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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 26 (August 1910)
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Blümner, Rudolf: Frank Wedekind als Ästhetiker, [2]: Kritik seines Glossariums 'Schauspielkunst'
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Walden, Herwarth: Simson und Delila
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0210
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sie auf den Naturafismus, genau wie er, nennen
sie nie einen Namen; genau wie er, verwechseln
sie Naturalismus und Realismus. Und nur darin
gehen sie auseinander, daß sie Wedekind für den
Krassesten aller Naturalisten halten.

D i le ta n t ism us

Wedekind appelliert an die Standesehre der
deutsthen Schauspieler, es ihm in der Darstellung
seiner Rollen zuvorzutun.

1. Die Standesehre der Schauspieler

Es gibt keinen Stand der deutschen Schau-
spieler. Zwar kann kein Schuster oder Arzt be-
streiten, daß sein stümpernder Kollege dem Schuster-
oder Aerztestand angehört. Denn zum Schuster wird
man nicht erst durch die verblüffende Haltbarkeit
der Stiefelsöhlen oder zum Arzt durth den Nach-
weis' einer riChtigen Diagnose oder gar einer Hei-
lung. Aber so wenig jeder, der sein Leben der Be-
schmierung von Leinewand und der Lieferung für die
Oroße Berliner Kunstausstellung widmet, zu den
Malern zählt, so wenig Jemand, dadurch, daß er
Statuen für den Tiergarten zurechthämmert, zum
Bildhauer wird, ebensowenig ist es das Kriterium
eines Schauspielers, daß man an irgend einem
Theater als „Schauspieler“ engagiert ist. Die über-
wiegende Mehrheit der So Beschäftigten steht dem
Oeiste der Kunst fern. Oder kennt wohl 1 Wede-
kind einen Stand der deutschen Dramatiker? Wird
man zum deutsthen Dramatiker, wenn man Stücke
schreibt? Wer tut das nicht?

Sollte aber Wedekind an die Ehre jener appel-
lieren, die sich! durch die künstlerische Qualität
ihrer Leistungen verbünden fühfen dürften, dann
ruft er ein Forum an, dem anzugehören er Stlbst
für sich in Anspruch nimmt. Ein Regierungsrat,
der in seinen Mußestunden erstklässige Schühe her-
steflt, darf bestreiten, daßi er ein Schüster sei, und
afle Schuster der Welt bei ihreir SChusterehre auf-
fordern, bessere Schühe Zu erzeugen. Aber ein Dra-
matiker, der steit zehn Jahren Theater spielt und be-
bauptet, er stelle die Rollen seiner Stücke besser
dar als irgend ein anderer, prätendiert damit, ein
Schauspieler zu sein und darf die anderen nicht bei
der Standesehre zu einem Wettkampf heraus-
fordern. Denn selbst vvenn es sich unwidersprochen
feststeflen ließe, daß Wedekind der beste Darsteller
seiner Roflen ist, so würde sein Sieg den anderen
zur Ehre gereichen.

2. Wedekind als SchäUspieler

Begreifficherweise war Wedekind bisher nicht
zu überzeugen, daß er ein schleChter Darsteller,
insbesondere seiner eigenen Stücke sei. Man hätte
erkennen und ihm beweisen müssen, daß er über-
häupt kein SChaustpieler ist. Was er auf der Bühne
treibt, ist nichts afs ein „Zu Gehör bringen“ der
Rolle. Er teilt dem Publikum den Textmit. Weniger
monoton und längweilig als' andere Dichter, wenrt sie
ihre Werke vorltesen, sondern deutlich (unter beson-
derer Berücksichtigung des Konsonanten r) und ein-
dringlich. Vom Standpunkte der Schauspielkunst
aus ist aber damit noCh ! nichts getan. Man führt
kein Stück auf, damit es ! däs Publikum kennen lernt.
Dazu dient die Lektüre. Das Theater kann gar keine
Gedanken vermittelü, Sondern nur Klänge und Be-
wegungen. Wie ich nun allerdings weiß, wünscht
Wedekind gar nicht, daß seine Rotlen schauspie-
ferisch dargestellt werden. Er gehört zu jener Rich-
tung von Dramatikern, die den Schauspieter zu
einem temperamentvollen „Priester am Worte des
Dichters“, wie der kindische Ausdruck lautet,
machen wolfen. AIs Kunstwerk ist so etwas aber
undenkbar und das' Interesse an einer solchten Text-
wiedergabe kann nie künstferisCher Art sein. Bleibt
es afso leidlich interessant, Herrn Wedekind als
Temperament und in einem absonderl'ichten (auf
Reste sChweizerischen Idioms zurückführbären) Ton-
fafl sprechen zu hören, so reicht das nicht aus, einen
künstlerisChen Genuß zu gewähren oder das An-
sinnen zu rechtfertigen, Wedekind in der Mitteifung
des Textes zu überbieten. Darin blteibt er unüber-
troffen, mag es auch ! mit Schauspielkunst nichts,
zu tun haben. Dafür kann aber der Schauspieler
mehr: auf Grund der Rofle etwas Neues gestalten.
Denn die Dichtung ist für den Schauspiefer nicht
mehr Kunstwerk, sondern Rohstoff. Auf diesen
Standpunkt freilich kann Slich kein Dichter seinen
Werken gegenüber s'teflen. Er sieht, befangen in der

Zeugungs-Idee, nie das vollendete Werk und weiß
wenig von der Unendfichkeit der Darsteliungsmög-
lichkeiten. So glaubt er, seine Idee sei schauspiele-
risch projizierbar und verlangt, daß der Schau-
spieler hörbar und sichtbar maChe, was der Drama-
tiker vielieicht gewollt hat, was aber im Drama gar
nicht zu finden ist.

Darum k a n n der Dramatiker seine eigenen
Stücke nicht spiefen, sondern höchstens seine Ideen
interpretieren.

E t ce tera

Was Wedekinds Broschüre noch enthält, bringt
nichts Neues. Daß seine Stücke in den meisten
Städten schfecht gespielt werden, mag man ihm
gl'auben. Nur ist das nicht ihr spezielles Schicksal,
sondern eine aflgemeine Erscheinung. Vor allen
Dingen müßte Wedekind die Erfahrung gemaCht
lraben, daß der Sc'hauspielter und Regisseur Wede-
kind noch nichts für den Dichter Wedekind geleistet
hat. Er ist selbst schuld, wenn die 1 mangelnde Plastik
seiner Clown-Interpretationen keinen Begriff von
der Gestaltungsmöglichkeit seiner Werke gibt. Wer
wie ich den Dramatiker Wedekind verehrt, muß
versuchen, seinen Einffuß auf Darstellung und Ins-
zenierung zu efiminieren.

* *

*

Jene Herausforderung aber, ihn in der Darstel-
lung seiner Rollen zu übertreffen, nefime ich an.

Simson und Delila

Ich biflige das Bestreben der Schauspieler, ihre
Kunst alä eine selbständige zu empfinden. Sie
wollen nicht nur „Diener des Dichters“ sein. Um
so weniger, afs' sie echter Dichtung fast ohne Aus-
nahme ■vterständnisfos gegenüberstehen, wol aber
fühlen, daß sie rnehr bedeuten, als das übliche
Wortgeschmeiß. Man kann sich und andere nicht
mit Fliegenflügeln erheben. Ist das Theater aber
eine Kunst für sich 1, sind Schauspieler Künstler,
dann müssen ihre Leistungen auch als stehöpferische,
und nur als solc'he, gewertet werden.

Sofort sCheidet alles aus, was sonst dem The-
ater afs wichtig gilt: die schöne Figur, die edle
Gestal't, das sonore Organ. Das FacKspielen ist
erledigt. Die Mensdhheit wird nicht mehr in zehn
bis zwanzig Abteifungen eingeteilt, in Heldenväter
und Heldenmütter, in Bonvivants, Naive, komisdhe
Mütter und jugendliche Liebhaber. Was 1 selbst die
Theatererfahrung hätte l'ängst erkennen lassen
müssen. Die Kunst ist die Todfeindin der soge-
nannten „Wahrheit des Lebens“. Nicht das per-
sönliche Erlebnis spielt die Rolle, sondern die künst-
lerische PersönliChkeit. Mußte etwa Hedwig Wangel
erst fünfzig Jahre aft werden, um in das „ältere
Fae'h“ überzugehen? Blieb nicht Ida Orloff die
eChte Hilde Wangel, trotzdem sie Mutter wurde?
Zerstörte das Alter den Hamlet des Josef Kainz?
Die FrauenSChaft der Agnes Sorma ihr Rautende-
fein ? Ist die Rhodope der Tilla Durieux nicht eben-
so glaubhaft, wie ihr BordellmädChen in dem
Drama „Gott der Rache“? Hängt die Komik an
dem dünnen oder dicken Bauch des 1 Darstel'lers ?
Oder die Liebe an den LoCken? Oder das Helden-
tum an den Waden? Muß Leidenschäft durchaus
brüllen und Schwermut seufzen und Entsagung
lispeln ?

Sofchte Scherze wirken auf der Marionetten-
bü'hne künStlterich glaubhaft, weil sie den Pol einer
Gefühfslinie sinnliCh wahrnehmbar festhalten. Und
wirken aus dem gfeiChen Grund grotesk: Fließendes
wird verkörpert.

Wifl der SChauspieler als Künstler gelten, so
giebt e !s ! nur eine Voraussetzung für seine Tätigkeit:
die künstlterisChe PersönliChkeit. Das heißt: die
SChäffensfähigkeit aus dem eigenen Ich. Er darf
niCht photographieren wollen, also Gesehenes
fixieren, auch wenn er es noch so taltentvoll macht.
Sich verstellen ist keine Kunst. Unpersönliches in-
teresSiert niCht. Der Künstfer ist aktiv, er kann
SicK nicht vom Objekt beherrschen, vergrößern oder
verkfeinern lassen. Er erfiillt das Objekt, das durch
ihn sich zum Subjekt gestaftet. So erklärt sich
natürlich die vtersChiedene „Auffassung“ derselben
Rolle durch gleich starke Kiinstler-Schäuspieler.

DieSte Ansicht bestätigt mir die Uraufführung

deS fälSchlich Tragikomödie genannten Werkes von
Sven Lange „SimSon und Defila“ im Deutschen
Theater zu Berfin. Persönlichkeiten: L u c i e H ö f -
lich, Jakob Tiedtke, Rudolf Blümner;
Talent: Paul Biensfeldt; talentlos: Josef Klein und
Harry Liedtke. Diese drei MögfiChkeiten des Schau-
Spielters. Denn Talentlosigkeit hindert nicht am
Theatefspielen, sie ist dem begabten Regisseur so-
gar Stehr willkommen, die anderri beiden Kategorieen
empfindet er hinderlkh. (WelCher gute Dirigent
würde stein Orchtester mit Solisten besetzen!) Man
muß Sich dieses Drama wegen Lucie Höffich an-
stehten. Sie ist eine Künstlterin, denn sie spielt nur
sich'; sie besitzt den Reichtum einer Persönlichkeit.
Und sie ist eine Meisterin der Beschränkung, was
Sagt: sie kann organisdf gestaften. Aus ihrer Fülle
das wähfen, was dem ZweCk des e i n e n Kunst-
werks dient. Man betraChte die Zeichnungen Von
Oskar KokosChka. Jede btetont e i n e Linie, obwol' er
tausende kennt. (Wagt es ein Schwacher, ein Taltent,
so entsteht ein kunstgewerbliches Ornament.) Lucie
HöffiCh betont in jeder Zeichnung eine Linie. Die
Karghteit der Füfle. Grade in diester Rolle einer
SChauspielterin Zeigt sich iihr Künstlertum. Sie ist
das Weib. Sie versteflt sich nicht als „Schau-
spieferin“, sie hebt nur diese Linie im Typus Weib
hervor, die InStinkte und Gefühfe, die am stärksten
in die EfsCheinungswelt treten. Sie kann aber
nicht vergessen, daß in jedem Menschen afle vor-
händen sind, weif sie eben eine küjnstlerisChe Per-
sönlichkeit, weil sie eben Lucie Höflich ist.

Ein einheitliches Kunstwerk schuf auch Jakob
Tiedtke ate 1 Theaterdirektor. Einige Kritiker schrie-
ben, sb ein TKeaterdirektor wäre unwahrsCheinfich.
Ja, meine Herren, aber Tiedtke war es’ nicht. SChfieß-
fich kann doch auCh ein Theaterdirektor nicht an-
dauernd hriren oder Gestehäfte machen. Er wird
siCh doch geltegentlich eventuell ein Gefühlchen
lteisten dürfen. Und abgesehten von der kühnen Idee
des Dichters: Tiedtke gläube ich diesen Menschen.
Es ! ist doch' nicht ausgeschlossen, daß jemand aus
InteresSe am Theater Direktor wird. Was Tiedtke
mit der nun stehon des öfteren erwähnten e i n e n
Linie betonte. Man giebt diestem Könner Iteider nur
„Episoden“ zu spielten. Er weiß sich zu bescheiden.
Und eine gute Schwafz-Weiß-Zeichnung ist kein
geringeres 1 Kunstwerk afe ein Oelgemälde, und mehr,
ate ein schlechtes.

Rudoff Blümner kämpft mit der Schwindsucht
steiner Rollen, ein kräftiger Körper gegen die Blut-
fosigkeit der eingesetzten Lungen. Er weiß sic'h
nicht zu bescheiden. Eine künstlerische Persönlich-
keit, die sich im Drang zur Offenbarung seiner
Füfle verzehrt. Und die Einheit verzerrt. Er spielt
einen RegisSeur. Auf zehri Worte hundert NuanCen.
Ein Ausköstenwoflen der gegebenen Momente. Und
jede Nuance seines Ichs ist stark genug, diese e i ne
btewüßte Linie zu zeichnen. Ohne Materiaf geht es
niteht in der KunSt. Bfümner in solchen Rollen wirkt
auf miteh wie ein Malter, der alle Farben und keine
Leinwand besitzt. ICh ! wünsche Ihnen, lieber Freund,
endfiCh die Rolle, die Ihrer künstlerischen Kraft
zukommt.

Biensfefdt ist nur ein Talent. Er täuscht Fülle
durCh Buntheit vor. In jeder Szene ein anderer,
weif er niemand ist. Alles seh'r talentvoll gemacht,
aber niCht ges'taltet. Er ißt zum Beispiel mit der
Behagfichkeit des' Oroßkaufmanns, dessen Gegner
er darzusteifen hat. Trotzdem nac'h dem Willen des
DiCh'ters seine Eßl'ust äußerster Unruhe entspringt.
Biensfefdt hät aber mal gesehen, wie jemand ko-
misch 1 ist. Das kopiert er, man facht und sein Erfolg
ist da. Wenn zwei essen, ist es aber nicht dasselbe.
Die phbtographische Wirkung versagt selten. Und
Tafente werden s'Chneller herausgefunden, als Per-
sönfichkeiten.

Die Tafentlosten werden am Thteater so ver-
wertet, daß ihr Manko (meistens auch hoch ein
körperfiches) als Eigenschaft gilt. Karl Kraus prägte
für dieste Herrschäften das schöne Wort: Defekt-
sChiauspiefer. Ein guter Regisseur kann mit ihnen die
stehönsten Effekte erzielten, wenn er ihnen die rich-
tigen Plätze anweist. Im vorliegenden Fall spricht
Herr Kfein trocken, wie er ist. Als ob nicht Phi-
fisterium auch' gestaltet, Nüchternheit dargesttellt
werden muß. Wie Dummheit. Das kann Herr
Liedtke nie begreifen.

Regie: Emif Geyer.

Ueber das ! Drama in der nächsten Nummer.

Herwarth' Wafden

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