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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 112
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Marinetti, Filippo Tommaso: Tod dem Mondschein !, [2]: zweites Manifest des Futurismus
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Leonhard, Rudolf: Gedichte
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Scheerbart, Paul: Tiefe Geschäftsweisheit: eine Mondschein-Novelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0062

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letzten, uns liebevoll umklammernden Lianen zu
befreien, fühlten wir die sinnliche Luna mit den
schönen, warmen Schenkeln, die sich schmach-
tend unseren von Müdigkeit gebrochenen Rück-
graten hingab. Jemand schrie in die luftige Ein-
samkeit der Berge:
„Tod dem Monschein!"
Die einen rannten zu den nächsten Kaskaden ;
riesige Räder wurden montiert, und Turbinen
verwandelten die Schnelligkeit der Wasser in
magnetische Spannung, die an Drähten über Stan-
gen in die leuchtenden, summenden Globen
kletterte.
So ließen dreihundert elektrische Monde
durch ihre glänzenden, kreidefarbigen Strahlen
die alte, grüne Liebeskönigin verblassen.
Und der militärische Schienenweg wurde ge-
legt, ein närrischer Schienenweg, der den Kamm
der höchsten Gebirge entlangführte, wohin sich
sogleich unsere wuchtigen, von unseren grellen
Schreien widertönenden Lokomotiven von
Gipfel zu Gipfel warfen; sie sausten in die Ab-
gründe, kletterten überall wieder hinauf, auf der
Suche nach lüsternen Abgründen, nach unmög-
lichen Kurven und Zickzacks . . .
Weit im Umkreis bezeichnete unser grenzen-
loser Haß den flüchtlingbedeckten Horizont . . .
Es waren die Horden von Paralysia und Poda-
gra, die wir nach Hindostan zurückwarfen.
IV
O leidenschaftliche Verfolgung! . . . Wir
überschreiten den Ganges! . . . Endlich, endlich
jagte der ungestüme Atem unserer Brust die ab-
schüssigen, feindseligen Wolken vor uns her, und
wir sahen am Horizont die grünlichen, hüpfen-
den Wogen des Indischen Ozeans, der mit Gold-
strahlen tändelt. Tief im Golf von Oman und
von Bengalen bereitete er heimlich die Invasion
des Festlandes vor.
Sogleich streckte die unendliche Masse der
von den Verrückten gerittenen Raubtiere un-
zählige Köpfe über die Wogen, unter dem Wirbel
der Mähnen, die den Ozean zu Hilfe riefen.
Und der Ozean antwortete auf diesen Aufruf: er
wölbte seinen Riesenrücken und erschütterte die
Vorgebirge, bevor er Anlauf nahm. Lange ver-
suchte er seine Kraft, indem er seine Hüften
wellte und seinen Bauch in rhythmischem Klipp-
klapp krümmte zwischen seinen weiten, elasti-
schen Grundfesten.
Dann, mit einem gewaltigen Schlage seiner
Hüften erhob der Ozean seinen massigen Körper
und stieg weit über das bisherige Ufer ... Da
begann die furchtbare Invasion.
Umhüllt von den stampfenden Wogen, die
großen Globen aus weißem Schaum glichen und
die die Kuppen der Löwen bespritzten, schritten
wir daher . . . Die hinter uns im Halbkreise auf-
gestellten Löwen verlängerten das Krachen, den
zischenden Geifer und das Heulen des Wassers.
Manchmal betrachteten wir vom Gipfel der Hügel,
wie der Ozean sein riesiges Profil aufblies wie
ein unermessen großer Walfisch, der sich vor-
wärts stößt auf Millionen von Flossen. So führ-
ten wir ihn bis an die Kette des Himalaya und
stießen die wimmelnden Horden Paralysias und
Podagras zurück, indem wir uns bemühten, sie
gegen die Seiten des Gaurisankar zu drängen.
„Schnell, schnell, Brüder . . . Sollen die Tiere
uns überholen? . . . Wir müssen in der ersten
Reihe bleiben trotz unserer Schritte, die die Säfte
der Erde aussaugen! . . . Pfui über unsere be-
sudelten Hände und über unsere wurzelgehemm-
ten Füße! . . . )O wir armen, unstet umher-
schweifenden Bäume! . . . Wir brauchen Flügel!
Bauen wir also Aeroplane!"
„Blau sollen sie sein!" schrieen die Verrück-
ten. „Damit wir uns besser vor dem Feinde ver-
bergen und uns besser dem Azur des Himmels
mischen können, wenn der Wind über die Gipfel
fegt!"

Die Verrückten raubten in den Pagoden alte
türkisblaue, Buddha geweihte Mäntel, um ihre
Flugapparate zu bauen.
Wir schnitten unsere futuristischen Aero-
plane aus der ockerfarbenen Leinwand großer
Segel. Die einen haben Flügelverwindung und
erheben sich, durch ihren Motor, wie ein
blutiger Kondor das von ihm geraubte Lamm
trägt. Mein Apparat ist ein vielzelliger Drei-
decker mit Schwanzsteuerung, 100 HP., . acht
Zylinder, 80 kg . . . Zwischen meinen Füßen be-
findet sich eine ganz kleine Mitrailleuse, die ich
durch einen Druck auf einen Stahlknopf abfeuern
kann . .,
Und man fliegt los, berauscht von geschickter
Steuerung, von dem schnellen, leichten, knattern-
den Flug im Rhythmus eines Trinklieds.
Hurra! Endlich verdienen wir, die große
Armee der Verrückten und entfesselten Raub-
tiere zu befehligen! Hurra! Wir beherrschen
unsere Nachhut: den Ozean und seine Hülle
schäumender Kavallerie! . . . Vorwärts, Ver-
rückte, Löwen, Tiger und Panther! Unsere Aero-
plane werden eure Standarten sein! . . . Unsere
Aeroplane werden eure leidenschaftlichen Ge-
liebten sein! ... Sie schwimmen mit offenen
Armen auf der Brandung des Blattwerkes. Nach-
lässig recken sie sich auf der Schaukel der Winde!
Seht, dort oben rechts, diese blauen Schiffchen ...
Das sind die Verrückten, die ihre Aeroplane in
der Hängematte des Südwindes schaukeln! . . .
Ich, ich sitze wie ein Weber vor dem Webstuhl
und webe den seidigen Azur des Himmels! . . .
Gefallen euch diese frischen Täler, diese mürri-
schen Berge, über deren Gipfel wir fegen? . . .
Gefallen euch diese Herden rosiger Schafe, die
sich an die Abhänge der Hügel klammern und
sich dem Abend hingeben? . . . Einst liebtest
du sie, meine Seele! . . . Nein! Nein! Genug!
Niemals mehr wirst du so geschmacklos sein!
Das Schilfrohr, aus dem wir einst Flöten schnitz-
ten, bildet jetzt das Gerippe meines Aeroplans!
. . . Sehnsüchtiges Heimweh! Rausch des
Triumphs! . . .
Bald werden wif die Bewohner Podagras und
Paralysias erreicht haben, denn wir halten unseren
Kurs trotz allen Gegenwindes . . . Was zeigt das
Anemometer? . . . Dieser Wind hat eine Ge-
schwindigkeit i von hundert Kilometern in
der Stunde! Um so besser! ... Ich steige
auf zweitausend Meter, um das Plateau zu über-
fliegen . . . Da, da sind die Horden . . . Dort,
dort vor uns und schon unter uns! Seht, gerade
unter uns, wie zwischen dem Grün der Wiesen
und Wälder dieser menschliche Gießbach dahin-
braust! . . . Dieser Lärm? Das Krachen der
Bäume! Ah, ah! Alle sind sie gegen die Wand
des fG'aurisankars gedrängt! . . . Und wir werden
ihnen eine Schlacht liefern! . . . Hört ihr unsere
iMotore, wie sie vor Freude klatschen? . . . He,
großer Indischer Ozean, heran!
Feierlich folgt er uns, stürzte die Wälle der
ehrwürdigen Städte, warf die berühmten Türme
um, die in ihrer klingenden Rüstung alten Rittern
glichen, und die jetzt von dem marmornen Sattel-
bogen der Tempel heruntergerissen wurden.
Endlich, endlich seid ihr vor uns, ameisen-
wimmelnde Horden Podagras und Paralysias, die
ihr die schönen Abhänge der Berge wie ein
schrecklicher Aussatz bedeckt! Flügelschlagend
fliegen wir euch entgegen, rechts und links die
Löwen, unsere Brüder, und hinter uns die dro-
hende Freundschaft des Ozeans, der uns Schritt
für Schritt nachkommt, um jedes Zurückweichen
unmöglich zu machen! . . . Das ist eine einfache
Vorsichtsmaßregel, denn wir fürchten euch nicht!
. . . . Aber ihr seid unzählig! . . . Wir könnten
wohl unsere Munitionen erschöpfen, würden wir
alt während des Blutbades! ... Ich werde die
Schußlinie festsetzen! . . . Achthundert Meter!
Achtung! . . . Feuer! . . . O Rausch, wie einst
in der Schule zu spielen! ... Oh! Rausch, mit

dem Tode Murmeln zu spielen! ... Und ihr
könnt sie uns nicht mehr klauen! . . . Noch
weiter flieht ihr . . . Dieses Plateau wird rasch
überflogen sein . . . Mein Aeroplan rollt auf
seinen Rädern, gleitet auf seinen Kufen, und von
neuem erhebt er sich! ... Ich richte mich im
Winde auf . . . Bravo, die Verrückten! Auf zum
Kampf! Da! . . . Ich reiße die Zündung zurück,
um glatt zu landen, — Gleitflug, großartige Sta-
bilität — mitten im Handgemenge!
Der Sieg ist unser, sicherlich, denn schon
werfen die Verrückten ihre Herzen in den Himmel
wie Bomben! . . . Achthundert Meter! . . . Ach-
tung! . . . Feuer! . . . Unser Blut? ... Ja, all
unser Blut, in Strömen, um die kranke Morgen-
röte der Erde wieder zu färben! . . . Wir werden
dich zwischen unseren rauchenden Armen er-
wärmen, arme, siechende, fröstelnde Sonne, die
über dem Gipfel des Gaurisankars vor Kälte
zittert!
Autorisierte Uebertragung aus dem Französischen von Jean-Jacques

Oedichte
Im Abend
I Des Tages letztes Sonnenblut verrinnt
Tief in des stillen Abends offne Hand,
Schwarzblaue Wolken bauen Welt an Welt.
Es brausen immer neue Ströme Wind
Aus fernen Quellen über dunkles Land.
Und eng geschlossen wartet Feld an Feld.
Vor der Schwelle
Ich 'horchte zögernd rückwärts von der Schwelle,
Als käme durch den Raum ein leises Rufen.
Doch schlief sie still; ich ließ die Türe klinken.
Da fühlt ich's in die müden Augen blinken -
Und vor mir lag auf alten Treppenstufen
Ein Bündel Mondschein wie ein blankes Tier,
Das hütete den Weg zu ihr, von ihr —
Und lächelnd trat ich auf die schmale Helle.
Rudolf Leonhard

Tiefe Geschäftsweisheit
Eine Mondschein-Novelle
Von Paul Scheerbart
Der Vollmond stand dicht über dem Horizont
— ganz groß und rot. Durch die Kornfelder
rannten die Hasen, hnd die Fledermäuse flatterten
über dem Bahndamm um die Telegraphendrähte
rum. Und drei Einbrecher krochen in das dichte
Gebüsch des Waldparks.
Ein Schnellzug fuhr vorüber, und auf der
Veranda des Herrn Piepenhagen schaukelten
zwanzig karminrote Papierlampions. Während-
dem ging die Auguste, die bei Schultze-Bernau
als Köchin diente, mit dem Hausdiener Johann
langsam dem Waldpark zu.
Und der Johann sagte schmunzelnd:
„Glaube mir, liebe Auguste, je schlechter es
den Menschen geht, um so besser ist der gute Ge-
schäftsmann dran. Der macht grade dann die
besten Geschäfte, wenn die Menschen nicht
wissen, wo sie vor lauter Sorgen bleiben sollen.
Das kannst du dir ja leicht vorstellen; haben die
Leute Geld genug, So brauchen sie keinen Helfer.
Und — wo bleibt da das Geschäft? Hieraus
erkennst du auch gleich, daß heutzutage für den
Geschäftsmann der Weizen blüht, da es sehr
vielen Leuten sehr schlecht geht. Jetzt werden

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