das Verständnis und nicht das Maul gesetzt. Kein
Kunstwerk fällt vom Himmel; wieviel weniger ein
Kunstverständnis. Der erste Eindruck besagt so
wenig wie der zehnte; erst der zwanzigste bringt
manchmal einen Dämmer. Der Zuschauer hat
vor dem Bild zu lernen, sich einzufühlen; er hat
es angesichts von Kunstwerken durchaus als
Gnade zu empfinden, hier zugelassen zu werden.
Kein Kunstfortschritt wird auch der Masse etwas
bedeuten — mag sie ihre Wohnungen in Box-
hagen-Rummelsburg oder in der Lennestraße auf-
schlagen —, wenn ihr nicht von Kindheit ein-
gebläut wird durch Lehrer, Kritiker, Kenner:
daß sie ist, was sie ist, nämlich dumm, kaum
fähig aufzunehmen, zum Kretinismus geneigt, ein
Hemmnis jedes wahrhaften Fortschritts, ein
Greuel jedes Musischen; daß die einzigen Men-
schen die Könner jeder Art sind, an die sie sich
zu drängen hat, hinter denen sie herzukriechen
hat, selbst wenn sie sie anspeien und treten.
*
Der Futurismus ist kein Prinzip und hat kein
Prinzip. Aber im Plural: er hat Prinzipien, also
elementare Einsichten. Der Futurist lehnt zum
Beispeil als Maler die Theatralik ab. Es ist im
Grunde fabelhaft, daß den Malern nicht ihre Be-
ziehung zu den Kulissenschiebern längst aufge-
fallen ist. Vor dem Bild sitzt ein Parkett; jedes
Bild „stellt sich'' vor einem Parkett. Dies ist
grundschlecht; entspricht nicht der Würde der
Kunst, ihrer Heimlichkeit, Einsamkeit, Versunken-
heit. Das Alpha des Futuristen: ecrasez l'infame,
nämlich den Zuschauer. Das Bild hat sein Zen-
trum in sich. Sollte das schon als enorme Neue-
rung oder als Dubiosum betrachtet werden, wenn
das Bild wie mit Röntgenstrahlen gesehen (er-
scheint, durchlöchert von vorn nach hinten, durch-
rieselt mit Licht von allen Seiten, transparent die
Menschen, die massiven wohlgerundeten Mauern ?
Das ist keine Naturwissenschaft, kein frag-
würdiges Recht des Malers, sondern das Recht,
seine Phantasie zu sehen, wie und wohin sie
wilP-^ nicht wie Herr Müller, der verblüfft vor
dem Bild steht; — es ist ein triumphierender
Faustschlag seiner Seele auf ihr ureigenes Gebiet,
das sie wieder beschlagnahmt. Denn — es ist
keine Neuigkeit — die Malerei ist eine Kunst;
die Augen sind blind, die Ohren sind taub; nur
die Seele sieht und hört.
Eine Szene zu malen lohnt nicht der Mühe.
Nur unter Umständen, unter erschwerten Glücks-
umständen lohnt es. Wer als Dichter oder rou-
tinierter Skribent ist fähig, in eine knappe Seite
den Reichtum eines mächtigen Gefühls zu-
sammenzupressen ? Wer kann da mehr als Stich-
worte geben ? Und wer es fertigbringt, hat sicher
nur ein Kunststück gemacht. Seht die vielen der
älteren Maler an: diese krampfhafte Bemühung
der guten unter ihnen, in jedem Punkte intensiv
und lebendig zu sein, jedes Eckchen mit Empfin-
dung auszustatten.' Dieses Aengstigen; und der
Raum ist so wahnsinnig klein; und zum Schluß
die Erkenntnis: es ist nicht halb, nicht ein viertel,
.was ich wollte. Mit einem Ruck macht sich der
Ruturist Platz, stößt den Alb von seiner Brust.
Worauf kommt es doch an? Nicht auf die ent-
seelte blöde Szene, das Objekt, sondern auf —
mich, auf mich, auf mich und auf nichts weiter.
WaS sind Wellen, Berge, Gesichter, Farben, Linien
gegen mich! Er ist nicht Nachschöpfer, sondern
Neuschöpfer. Die Beseeltheit ist alles. Und so
haben alle alten und guten Meister gedacht. Wie
lächerlich die malerischen Prinzipien, die formalen
Zusammenhänge, wo die Wucht, die Süße, die
Zärtlichkeit und der Jähzorn des Gefühls
sprechen will 1 Sehen Sie das Bild B o c c i o n i s :
das Lachen. Der Maler tanzt wie ein Trunkener
um den Hut einer Frau; immer wieder kehrt der
Hut, gesehen von oben, von rechts, von links,
schräg, aufgestellt. Der Maler sieht sich nicht
satt an dem spiegelnden Marmortisch, der wie
ein Leitmotiv durch alle Elane des Bildes! wandert;
und immer wieder zünden zwei Hände über einer
roten Flamme eine Zigarette an. Severini sieht
das Gesicht seiner ruhelosen Tänzerin veilchen-
farben zweimal über die Fläche gehen; sie dreht
sich in Ganzfigur; den Zylinder im Nacken sieht
ihr ein Kavalier zu, und aus dem Boden des
Bildes stechen zwei schwefelgelbe Katzenaugen.
Kein Vordergrund, kein Hintergrund, nicht Zeit,
nicht Raum; auf dem Urgrund liegt alles ge-
mächlich, — und so malt man ein Porträt!
*
Der Maler hat nicht die eine Dimension,
die Fläche, die er zu zwei, drei umtauschen muß,
sondern unendlich viel, sondern genau so viel,
als ihm seine Phantasie gewährt. Der Eisenbahn-
zug saust über die eisernen Schienen; man sieht
ihn nicht; man sieht nur die schrägen Tele-
graphenglocken ; verzerrte, apathische, müde Ge-
sichter fliegen durch den trüben Wind, gespen-
sterhaft. Zeit und Raum verschiebt sich. Ach es
ist so billig, das alles literarisch, unmalerisch zu
nennen. Wie wenig nennt Ihr malerisch, wie
dürftig und armselig ist für Euch diese Kunst.
Weil Ihr nicht das Freiheitsgefühl des Schaffen-
den kennt, in dem sich alle Kunstwerke recht-
fertigen, den psychischen Grund, aus dem alle
Neuerungen auftauchen. Dieser psychische
Grund, der wie ein schlagendes Wetter ist; diese
stahlharten Kondorflügel, für deren schneidendes
Tönen und Rauschen sich erst die Ohren schärfen
müssen. Ist nicht, was man auf manchen dieser
Bilder sieht, wie das Ei des Kolumbus? Nichts
ist uns von der Literatur so geläufig als die so-
genannte Bildlichkeit der Sprache; aber gerade
für die, deren Sache Bildlichkeit von Natur ist,
galt hier das „Hände weg!" Sie mußten natur-
wissenschaftlich exakt sein, mußten sich wie ge-
schlagene Kinder hinter die Objekte verstecken.
Wir von der Literatur tauchen beherzt durch alle
Meere der Welt, über alle Dünen weg; huschen
vom König Rampsenit zum großen Cäsar, und
lehnen uns, wenn unser Herz es verlangt, hin-
unter zur kleinen Dirne Lulu. Unsere Worte
können wie Kuheuter strotzen von Fülle, die
stärker sättigt als: Milch. Aber sie, die Maler,
dürfen sich nur anhangsweise äußern, oder
zwischen den Zeilen. Wie oft ist schon gesagt,
daß „die Erde unter den Füßen der tobenden
Masse zu leben anfängt"', wie echt ist diese Emp-
findung — und welcher Maler hat bisher dies
Erdbeben, leibhaftig, rund und erschütternd, ge-
malt ? Ich habe viele Schlachtfelder auf der Lein-
wand gesehen, aber ich sah mich vergebens um
nach der Schlacht zwischen all den Soldaten, dem
Pulverdampf, den schwarzen Kanonen. Warum
haben sie nur nicht den Mut zu sich, zu ihrer
Phantasie, zu ihrem Erlebnis? Bekennen, beken-
nen ! Das Entsetzen, das Mitleid, die Wut, das
Grauen in Euch, heraus damit auf die Leine-
wand. Die Soldaten da sind aus Zinn gegen
Euch, die Kanonen nur aus Holz gegen Euch,
die die einzigen in dieser Schlacht aus Eisen sind.
Vom Leder das Eisen! Seid Ihr nicht mehr als
Maler — nämlich Künstler? Die Revolution von
Russolo: Mit ausgestreckten Armen ein Zug von
tausend Menschen, ein rasender, unheimlicher
Trupp, aus dem rote Feuer brechen; die Häuser
versinken in Grau, die Häuser knicken vor ihrem
Ansturm ein und flattern wie vom Wind zer-
blasen über ihnen, vor ihnen, neben ihnen, nicht
mehr als eine wesenlose Lichterscheinung. Seht
den „Pan-Pan-Tanz"! Was ist alle Wirklich-
keit, zum tausendsten Male, wo es sich' um Kunst
handelt, um eine andere, freiere, stolzere Realität,
um die des triumphierenden Menschen? Es ist
nicht geschehen mit der Tat des Prometheus,
der Ueberwindung der Natur, ihrer Einspannung
in Maschinen; es gibt noch mehr Lasten zu ziehen
als Holzfuder und Steinblöcke. Nicht mehr hat
alle Natur und Wirklichkeit dem Künstler zu
sein, als der starke Gaul, den er peitscht, der ihm
seinen schweren, schweren, oft so schweren
Wagen zieht: aber alle Werte ruhen auf diesem
Wagen. Mit Hü und Hott zieht er gerade den
Wagen, aber wenn der Künstler will, so kann er
fliegen, und als eine Bremse hinter dem Ohr des
Gaules summen, und die Schindmähre stechen
und brummen.
Der Futurismus ist ein großer Schritt.
Er stellt einen Befrejungsakt dar. Er ist keine
Richtung, sondern eine Bewegung. Besser: er ist
die Bewegung des Künstlers nach vorwärts. Es
kommt auf die einzelnen Werke nicht an. Es
ist zum jammern, daß das Land der „Innerlich-
keit" sich den Mut zu sich von außen einblasen
lassen muß. Aus dem Lande der Farben und
schönen Menschen kommt die Lehre zu uns, zu
uns: „die Seele ist alles". Unsere Maler machen
Experimente, sie studieren die Gesetze) der Farben,
Linien, Flächen. Sie sind ehrlich — es ist zum
Lachen — während das Haus brennt.
Ich bin kein Freund der großen und auf-
geblasenen Worte. Aber den Futurismus unter-
schreibe ich mit vollem Namen und gebe ihm ein
deutliches Ja.
Notizen
In dem Beitrag von Dr. S. Friedlaender (Num-
mer 107, Seite 22) sind folgende Druckfehler zu
berichtigen:
Hier haben wir die verhängnisvolle Alter-
native der Werte.
Sein Philosophieren trägt den Januskopf,
dessen entgegengesetzte Antlitze Diesseits
und Jenseits toto coelo divergieren lassen.
Er operiert durchweg mit dieser Gegen-
satztypik.
Um ein Problem praktisch lösbar zu machen,
braucht man es theoretisch weder bejahend
noch verneinend zu lösen. Gesetzt
zum Beispiel...
Da der Beitrag von Arno Holz aus künst-
lerischen Gründen in einer Nummer gebracht
werden muß, kann die Fortsetzung des Romans
„Der schwarze Vorhang" von Alfred Döblin erst
in der nächsten Nummer erfolgen. Ebenso mußte
der Holzschnitt ausfallen.
Die Herren Harold Bengen, Cesar Klein,
Moriz Melzer, Wilhelm Morgner, Richter-Berlin,
Georg Tappert, von denen Holzschnitte in ver-
schiedenen Nummern dieser Zeitschrift ver-
öffentlicht wurden, sind Mitglieder der Neuen
•’S e z e s s i o n.
Die Zeichnungen von Oskar Kokoschka in
den Nummern 103 bis 106 sind in dem Buch
Tu butsch von Albert Ehrenstein enthalten,
erschienen bei Jahoda & Siegel, Wien.
Beachtenswerte Bücher
. Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt
JEAN THOGORMA
Lettres sur la Poesie
L’Esthetique virante
Paris / E. Basset & Cie. / Editeurs
F. T. MARINETTI
La Battaglia di Tripoli
Mailand / Editione Futuriste di „Poesia“
42
Kunstwerk fällt vom Himmel; wieviel weniger ein
Kunstverständnis. Der erste Eindruck besagt so
wenig wie der zehnte; erst der zwanzigste bringt
manchmal einen Dämmer. Der Zuschauer hat
vor dem Bild zu lernen, sich einzufühlen; er hat
es angesichts von Kunstwerken durchaus als
Gnade zu empfinden, hier zugelassen zu werden.
Kein Kunstfortschritt wird auch der Masse etwas
bedeuten — mag sie ihre Wohnungen in Box-
hagen-Rummelsburg oder in der Lennestraße auf-
schlagen —, wenn ihr nicht von Kindheit ein-
gebläut wird durch Lehrer, Kritiker, Kenner:
daß sie ist, was sie ist, nämlich dumm, kaum
fähig aufzunehmen, zum Kretinismus geneigt, ein
Hemmnis jedes wahrhaften Fortschritts, ein
Greuel jedes Musischen; daß die einzigen Men-
schen die Könner jeder Art sind, an die sie sich
zu drängen hat, hinter denen sie herzukriechen
hat, selbst wenn sie sie anspeien und treten.
*
Der Futurismus ist kein Prinzip und hat kein
Prinzip. Aber im Plural: er hat Prinzipien, also
elementare Einsichten. Der Futurist lehnt zum
Beispeil als Maler die Theatralik ab. Es ist im
Grunde fabelhaft, daß den Malern nicht ihre Be-
ziehung zu den Kulissenschiebern längst aufge-
fallen ist. Vor dem Bild sitzt ein Parkett; jedes
Bild „stellt sich'' vor einem Parkett. Dies ist
grundschlecht; entspricht nicht der Würde der
Kunst, ihrer Heimlichkeit, Einsamkeit, Versunken-
heit. Das Alpha des Futuristen: ecrasez l'infame,
nämlich den Zuschauer. Das Bild hat sein Zen-
trum in sich. Sollte das schon als enorme Neue-
rung oder als Dubiosum betrachtet werden, wenn
das Bild wie mit Röntgenstrahlen gesehen (er-
scheint, durchlöchert von vorn nach hinten, durch-
rieselt mit Licht von allen Seiten, transparent die
Menschen, die massiven wohlgerundeten Mauern ?
Das ist keine Naturwissenschaft, kein frag-
würdiges Recht des Malers, sondern das Recht,
seine Phantasie zu sehen, wie und wohin sie
wilP-^ nicht wie Herr Müller, der verblüfft vor
dem Bild steht; — es ist ein triumphierender
Faustschlag seiner Seele auf ihr ureigenes Gebiet,
das sie wieder beschlagnahmt. Denn — es ist
keine Neuigkeit — die Malerei ist eine Kunst;
die Augen sind blind, die Ohren sind taub; nur
die Seele sieht und hört.
Eine Szene zu malen lohnt nicht der Mühe.
Nur unter Umständen, unter erschwerten Glücks-
umständen lohnt es. Wer als Dichter oder rou-
tinierter Skribent ist fähig, in eine knappe Seite
den Reichtum eines mächtigen Gefühls zu-
sammenzupressen ? Wer kann da mehr als Stich-
worte geben ? Und wer es fertigbringt, hat sicher
nur ein Kunststück gemacht. Seht die vielen der
älteren Maler an: diese krampfhafte Bemühung
der guten unter ihnen, in jedem Punkte intensiv
und lebendig zu sein, jedes Eckchen mit Empfin-
dung auszustatten.' Dieses Aengstigen; und der
Raum ist so wahnsinnig klein; und zum Schluß
die Erkenntnis: es ist nicht halb, nicht ein viertel,
.was ich wollte. Mit einem Ruck macht sich der
Ruturist Platz, stößt den Alb von seiner Brust.
Worauf kommt es doch an? Nicht auf die ent-
seelte blöde Szene, das Objekt, sondern auf —
mich, auf mich, auf mich und auf nichts weiter.
WaS sind Wellen, Berge, Gesichter, Farben, Linien
gegen mich! Er ist nicht Nachschöpfer, sondern
Neuschöpfer. Die Beseeltheit ist alles. Und so
haben alle alten und guten Meister gedacht. Wie
lächerlich die malerischen Prinzipien, die formalen
Zusammenhänge, wo die Wucht, die Süße, die
Zärtlichkeit und der Jähzorn des Gefühls
sprechen will 1 Sehen Sie das Bild B o c c i o n i s :
das Lachen. Der Maler tanzt wie ein Trunkener
um den Hut einer Frau; immer wieder kehrt der
Hut, gesehen von oben, von rechts, von links,
schräg, aufgestellt. Der Maler sieht sich nicht
satt an dem spiegelnden Marmortisch, der wie
ein Leitmotiv durch alle Elane des Bildes! wandert;
und immer wieder zünden zwei Hände über einer
roten Flamme eine Zigarette an. Severini sieht
das Gesicht seiner ruhelosen Tänzerin veilchen-
farben zweimal über die Fläche gehen; sie dreht
sich in Ganzfigur; den Zylinder im Nacken sieht
ihr ein Kavalier zu, und aus dem Boden des
Bildes stechen zwei schwefelgelbe Katzenaugen.
Kein Vordergrund, kein Hintergrund, nicht Zeit,
nicht Raum; auf dem Urgrund liegt alles ge-
mächlich, — und so malt man ein Porträt!
*
Der Maler hat nicht die eine Dimension,
die Fläche, die er zu zwei, drei umtauschen muß,
sondern unendlich viel, sondern genau so viel,
als ihm seine Phantasie gewährt. Der Eisenbahn-
zug saust über die eisernen Schienen; man sieht
ihn nicht; man sieht nur die schrägen Tele-
graphenglocken ; verzerrte, apathische, müde Ge-
sichter fliegen durch den trüben Wind, gespen-
sterhaft. Zeit und Raum verschiebt sich. Ach es
ist so billig, das alles literarisch, unmalerisch zu
nennen. Wie wenig nennt Ihr malerisch, wie
dürftig und armselig ist für Euch diese Kunst.
Weil Ihr nicht das Freiheitsgefühl des Schaffen-
den kennt, in dem sich alle Kunstwerke recht-
fertigen, den psychischen Grund, aus dem alle
Neuerungen auftauchen. Dieser psychische
Grund, der wie ein schlagendes Wetter ist; diese
stahlharten Kondorflügel, für deren schneidendes
Tönen und Rauschen sich erst die Ohren schärfen
müssen. Ist nicht, was man auf manchen dieser
Bilder sieht, wie das Ei des Kolumbus? Nichts
ist uns von der Literatur so geläufig als die so-
genannte Bildlichkeit der Sprache; aber gerade
für die, deren Sache Bildlichkeit von Natur ist,
galt hier das „Hände weg!" Sie mußten natur-
wissenschaftlich exakt sein, mußten sich wie ge-
schlagene Kinder hinter die Objekte verstecken.
Wir von der Literatur tauchen beherzt durch alle
Meere der Welt, über alle Dünen weg; huschen
vom König Rampsenit zum großen Cäsar, und
lehnen uns, wenn unser Herz es verlangt, hin-
unter zur kleinen Dirne Lulu. Unsere Worte
können wie Kuheuter strotzen von Fülle, die
stärker sättigt als: Milch. Aber sie, die Maler,
dürfen sich nur anhangsweise äußern, oder
zwischen den Zeilen. Wie oft ist schon gesagt,
daß „die Erde unter den Füßen der tobenden
Masse zu leben anfängt"', wie echt ist diese Emp-
findung — und welcher Maler hat bisher dies
Erdbeben, leibhaftig, rund und erschütternd, ge-
malt ? Ich habe viele Schlachtfelder auf der Lein-
wand gesehen, aber ich sah mich vergebens um
nach der Schlacht zwischen all den Soldaten, dem
Pulverdampf, den schwarzen Kanonen. Warum
haben sie nur nicht den Mut zu sich, zu ihrer
Phantasie, zu ihrem Erlebnis? Bekennen, beken-
nen ! Das Entsetzen, das Mitleid, die Wut, das
Grauen in Euch, heraus damit auf die Leine-
wand. Die Soldaten da sind aus Zinn gegen
Euch, die Kanonen nur aus Holz gegen Euch,
die die einzigen in dieser Schlacht aus Eisen sind.
Vom Leder das Eisen! Seid Ihr nicht mehr als
Maler — nämlich Künstler? Die Revolution von
Russolo: Mit ausgestreckten Armen ein Zug von
tausend Menschen, ein rasender, unheimlicher
Trupp, aus dem rote Feuer brechen; die Häuser
versinken in Grau, die Häuser knicken vor ihrem
Ansturm ein und flattern wie vom Wind zer-
blasen über ihnen, vor ihnen, neben ihnen, nicht
mehr als eine wesenlose Lichterscheinung. Seht
den „Pan-Pan-Tanz"! Was ist alle Wirklich-
keit, zum tausendsten Male, wo es sich' um Kunst
handelt, um eine andere, freiere, stolzere Realität,
um die des triumphierenden Menschen? Es ist
nicht geschehen mit der Tat des Prometheus,
der Ueberwindung der Natur, ihrer Einspannung
in Maschinen; es gibt noch mehr Lasten zu ziehen
als Holzfuder und Steinblöcke. Nicht mehr hat
alle Natur und Wirklichkeit dem Künstler zu
sein, als der starke Gaul, den er peitscht, der ihm
seinen schweren, schweren, oft so schweren
Wagen zieht: aber alle Werte ruhen auf diesem
Wagen. Mit Hü und Hott zieht er gerade den
Wagen, aber wenn der Künstler will, so kann er
fliegen, und als eine Bremse hinter dem Ohr des
Gaules summen, und die Schindmähre stechen
und brummen.
Der Futurismus ist ein großer Schritt.
Er stellt einen Befrejungsakt dar. Er ist keine
Richtung, sondern eine Bewegung. Besser: er ist
die Bewegung des Künstlers nach vorwärts. Es
kommt auf die einzelnen Werke nicht an. Es
ist zum jammern, daß das Land der „Innerlich-
keit" sich den Mut zu sich von außen einblasen
lassen muß. Aus dem Lande der Farben und
schönen Menschen kommt die Lehre zu uns, zu
uns: „die Seele ist alles". Unsere Maler machen
Experimente, sie studieren die Gesetze) der Farben,
Linien, Flächen. Sie sind ehrlich — es ist zum
Lachen — während das Haus brennt.
Ich bin kein Freund der großen und auf-
geblasenen Worte. Aber den Futurismus unter-
schreibe ich mit vollem Namen und gebe ihm ein
deutliches Ja.
Notizen
In dem Beitrag von Dr. S. Friedlaender (Num-
mer 107, Seite 22) sind folgende Druckfehler zu
berichtigen:
Hier haben wir die verhängnisvolle Alter-
native der Werte.
Sein Philosophieren trägt den Januskopf,
dessen entgegengesetzte Antlitze Diesseits
und Jenseits toto coelo divergieren lassen.
Er operiert durchweg mit dieser Gegen-
satztypik.
Um ein Problem praktisch lösbar zu machen,
braucht man es theoretisch weder bejahend
noch verneinend zu lösen. Gesetzt
zum Beispiel...
Da der Beitrag von Arno Holz aus künst-
lerischen Gründen in einer Nummer gebracht
werden muß, kann die Fortsetzung des Romans
„Der schwarze Vorhang" von Alfred Döblin erst
in der nächsten Nummer erfolgen. Ebenso mußte
der Holzschnitt ausfallen.
Die Herren Harold Bengen, Cesar Klein,
Moriz Melzer, Wilhelm Morgner, Richter-Berlin,
Georg Tappert, von denen Holzschnitte in ver-
schiedenen Nummern dieser Zeitschrift ver-
öffentlicht wurden, sind Mitglieder der Neuen
•’S e z e s s i o n.
Die Zeichnungen von Oskar Kokoschka in
den Nummern 103 bis 106 sind in dem Buch
Tu butsch von Albert Ehrenstein enthalten,
erschienen bei Jahoda & Siegel, Wien.
Beachtenswerte Bücher
. Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt
JEAN THOGORMA
Lettres sur la Poesie
L’Esthetique virante
Paris / E. Basset & Cie. / Editeurs
F. T. MARINETTI
La Battaglia di Tripoli
Mailand / Editione Futuriste di „Poesia“
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