Umfang acht Seiten
Einzelbezug 20 Pfennig
DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE
Redaktion und Verlag: Berlin W 9 / Potsdamer Straße 18
Fernsprecher Amt Lützow 4443 / Anzeigenannahme durch
den Verlag und sämtliche Annoncenbureaus
Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN
Vierteljabrsbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Anzeigen-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig
DRITTER JAHRGANG
BERLIN MAI 1912
NUMMER 110
Inhalt: ELSE LASKER-SCHÜLER: Boas / ALFRED DÖBLIN: Die Bilder der Futuristen / ARNO HOLZ: Phantasus / PABLO PICASSO:
Zeichnung / NOTIZEN / BEACHTENSWERTE BÜCHER
Pablo Picasso: Zeichnung
Boas
Ruth sucht überall
Nach goldenen Kornblumen
An den Hütten der Brothüter vorbei —
Bringt süßen Sturm
Und glitzernde Spielerei
Ueber Boas Herz;
Das wogt ganz hoch
Ueber seine Korngärten
Der fremden Schnitterin zu.
Else Lasker-Schüler
Die Bilder der Futuristen
Von Alfred Döblin
Einige Bemerkungen. Im voraus etwas über
die Betrachtung dieser Bilder. Für eine Sinfonie,
ein Quartett, ein Drama gilt das Hineinhören,
Hineinlesen als selbstverständlich; ja man sieht
sogar die Schwierigkeit des Verständnisses, die
Langsamkeit des Hineinwachsens in das Kunstwerk
als Charakteristikum, als Index seiner Güte an.
Für die Malerei und Plastik nicht so; die Erleuch-
tung soll nur so von den Wänden knallen. Man
passiert eine Ausstellung; mit jeder Kopfdrehung
holt man sich einen Kunstwert herunter, wie die
Jungens Spatzen beim Schützenfest Hier die
Grundnegation der Futuristen. Sie verlangen Zeit
für sich. Jedes Bild ist ein Gedicht, eine Novelle,
ein Drama; man liest das nicht in zwei Minuten.
Man braucht schon mehr Zeit bei den Futuristen
als bei den Pointillisten und Impressionisten; mit
den vier Schritten an die gegenüberliegende
Wand und „rechtsum kehrt" ist es nicht getan.
Ein Bild wpl gedeutet sein. Es stellt eine Auf-
gabe. Für eine Mark Eintritt bekommt man nicht
sechzig Kunstwerte, sondern sechzig Aufgaben.
Eine Ausstellung ist keine Stehbierhalle. Man
kann futuristische Bilder nicht in Ullsteinausgaben
kaufen. Das Kunstwerk verlangt Disziplin, Ein-
dringen, Bemühung, Bemühung. Dies ist es,
daran fehlt es, daher alle Mißverständnisse. Die
Bemühung fehlt; der Verderb des Publikums
durch zehnmal durchgekaute Kost; seine Ge-
wöhnung an den breitgetretenen Quark. Der Zu-
schauer hat vor dem Bild in jeder Hinsicht das
Maul zu halten; vor das Urteil haben die Götter
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Einzelbezug 20 Pfennig
DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE
Redaktion und Verlag: Berlin W 9 / Potsdamer Straße 18
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den Verlag und sämtliche Annoncenbureaus
Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN
Vierteljabrsbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Anzeigen-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig
DRITTER JAHRGANG
BERLIN MAI 1912
NUMMER 110
Inhalt: ELSE LASKER-SCHÜLER: Boas / ALFRED DÖBLIN: Die Bilder der Futuristen / ARNO HOLZ: Phantasus / PABLO PICASSO:
Zeichnung / NOTIZEN / BEACHTENSWERTE BÜCHER
Pablo Picasso: Zeichnung
Boas
Ruth sucht überall
Nach goldenen Kornblumen
An den Hütten der Brothüter vorbei —
Bringt süßen Sturm
Und glitzernde Spielerei
Ueber Boas Herz;
Das wogt ganz hoch
Ueber seine Korngärten
Der fremden Schnitterin zu.
Else Lasker-Schüler
Die Bilder der Futuristen
Von Alfred Döblin
Einige Bemerkungen. Im voraus etwas über
die Betrachtung dieser Bilder. Für eine Sinfonie,
ein Quartett, ein Drama gilt das Hineinhören,
Hineinlesen als selbstverständlich; ja man sieht
sogar die Schwierigkeit des Verständnisses, die
Langsamkeit des Hineinwachsens in das Kunstwerk
als Charakteristikum, als Index seiner Güte an.
Für die Malerei und Plastik nicht so; die Erleuch-
tung soll nur so von den Wänden knallen. Man
passiert eine Ausstellung; mit jeder Kopfdrehung
holt man sich einen Kunstwert herunter, wie die
Jungens Spatzen beim Schützenfest Hier die
Grundnegation der Futuristen. Sie verlangen Zeit
für sich. Jedes Bild ist ein Gedicht, eine Novelle,
ein Drama; man liest das nicht in zwei Minuten.
Man braucht schon mehr Zeit bei den Futuristen
als bei den Pointillisten und Impressionisten; mit
den vier Schritten an die gegenüberliegende
Wand und „rechtsum kehrt" ist es nicht getan.
Ein Bild wpl gedeutet sein. Es stellt eine Auf-
gabe. Für eine Mark Eintritt bekommt man nicht
sechzig Kunstwerte, sondern sechzig Aufgaben.
Eine Ausstellung ist keine Stehbierhalle. Man
kann futuristische Bilder nicht in Ullsteinausgaben
kaufen. Das Kunstwerk verlangt Disziplin, Ein-
dringen, Bemühung, Bemühung. Dies ist es,
daran fehlt es, daher alle Mißverständnisse. Die
Bemühung fehlt; der Verderb des Publikums
durch zehnmal durchgekaute Kost; seine Ge-
wöhnung an den breitgetretenen Quark. Der Zu-
schauer hat vor dem Bild in jeder Hinsicht das
Maul zu halten; vor das Urteil haben die Götter
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