Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

DOI Heft:
Nr. 121/122
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Mitternachtsbesuch
DOI Artikel:
Kunowski, Lothar: Folie und Fassung
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0123

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die erregte Dame klingelte nach ihrer Kam-
merfrau und setzte das ganze Haus in Aufruhr —-
aber der Grieche war nicht zu finden.
Der kleine, blanke Hammer war aber da, und
sein Erscheinen ließ sich nicht erklären — so viel
man auch suchte.
Der Kastellan fluchte über diesen nächtlichen
Aufruhr in heftigster Form und sagte schließlich
sehr unhöflich:
„Meine gnädigste Gräfin, wenn Sie in einem
Schlosse wohnen, in dem seit langen Jahren alte
Geister ein und aus gehen, so darf Ihnen doch ein
solcher Mitternachtsbesuch nicht unmöglich vor-
kommen“.
Die Gräfin C. schrieb ihr Erlebnis noch in der-
selben Nacht nieder, und ich gelangte durch Zufall
in den Besitz des Manuskripts.

Folie und Fassung
Von Lothar von Kunowski
Ein Diamant, Rubin, Saphir und andere Steine
Des Schmucks, so sehr sie strahlen, so reich sie
geschliffen sind, gewürdigt werden sie erst auf ei-
ner Folie, in einer Einfassung, wovon und worin
sich ihre Vorzüge abheben. So reich, so strahlend
das ist, was der Künstler sieht und erfindet, er
gebe den Perlen der Beobachtung und Phan-
tasie eine Unterlage und strenge Fassung vor
glänzender Ausführung. Er suche an den. Gestal-
ten das, was sie befähigt, sich einem gegebenen
Raum anzupassen. Und um dies zu finden, bedie-
ne er sich der zartesten Eigenschaften seines Ma-
terials, er wecke in leiser Unterzeichnung den Ur-
nebel seiner Papierfläche, jenen schwebenden Ton,
in dem sich jede Erscheinung ahnen, aus der sich
jede gestalten läßt.
Nimm ein Blatt Papier,, bedecke es mit feinen
Kringeln, Linien und Punkten wie Sterne am Him-
mel, so wirst du Gestalten zu schauen glauben,
wie Lionardo an den Rissen alter Wände. Uebe
dich in diesem Gaukelspiel der Phantasie. Bald
wirst du einen Kopf, eine merkwürdige Physogo-
mie entstehen sehen, einige .Pünktchen kaum ver-
bunden durch den Hauch einer Linie werden zum
Ringer, Wettläufer, Bettler. Eine zittrige Linie hebt
das, was sie umschreibt, hell aus der Fläche als wei-
ße Wolke, ein Kreis scheint zu strahlen wie die Son-
ne, aus einem eiförmigen Kringel wachsen von
selbst die Ohren eines Kaninchens, kaum berührst
du das Papier mit zwei kleinen Bögen, so scheint
ein Vogel in der Luft zu fliegen, und nun gewinnst
du Mut, rieselt das Rund einer Baumkrone und
bemerkst den ätherischen Ton, den sie umschreibt,
sich dunkel vom Himmel abheben. Wenige Linien
gebe ihm Aeste, eine einzige, die ihn beinahe hal-
biert, genügt, die eine Hälfte der Krone beleuchtet,
die andere beschattet erscheinen zu lasse n.
Kaum aber willst du greifbarer machen, was
dein Griffel als Hauch gibt, Umriß und Schatten stär-
ker betonen, jenem Baum Blätter, jenem Kopf Au-
gen geben, so fühlst du deine mangelnde Kenntnis,
schauest auf die Natur zum Gesicht deine Nachbarn
oder aus dem Fenster in den Garten, und setzt nun
auf deine Andeutugen, der Natur folgend, mit deut"
heben Linien die Einzelheiten an Kopf und Baum.
Das, was du tatest, ist der Weg jedes Künst-
lers, auch des größten: leise Unterzeichnung halb
auswendig, wie um sich träumend an etwas zu
erinnern, starke Ueberzeichnung, nachdem der.
Anblick der Natur dich mutiger machte. Ehe du
dreist ausdrückst, was du 'di? nicht vorsfelfen
120

kannst, triff zarte Vorbereitungen, sammle Erinne-
rungen und Beobachtungen der Natur zugleich auf
dem Papier, nimm eine Art von Anlauf vor jeder
Studie und halte dich überlegend und sinnend in
diesem ersten Stadium jeder Arbeit, so lange die
schattigen Töne schweben, disponierst du über die
ganze Fläche, kannst jeden Accent verteilen und
jede Gestalt ganz allgemein andeuten und in den
Raum hineindichten, ohne je unlebendig oder leer
zu werden. Dämpfe die Schwärze des Griffels, wo
sie voreilig den gaukelnden Nebel einer noch nicht
fertigen Vorstellung festnageln will.
Indem du einen Löwen wie einen Assyrer aut
bunter Tonplatte so in dein Viereck gewaltig ein-
schreiben willst und tastend seinen Rücken und
Haupt lang fährst, erinnere dich dessen, was den
Löwen von anderen Tieren unterscheidet, der
geschmeidig lange Körper, das Massive der Kinn-
backen, Stahlharte des Blicks,, schleichend Weiche
des Ganges. Erinnere dich den Umriß gestaltend,
damit dein geschäftiger Geist desto leichter des Zu-
fälligen und Kleinlichen Herr werde, daß der Löwe
als Urbild der Würde, des Zornes, der Kraft Ver-
ehrung genoß unid eingeschrieben wurde, eine
tausendmal geprägte Vorstellung, in das Gemüt
der Völker, als Wappen, im Ritterschild, Abzeichen
der Städte, Gewand des Herakles, Beute der Kö-
nige, bald in Gefahr zu verlöschen bis auf einen
Schnörkel im Ornament, wie der Drache.
Rembrandt, der wie keiner die Charakteristik
der Figuren verbindet mit tihrer Sichtbarkeit unter
allen Einwirkungen von Licht und Finsternis, er*
zeugt den Eindruck blendender Beleuchtung^ indem
er die Fassung breiter Schatten die Details liebevoll
einträgt, ohne die Ruhe des Schattens zu Durch-
brechen, und das Auge überrascht, nachdem er es
beschäftigt und an die Dunkelheit gewöhnt hat,
durch die Flut des Lichts an hellen Stellen des
Werks, wo das Unterdrücken der Details und An-
wenden des reinen Umrisses der Figuren den An-
schein der formlösenden Gewalt des Lichts auf das
äußerste steigert. Max Klinger lat in „Malerei und
Zeichnung“ diese Fähigkeit Rembrandts am „Hun-
dertguldenblatt“ erläutert.
Wer aber Rembrandts Platten in den ersten
Zuständen kennt, weiß, daß er solche Wunderwir-
kungen durch die Folie zarter Unterzeichnungen
stets sorgfältig vorbereitete und lange den Gesamt-
ton der ganzen Fläche aufrührte und durchtastete,
ja oft die verhärtete Zeichnung durch Abschleifung
der Platten duftig und allgemein machte, also mög-
lichst andauernd in den schwebenden Tonflächen
verweilte, ehe er sich zur endgültigen Niederschrift
entschloß.
Darum bediene sich der Anfänger eines model-
lierbaren Materials, etwa der Kohle, hüte sich vor
Wischen und Schmieren, blase von Zeit zu Zeit die
Zeichnung hell, oder lichte die ganze Fläche auf,
indem er mit handbreitem, weichem Dachshaarpin-
sel rasch darüber hinstreicht, damit die kräftige
Ueberzeichnung mit schwarzer Kohle oder Rötel,
Bleistift, Aquarell die Unterzeichnung aufzehre,
oder den Nebel ihrer schwebenden Tonfläche ent-
gültig im Raum der Fläche fixiere, als nagle er mit
möglichst wenig Nägeln die reizvollen Formen
eines bauschigen Schleiers auf ein Brett. Den
Ort zu suchen, wo diese Nägel einzuschlagen sind,
die Brennpunkte der Zeichnung, auf denen ihr
räumliches Gerüst sich erhebt, in denen sie schwebt
und hängt wie die Figur des Orion in den Sternen
seines Bildes, diese Punkte zu suchen, ist eben die
Hauptaufgabe der Unterzeichnung.
Die wichtigsten Treffpunkte der Formen,
Schatten, Farben und Bewegung will jene feststel-
len, indem sie deren Wege einzeln verfolgt bis da-
hin wo sie sich treffen. Die Formen gehen ihren
eigenen Weg, die Schatten wie das Licht ziehen

ihre eigene Straße, die Farben brechen hindurch,
da, wo sie wollen, und jede Bewegung verfolgt die
Richtung ihres Interesses durch das räumliche
Gefüge des Ganzen. Ohne sie alle zu trennen,
findest du nie, wo sie verbunden sind, und ohne
Verbindungspunkte kannst du sie nicht ordnen in
der Fläche, kannst nicht mit Fingern, weisen auf das
unvorstellbare, das Lebenszentrum des Bildes, das
vom Betrachter selbst erzeugt werden sollendem
er von Brennpunkt zu Brennpunkt rhythmisch eilt.
Die schwebenden Tonflächen werden nur von
begabten Künstlern mit offenem Blick auf der
Fläche gesehen und dieser Blick gewahrt ihre lei-
sesten Veränderungen und vergleicht sie mit den
Schleiern der Naturerscheinung. Kneife nicht das
Auge zu, reiße es nicht unmäßig auf um, wie man
dich allenthalben lehrt, „die große Masse“ der Er-
scheinung ohne Einzelheit wie durch ein trübes
Glas zu sehen. Du wirst nichts weiter erreichen,
als daß die Formen sich verzerren, indem das Licht
die Schatten überstrahlt und eines jener tausend
undeutlichen Bilder schaffen, in denen Leere mit
Auffassung der Größe verwechselt wird. Man kann
nicht groß sehen, ehe man überhaupt etwas ge-
sehen hat, man wird das Ganze nie umspannen, ehe
man nicht die Einzelheiten eifrig, eindringlich, ge-
nießend durchgetastet hat, das Zufällige nicht vom
Wesentlichen scheiden, ohne zunächst die ganze
Spreu mitsamt den Körnern in das Sieb der Ge-
setze zu nehmen. Von der Naturerscheinung läßt
sich nichts mehr ins Kunstwerk nehmen, als wir
von ihr durchgeistigen, das heißt zurückführen auf
Gesetze, welche die Natur sich selbst auferlegt im
Drange nach Sichtbarkeit.
Wir lernen also: zeichnen, indem wir in der Fo-
lie schwebender Tonflächen alles, was das Modell
bietet, Einzelformen und Farbenwerte, Schatten-
töne und Lichter uns andeutend zusammensuchen,
um diese Andeutungen dann dem Gesetz untertan
zu machen, die Einzelformen auf eine Grundform
zu beziehen, die Schatten vom Licht zu sondern,
beide von der Farbe und uns alles recht sorgfältig
einzufassen, ehe wir mit sicherem Strich entgültig
zeichnen.
Ein Gesicht, eine Landschaft, eine Gestalt groß
schauen, heißt ihren Unterschied von Vorstellungen,
die geläutert im Gedächtnis ruhen^ erkennen, die
individuellen Abweichungen vom Typus als solche
sofort erfassen. Diese Fähigkeit setzt einen mit
allen Mitteln anzustrebenden Zustand innerer Klar-
heit und Ordnung der bereits aufgespeicherten Erin-
nerungsbilder voraus. Die Tiere scheinen dieses
ordnen der Eindrücke in ausgedehnten Mußestun-
den eifrig zu pflegen, daher eine Katze, aus langer
Ruhe plötzlich aufgeschreckt dich mit immenser
Klarheit anschaut und im Nu erkennt, wodurch du
dich soeben von früheren Augenblicken unterschei-
dest, wonach sie sich blitzschnell davonspringend
verhält. Diese große Sicherheit, Ernst und Zweck-
mäßigkeit in Ruhe, Wandel, Entschluß und Hand-
lung der Tiere beobachte fleißig, wenn du sie
zeichnest. Indem das Reh, Kräuter sucht, be-
herrscht sein Ohr und Auge den ganzen Wald, und
weiß das Knacken eines Zweiges oder ein Blitzen
in der Ferne sofort als gefährliche oder ungefähr-
liche Veränderung der Umgebung aufzufassen,,
offenbar, weil es die Vorstellung aller Gegenstände
ringsum tausendmal im Ruhezustände durchge-
siebt hat, und zur raschen Erkenntnis des
Wertes jeder Veränderung im Geiste bereit
hält. Dieser Gabe sollte auch jeder Mensch mäch-
tig sein, zumal im Gewühl der Städte. Darum
siebe ihm der Künstler das Vielerlei der Erschei-
nungen so durch,, daß er in einem Umriß und mit
wenig Farbe möglichst viele bekannte Merkmale
der Dinge in kürzeste Formel bringe, zugleich;
aber das Sehens- und Suchenswerte genial andeuteo.
 
Annotationen