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Strzygowski, Josef
Die Krisis der Geisteswissenschaften: vorgeführt am Beispiele der Forschung über bildende Kunst : ein grundsätzlicher Rahmenversuch — Wien: Kunstverlag Anton Schroll & Co., 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.59259#0030
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vom besonderen Geschehen, sondern vom allgemeinen Werten ausgehen.
Schließlich mündet daher die Überlegung der Möglichkeit von Gesetzen in den
Geisteswissenschaften in der Antwort aus, daß wir zunächst wie in den Natur-
wissenschaften sichere (exakte) Grundlagen ausbilden müssen. Die Philo-
sophie kann diese nicht liefern, Logik und Psychologie hinken der beein-
flußbaren Natur im Menschen nach, die Gesellschaftswissenschaft ist nur
eine der Fachgruppen, von denen wir Erfahrungstatsachen nachgewiesen
erwarten. Sie hat vorläufig mit sich selbst genug zu tun. Neuerdings ist
bei allen denen, die in Kunstfragen von der Ästhetik und allgemeinen
Kunstwissenschaft ausgingen, auch in der Kunstgeschichte viel von diesen
Dingen die Rede. Die einen stellen Grundbegriffe auf und halten es für
das Hauptproblem einer wissenschaftlichen Kunstgeschichte, in allem
Wandel ein Gesetz wirksam zu erweisen. Es gäbe in der psychologischen
Natur des Menschen bestimmte Entwicklungen, die man im selben Sinne
wie das physiologische Wachstum als gesetzlich bezeichnen könnte.
Gewiß, nur hat dies nichts mit der Kunstgeschichte als Erfahrungs-
wissenschaft zu tun. Die Aufstellung von Gesetzen ist vorläufig noch mehr
kennzeichnend für den, der sie aufstellt, den Beschauer, als für die
Sachen. Der Sachforschung tut mehr not, beobachtend darauf hinzuarbeiten,
daß die Reihen von Kunde, Wesen und Entwicklung uns halbwegs voll-
ständig zum Bewußtsein kommen. Kürzlich, 1916, hat R. Hamann in den
Monatsheften für Kunstwissenschaften IX, 1 zu diesen Fragen vom Stand-
punkte der Allgemeinen Kunstwissenschaft Stellung genommen. Ich habe
den Eindruck, daß er noch mehr als Tietze (Methode), den er bekämpft,
auf veraltetem Boden steht. Gerade diese Vertreter des Faches zeigen
neuerdings, daß in der Art, wie die Geisteswissenschaften bis jetzt aner-
kannt arbeiten, der Nachweis von Gesetzen in den einzelnen Fächern
ganz ausgeschlossen ist. Mit Philosophie und Geschichte macht man keine
Wissenschaft; Fragen nach dem Gesetz aber können nur auf wissenschaft-
lichem Boden aufgeworfen und beantwortet werden.
Die Unreife der Geisteswissenschaften zeigt sich nicht nur darin, daß
sie an unrechter Stelle nach dem Gesetze fragen, sie zeigt sich vor allem
auch darin, daß sie selbst gesetzlos vorgehen, das heißt ganz nach Belieben
totschweigen, herabsetzen oder loben. Wenn ein Fachmann heute die ein-
schneidendsten Beobachtungen macht, so können die Humanisten die
Sache ruhig mit einem Achselzucken als erledigt erklären. Man ist nicht
an dem Wohl und Wehe der Wissenschaft, wohl aber an dem Bestände
ihrer überliefert humanistischen Einstellung beteiligt. Neurer gelten bei
uns mehr als in andern Lebensäußerungen als unbequeme Störenfriede
und werden einmütig von den Hütern der Rechtgläubigkeit und ihren
Dutzendhelfern abgewehrt, mag es sich auch in Wirklichkeit um die
völlige Erschütterung des bisherigen wissenschaftlichen Bodens handeln.
Welche Bewegung haben die Radiumforschung und die Relativitätstheorie
bei den Naturforschern ausgelöst, trotzdem sie keine Gesetze der exakten
Naturwissenschaften umstießen, sondern lediglich manche Abweichung
 
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