pausanias
(VI, 6, 1) erwähnt wird und deren Inschriftbasis wieder auf-
gefunden worden ist 31). Der Sieg des Kallias fällt nach Pau-
sanias (V, 9, 3) in die 77. Olympiade, also 472 vor Christo.
Auch wenn die Siegerstatue bald nach dem Sieg gearbeitet
wurde, ist es möglich, dass Mikon noch vierzig Jahre später
thätig war. Aber nur eben möglich. Aus der Inschrift des
Kallias C. I. A. 1, 419 wird auf die Zeit der olympischen In-
schrift schwerlich ein Schluss gezogen werden können. In
dieser braucht Mikon noch ionische Buchstaben, aber er
nennt sich bereits einen Athener; in derjenigen auf der
•athenischen Akrbpolis C. 1 A. 1, 418 mischt er ionisches
T und A unter die attischen Buchstaben. Aber auch wenn
sich die Zeit leichter fügte, läge ein Anstoss darin, dass, wenn
man jenem Gedanken nachgeben wollte, eine einzelne Gruppe
aus einem Relief heraus genannt sein würde; und keinesfalls
wird man die Scheu überwinden, eine so schwer wiegende
Folgerung aus Worten zu ziehen, deren Auslegung nicht über
jeden Zweifel erhaben ist. O. Jahn 35) und Blümner 36) haben
eine Prüfung der kunstgeschichtlichen Angaben des Tatian
angestellt und es hat sich daraus ergeben, dass sie thatsäch-

") Archäol. Zeitung XXXIV (1876) S. 227. S. ebd. Fränkel und vergl.
Schubring im folgenden Jahrgang S. 67.

35) O. Jahn, Ueber griechische Dichter auf Vasenbildern (Abhandl. der K.
Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften VIII. 1861) S. 753 ff.

36) Blümner, Archäol. Zeitung XXVIII (1870) S. 86 ff.

lieh richtig sind, so willkürlich auch die Urteile und Be-
hauptungen über die in den von ihm angeführten Porträts dar-
gestellten Personen sind. Tatian versichert, aus selbständiger
Kenntniss zu sprechen, und so wenig eine solche Einkleidung
nach den Gewohnheiten der griechischen Rhetorik sonst zu
beweisen pflegt, mag dies in diesem einzelnen Fall auf Wahr-
heit beruhen. Wenn Tatian die genauen Angaben, die er
macht, eigener bei seinem Aufenthalt in Rom erworbener
Kenntniss verdankt, wie Blümner aus dem Umstände erwiesen
hat, dass eine Anzahl derselben sicher in Rom waren, so ist
freilich möglich, dass er dennoch auch andere Kunstwerke
nenne, deren er sich von seinen vielen Fahrten in der Welt
sonsther mehr oder minder deutlich erinnerte. Aber in diesem
Falle hätte er doch ein nur sehr ungenaues Gedächtniss be-
wiesen. Man könnte sich sein Missverständniss doch kaum
anders erklären, als dass ihm die kurze schriftliche Notiz
eines Anderen vorgelegen hätte. Denn Knapp hat mit Recht
hervorgehoben37), man dürfe Tatian doch schwerlich zutrauen,
dass er eine Nike, welche auf dem überwältigten Thier
kniend zum Todesstreich ausholt oder ihm das Messer in den
Hals stösst, als Andeutung des von Zeus in der Gestalt des
Stieres erlangten Sieges verstanden habe. Denn das ist nicht
mehr eine verkehrte Ausdeutung des dargestellten Gegen-
standes, sondern ein Verkennen der Darstellung selbst, von
dem er sich sonst, so weit sich sehen lässt, frei gehalten hat.
Wenn er die von Welcker, O. Jahn und Bursian vorausge-
setzte Gruppe gesehen hätte, so hätte er sie doch nur loben
oder in dem Sinne über sie lachen können, dass das Thier,
in dessen Gestalt Zeus seine Unthat vollbracht, als Preis da-
für getötet wird. Aber das ist nicht seine Meinung, sondern
er tadelt, dass der Künstler ein Rind darstellte und über ihm
eine Nike, als ob dadurch die That des Zeus als Stier ge-
feiert werden solle. Stiere mit darüber schwebenden Niken
kommen auf Münzen von Poseidonia und Thurii vor, sehr
häufig der Stier mit Menschengesicht. Wenn Tatian eine
solche Darstellung gesehen hat, so würde es am leichtesten
verständlich sein, wie er auf den Gedanken an den verwan-
delten Zeus kam. Warum soll eine ähnliche Darstellung, mit
etwas verändert angebrachter Nike, nicht auch plastisch
existirt haben? und Beziehungen zu einem sicilischen Bild-
hauer aufzufinden würde ja leicht sein. Aber nicht einmal
diese Annahme ist nötig. Wie viele eherne Stiere waren als
Weihgeschenke dargebracht! Warum sollte bei der Rolle,
welche die Stiere bei der dionysischen Siegesfeier spielten,
nicht ein solches Weihgeschenk eine Nike über einem Stier,
auf ihm halb stehend halb schwebend, enthalten haben, oder
klein zwischen den Hörnern, wie die Chariten auf dem Kopf
des Stieres vorkommen ? Vier Stiere von der Hand des Myron
standen um den Altar vor dem Tempel des palatinischen
Apoll, nach den Worten des Properz:

Atque aram circum steterant armenta Myronis,
quattuor artifices, vivida signa, boves.

Könnte nicht eines dieser Thiere eine Nike auf sich ge-
tragen haben ? so dass Tatian auch seine Nike auf dem Stier
in Rom dem Thatbestand nach richtig gesehen hätte, wie
dies Böttiger38), nur mit einer falschen Begründung für Nike,
vorausgesetzt hatte, und dass der Name des Myron, auf den
die Herausgeber freilich zuerst durch eine halbwissende Er-
innerung an die myronische Kuh gekommen sind, doch statt
des M-fpiujv, den die Handschriften bieten, anzunehmen wäre ?
Dass wenigstens an der Stelle des Tatian nicht alle Namen
richtig überliefert sind, hat Jahn gezeigt.

Die vorstehende Erörterung erschöpft nicht alle Mög-
lichkeiten. Aber sie zeigt, wie ich meine, dass aus der Stelle

37) Knapp, Nike in der Vasenmalerei S. 77.
3S) Böttiger, Andeutungen S. 146.
 
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