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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 105
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [1]: Roman
DOI Artikel:
Boccioni, Umberto: Futuristen: die Aussteller an das Publikum
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0007

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Der schwarze Vorhang
Roman
Von Alfred Döblin
Fortsetzung
Wenn er sich jetzt unter Freunden plötzlich
müde reckte, den Kopf auf die Brust fallen ließ
und minutenlang vor sich hinstarrte, so klangen
Gedanken in ihm auf, deren Qual ihn fast betäubte.
Er war verdorben und sollte verderben, was
ihm über den3Weg kam. Er war zur Zerstörung
geschaffen. Seine Leere griff räuberisch nach Fülle,
und das hieß er Liebe. Mußte es nicht auch eine
Art heimlicher Liebe und Rachedurstes sein, was
ihn zu den Menschen trieb? So lange er lebte
und schauen konnte, war er diesem qualentzückten
Drängen nicht entgangen; war nicht sein blasser
Schatten, sondern seiner Seele Seele; nun wollte
er seinen Haß segnen, sich ihm ganz hingeben.
Wüste sollte um ihn sein.
Und sie, sie sollte seinen jungen, gefeiten Haß
zuerst spüren, die ihn geweckt hatte. Niemand
durfte von der Armut wissen, auf der sich der
Reichtum seines Hasses erhob: so war es wiederum
sie, die er zerdrücken mußte, die seine Armut
gesehen hatte, die aus dem Wege geräumt werden
mußte, auf daß er wieder atmen und das Gesicht
erheben konnte.
Sein auferstehender Groll wandte sich nicht
gegen das Weib, sondern gegen den Anderen,
den feindlichen Menschen.
Es setzte sich in ihm fest und wurde ein düsteres,
kindisches Verlangen, das sich von ihm löste und
träumend vor seinen Füßen hinging.
Vorerst mied er sie, soviel er konnte und ver-
stummte, wenn sie in der Nähe war.
Er fürchtete sich durch den Klang seiner Stimme
zu verraten. Aber es verging nicht viel Zeit, da
wehte wieder unter dem breiten Laub der Bäume
liebliches Lachen und Schwätzen; die weiße Lebens-
leichtigkeit schimmerte und schwebte wieder über
den Sand. Dumpf und mit Gelassenheit spürte
er, während er manches sprach, daß irgend etwas
vor seinen Augen ihn brannte und seine Gedanken
im Hintergrund beschäftigte. Sie ging mit ihren
starren roten Haarsträhnen sicher und freundlich
vorüber und grüßte scheu auch ihn. Er sah ihr
lange mit Schweigen nach. Für einen kurzen
Augenblick brach etwas in ihm bei ihrem Anblick
in Gelächter aus. Dann wartete er, suchte sich
ganz auf sich zu besinnen.
Schwer erhob er sich dann, und merkte erst
beim Gehen, daß seine Füße ihn gerade auf sie
zutrugen und daß er irgendwie entschlossen war.
Er mußte sie bezwingen, „bezwingen":
. Das Wort klang so befehlend und klagend in
ihm, sie auslöschen. — Er ging jetzt sie bezwingen.
Seine Lippen blieben verschlossen, als er dicht
vor der Rothaarigen stand, die ihn fragend von
unten ansah. Mit lautem Lachen und mit traurig
erstaunter Seele sprach er einiges; als ihre Augen
erschreckt an der ausdruckslosen Ruhe seines Ge-
sichts hingen, sagten seine Lippen Worte, die er
mit anderer Seele ersonnen hatte, höhnend, böse,
unverschleiert. Irene wich gegen einen Baum zu,
angstvoll vor ihm zurück und sah ihm dabei un-
verwandt ins Auge. Das stachelte ihn, da es an
den Groll über ihr letztes Ausweichen rührte und
an das Düster seiner verlassenen Stunden; hastiger
und hastiger schwoll sein Mund von unverhohlenem
Hasse über. Seine erstickten Worte griffen und
schlangen sich träumend um sie, und während
Gelächter über seine Lippen taumelte, wußte er
nicht, was er von ihr wollte.
Von weitem sah er schon deutlich die graue,
alte Scham sich erheben. Aus den Ecken der Um-
zäumung, in der sie standen, von den schwarzen
zackigen Baumästen sahen Augen, blies es her-
unter und klatschte schon Beifall zu seiner Nieder-
lage. Sie war entwichen. Sie, sie mußte ihn doch
hören, — und immer weiter entwich sie ihm. Ver-

zweifeltes Taumeln und näheres Anlaufen, und doch
verbarg sich ihm nichts; verbarg sich ihm nicht,
daß alles rief: es ist umsonst, laß nur ab.
Das war seine Schlacht.
Wie ein Harlekin, der sich müde gewitzelt hat,
schlich er beiseite und wurde stiller. Unter
lustigen Menschen, mit leerer verwirrter Seele,
spöttisch und bitter, war er verlassen und schutz-
bedürftig. Er begriff sich nicht und wurde sehr
ängstlich und traurig.
Seine Worte sanken jetzt, als er zu einem der
Leute um sich sprach, welk und still wie Blumen hin.
Er trat schließlich, als er Irene wiedersah,müde,
aber aufrecht, ohne inneren Antrieb, auf sie zu und
bat sie leise, heimlich über sich selbst verwundert,
um Verzeihung und sah in ihr Mädchengesicht,
ein glattes Mädchengesicht wie alle.
« *
Fortsetzung folgt

Futuristen
Die Aussteller an das Publikum
Wir können ohne Prahlerei erklären, daß
diese erste Ausstellung der Futuristen in Berlin,
auch die bedeutendste Ausstellung italienischer
Malerei ist, die jemals dem Urteil Deutschlands
unterlag.
Ja, wir sind jung, und unsere Kunst ist
unersehen revolutionär.
Durch unser Suchen und durch unsere
Verwirklichungen, die schon zahlreiche begabte
Nachahmer, aber auch ebenso viel unbegabte
Plagiatoren um uns gesammelt haben, stehen
wir an der Spitze der Bewegung der euro-
päischen Malerei; wir verfolgen einen anderen
Weg, der in mancher Hinsicht dem der Spät-
impressionisten, Synthetisten und Kubisten
gleicht, an deren Spitze die Meister Picasso,
Braque, Derain, Metzinger, Le Fauconnier, Glei-
zes, Leger, Lhote und andere standen.
Wir bewundern den Heroismus dieser be-
deutenden Maler, die eine lobenswerte Ver-
achtung des artistischen Merkantilismus und
einen gewaltigen Haß gegen den Akademismus
gezeigt haben, aber wir fühlen und erklären,
daß unsere Kunst der ihren entgegengesetzt ist.
Immer wieder malen sie das Unbewegliche,
Erstarrte und alle statischen Zustände der Natur ;
sie verehren den Traditionalismus Poussins,
Ingres und Corots, der ihre Kunst alt macht,
sie versteinert mit einer Hartnäckigkeit des
Passeistischen, die uns unverständlich ist.
Von einem gänzlich futuristischen Stand-
punkte dagegen suchen wir einen Stil der Be-
wegung, was vor uns noch niemals versucht
worden ist.
Weit davon entfernt, uns an die Alten zu
halten, betonen wir unaufhörlich die indivi-
duelle Erkenntnis in der Absicht, vollkommen
neue Gesetze zu formulieren, die die Malerei
von ihrer auf- und niederwallenden Ungewiß-
heit befreien sollen.
Unser Wille, unseren Bildern eine möglichst
feste Konstruktion zu geben, wird uns sicher
nicht irgendeiner Tradition wieder näherbringen.
Davon sind wir überzeugt.
Alle in den Schulen oder Ateliers gelernten
Wahrheiten existieren nicht für uns. Unsere
Hände sind frei und rein genug, alles von vorn
anzufangen.
Unzweifelhaft sind einige ästhetische Ver-
sicherungen unserer Kameraden in Frank-
reich Anzeichen einer Art maskierten Aka-
demismus.
Denn, heißt es nicht zur Akademie zurück-
kehren, wenn man erklärt, daß das Sujet in der
Malerei absolut unbedeutend und nichtssagend
sei?

Wir erklären dagegen, daß es keine moderne
Malerei geben kann, ohne daß man von einer
gänzlich modernen Empfindung ausgeht, und
niemand kann uns widersprechen, wenn wir be-
haupten, daß Malerei und Empfindung
zwei unzertrennbare Worte* sind.
Sind 'unsere Bilder futuristisch, so sind sie
es einzig und allein, weil sie als Ergebnis
ethischer, ästhetischer, politischer und sozialer
Begriffe selbst vollkommen futuristisch sind.
Nach einem Modell malen, das posiert, ist
Absurdität und geistige Feigheit, selbst wenn das
Modell in linearen, sphärischen oder kubischen
Formen auf die Leinwand übersetzt wird’
Irgend etwas Nacktem einen allegorischen
Wert geben, indem man die Bedeutung des
Bildes dem Gegenstände entnimmt, den das
Modell in der Hand hält, öder den Gegen-
ständen, die rings umherliegeti, ist für uns eine
traditionelle akademische Lügenhaftigkeit.:
Diese Methode, die der der Griechen, der
Raffaels, Tizians, Veroneses ziemlich gleicht, er-
regt unser Mißfallen.
Wir verschmähen den Impressionismus, wir
mißbilligen energisch die gegenwärtige Reaktion,
die, um den Impressionismus zu töten, die
Malerei wieder alten akademischen Formen zü-
führt.
Man kann nur gegen den Impressionismus
wirken, indem man über ihn fortschreitet. *
Nichts ist lächerlicher, als ihn zu bekämpfen,
indem man die Gesetze der Malerei annimmt,
die vor ihm waren.
Die Berührungsmomente auf der Suche
nach dem Stil und nach der sogenannten „klassi-
schen Kunst" fühlen wir nicht.
Andere werden diese Analogien suchen und
sie auch zweifellos finden. Sie können aber nur
als Rückkehr zu Methoden, Begriffen und Valeurs
angesehen werden, die uns die klassische Malerei
überliefert hat.
Einige Beispiele mögen unsere Theorie ver-
deutlichen. Wir sehen keinen Unterschied
zwischen dem Nackten, das man geläufig „künst-
lerisch" nennt und einer Anatomie leiche: Dafür
gibt es einen großen Unterschied zwischen dem
Nackten und unserem futuristischen Begriff vom
menschlichen Körper.
Die Perspektive, wie sie von den meisten
Malern verstanden wird, ist für uns so wertvoll,
wie für sie Ingenieürprojekte.
Die Gleichzeitigkeit der Seelenzustände in
unserem Kunstwerk: das ist der berauschende
Zweck unserer Kunst.
Erklären wir noch weiter durch Beispiele.
Wenn man eine Person auf dem Balkon (Innen-
ansicht) malt, so begrenzen wir nicht die Szene
auf das, was uns das schmale Fensterviereck zu
sehen erlaubt, sondern wir bemühen uns, die
Empfindungen des Auges der auf dem Balkon
befindlichen Person in ihrer Gesamtheit zu
geben: das sonndurchflimmerte Gesumm der
Straße, die beiden Häuserreihen, die sich zu
seiner Rechten und Linken entlangziehen, die
blumengeschmückten Balkons; das heißt:
Gleichzeitigkeit der Atmosphäre, folglich Orts-
veränderung und Zergliederung der Gegen-
stände, Zerstreuung und Ineinandefübergehen
der Einzelheiten, die von der laufenden Logik
befreit, eine von der arideren unabhängig sind.
Um den Betrachter nach unserem Manifest
in der Mitte des Bildes leben zu lassen, muß das
Bild die Zusammenstellung dessen sein, an das
wir uns erinnern und dessen, was wir
sehen.
Man muß das Unsichtbare geben, das er-
regt, über Undurchsichtigkeit erhaben ist, was
rechts, links und hinter uns ist, nicht den künst-
lich verengten Leberisausschnitt, der zwischen
Thea ter dekorationen eingeklemmt zu sein scheint
Wir haben in unserem Manifest erklärt, daß
man die d y n a m i s c h e E m p f i ri d u n g geben

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