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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 112
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Adler, Joseph: Der geniale Heilemann
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Walden, Herwarth: Letzte Nachrichten
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Lichtenstein, Alfred: Das Konzert
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Lichtenstein, Alfred: Der Philosemit
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Beachtenswerte Bücher / Notiz
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0066

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Die Gesellschaft, die den Kitsch fördert, und
das mit künstlerischen Reizen übersättigte Publi-
kum, das ihn dennoch verschlingt, wohnen natür-
lich Haus an Haus. Wo aber, wer mir das sagen
könnte, hat sich dieses doch geistesimpotente Pu-
blikum die künstlerische Ueberreizung ange-
schlafen? Im Ausstellungspark, darin man nur
sehen kann, wieviel Unkraut im Schatten der
Künste gedeiht? Hat es sie sich vor Schüsseln
geholt, in denen man ihm seit Jahrzehnten immer
wieder die gleichen Farbensuppen vorsetzt?
Die Gesellschaft lehnt es endlich endgültig
ab, den unkultivierten Impressionismus zu emp-
fangen, aber „andererseits haben die zwölf Jahre
Sezession, die wir bislang in Berlin haben, auch
in den künstlerisch nur oberflächlich interessier-
ten Gesellschaftsmenschen ein gewisses Empfin-
den für die Bedeutung impressionistischen Kunst-
schaffens und künstlerischer Wahrhaftigkeit ge-
festigt, das die „schöne Pose“ und den „falschen
Pathos“ fast noch mehr verabscheut als die grü-
nen Wangen, die blauen Lippen und den schwar-
zen Hals.“
Vor einem Heilemannschen Bilde zerrinnt
das gewisse Empfinden, das die Sezession in zwölf
Jahren mühselig gefestigt hat, augenblicklich zu
einer Sauce des Entzückens. Die Seichtheit der
Heilemannschen Malereien entspricht der Ober-
flächlichkeit der Gesellschaftsbestie. Sie be-
rühren sich in jenem Punkt, der hinter der Hoff-
nung gesetzt ist, daß es jemals besser Wird. Vor
der Treffsicherheit des Heilemannschen
Könnens jst sie erschossen.
Jede echte Kunst ist und wirkt revolutionär,
aber die bürgerliche Gesellschaft liebt die Ruhe
und Sicherheit. Was sie aus ihrer tierischen Hin-
gestrecktheit aufpeitschen will, erscheint ihr
anarchistisch und unkultiviert. Nur jene Phari-
säer, die die Kunst <als einen das Leben ver-
süßenden Faktor meistern, werden ihre Lieb-
linge. ;
Jene Dame, die ich in der Tiergartenstraße
vor den Zeichnungen. Kokoschkas unbändig
lachen hörte, wird nachdenklich und ernst vor
einem Heilemann, da sie sehen muß, daß sich
die Frau Kommerzienrat Pinkassohn in einer
Robe malen ließ, die gekostet haben wird
„Aber nur die wenigsten von den vielen,
die sich an Heilemann-Zeichnungen begeistern,
wissen, daß die schönen Frauen und eleganten
oder charakteristischen Männer, die diese Bild-
seiten beleben, meist wirkliche Porträts von
Leuten sind, denen der Künstler, der selbst ein
großes Haus führt, in seinem gesellschaftlichen
Leben begegnet. Jedes Diner, jeder Theater-
abend und jedes Fest ist ihm ein willkommener
Vorwand, neue Porträtskizzen' in sein Taschen-
buch einzufangen, um sie dann, (was denn? Auf
uns loszulassen? Nein:) bei passender Gelegen-
heit in seinen Zeichnungen zu verwerten.
Ohne den natürlichen Reiz seiner schönen
Modelle zu verachten, dichtet der Maler ihnen
doch nie unwahre Affektiertheit und falsche Ge-
ziertheit an. Nie versucht er eine, künstliche
Steigerung der Bedeutung des Darzüstellenden.
Aber: „auf der anderen Seite-übt er den Im-
pressionismus nicht' wie jene Verächter des ge-
sunden Menschenverstandes, die als das Ziel der
Porträtkunst die Verelendigung schöner und ele-
ganter Menschen zu betrachten scheinen, um
seiner selbst willen, sondern er bedient sich
seiner Hilfe, um dem Eindruck der Natur recht
nahe zu kommen.“
Er bedient sich also doch auf der andern,
der billigen Seite einer Kunstrichtung, die schon
selber nachhinkt. Er findet und nimmt das
Gute dort, wo es, sich schon ins Manirierte ver-
loren hat. Dieser Maler der krassen, unerträg-
lichen Materialität, der den natürlichen Reiz der
schönen Modelle nicht verachtet, ihnen aber auch
nichts andichtet, ist Manna für das Publikum,
das eine ewige Wüste der Horizontlosigkeit in

sich trägt. Es vertieft sich mit Behagen und
Interesse in einen ausdruckslosen Weiberpodex,
den Heilemann hinkleckst, aber vor der erschüt-
ternden Tragik der Gesichter eines Verächters
des Massenblödsinns fühlt es sich'überlegen. O,
es wehrt dankend ab.
Ein Doktor glaubt, er verste h e si c h auf
Kunst, wenn der dem Kitsch die Gesundheit
aufschwatzt. Allerdings ist der Kitsch nur Glätte,
er hat nicht Leib noch Seele, er hat nicht ein
einziges Glied, das von einer Krankheit geadelt
werden könnte.
Aber hinter dem Leser der Lustigen Blätter,
der sich, von den Heilemannschen Zeichnungen
begeistert und hingerissen, krank lacht, und dem
Doktor, der den Heilemannschen Porträts in einer
„Eleganten Welt“ die Gesundheit, attestiert,
laust sich das Leben, eine verwunschene Prinzes-
sin, in Lumpen.
Joseph Adler

Letzte Nachrichten
Deutschland über Alles
* Christian ia, 10 Uhr 45 Min. abends.
(Telegramm unseres h.-Korrespondenten.) Maxi-
milian Harden, der gestern dem norwegischen
Nationalfest beiwohnte und eine schöne Ge-
dächtnisrede anBjörnsons Grab hielt,
■ reiste heute nach Berlin zurück.
Nun kann Herr Björnson ruhig schlafen.
Siegfried Wagner zieht seine Kreise
„Ich werde auch weiterhin“, sagte Wagner,
„volkstümliche Opern schreiben. Der deutsche
Sagenkreis bietet ja nach dieser Richtung un-
erschöpfliches Material.“
Nach eingetretenem Ausverkauf wird die
griechische und römische Götterwelt bestens
empfohlen.
Der Eindruck
Herr Doktor Leopold Schmidt über die
Achte Symphonie von Gustav Mahler: „Innerhalb
des Mahlerschen Schaffens nimmt die Achte
eine besondere Stelle ein.“ Nämlich die achte.
„Als Ganzes genommen ist diese Symphonie eine
der merkwürdigsten und gehaltvoll-
sten Erscheinungen unserer Epoche.“ Auch das
scheint Herrn Doktor Schmidt „außer Zweifel.“
Nach diesem Tiefsinn muß er tief sinnig werden:
„So mancher Besucher der Aufführung wird mit
Trauer daran gedacht haben, welch hartes Ge-
schick den Schöpfer dieses Werkes vorzeitig
dahingerafft hat.“ Ja, so ist das Leben.
H. W.

Das Konzert
Die nackten Stühle horchen sonderbar
Beängstigend und still, als gäbe es Gefahr.
Nur manche sind mit einem Mensch bedeckt.
Ein grünes Fräulein sieht oft in ein Buch.
Und einer findet bald ein Taschentuch.
Und Stiefel sind ganz gräßlich angedreckt.
Aus offnem Munde tönt ein alter Mann.
Ein Jüngling schaut ein junges Mädchen an.
Ein Knabe spielt an seinem Hosenknopf.
Auf einem Podium schaukelt sich behend
Ein Leib bei einem ernsten Instrument.
Auf einem Kragen liegt ein blanker Kopf.
Kreischt. Und zerreißt.
Alfred Lichtenstein / Wilmersdorf

Der Philosemit
Nein, dies Leben faß ich nicht mehr an.
Mag man mich für närrisch halten —
Heute geh ich nicht ins Gasthaus.
Müde bin ich längst der Kellnerkerle,
Die uns mit blasierten Fratzen,
Höhnisch, schwarze Biere bringen
Und uns ganz verworren machen,
Daß wir nicht nach Hause finden
Und die törichten Laternen
Mit den schwachen Händen stützen
Müssen.
Heute hab ich größre Dinge vor —
Ach, ich will den Sinn des Daseins suchen.
Und am Abend werd ich etwas Rollschuh laufen
Oder mal in einen Judentempel gehn.
Alfred Lichtenstein / Wilmersdorf

Beachtenswerte Bücher
Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt
THADDÄUS RITTNER
Ich kenne Sie / Novellen
Wien und Leipzig / Deutsch-Oesterreichische
Verlag
ALDO PALAZZESCHI
II Codice di Perelä
Romanzo Futurista
Mailand / Edizioni Futuriste di „Poesia“
ALBERT EHRENSTEIN
Der Selbstmord eines Katers / Novellen
. München / Verlag Georg Müller
F. T. MARINETTI
Distruzione / Poema
Mailand / Edizioni Futuriste di „Poesia“
La Momie sanglante
Poeme dramatique
Editions du „Verde e Azzuro“ / Milan
D'Annunzio intime
4e edition
Editions du „Verde e Azzuro“ / Milan
Le Roi Bombance
Tragödie satirique, 3e edition
Editions du „Mercure de France“ / Paris
La Ville Charnelle
4e edition
E. Sansot et Cie. / editeurs / Paris

Notiz
Die Holzschnitte auf der fünften Seite jeder
Nummer sind von Mitgliedern der Neuen Sezession

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Ständige Ausstellungen der
Zeitschrift Der Sturm
9
Königin-Augusta-Straße 51
gegenüber der von-der-Heydt-Straße
Graphik:
Picasso / Herbin / Gauguin / Kokoschka /
Hablik / und Andere
Geöffnet täglich von 10 bis 6 Uhr
Eine Mark

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