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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 130
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Walden, Herwarth: Kunst und Literatur
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [6]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutnant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0168

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Bei. wenigen Büchern, die mir jetzt angeboten
wurden, stand mein persönliches Ge-
schmacksurteil so lebhaft im Wider-
spruch zur verlegerischen Vernunft
und ich gestehe gern, daß mir die Ablehnung schwer
fällt. Wenn ich überhaupt bei Ihrem übrigen künst-
lerisch so überaus interessanten Roman noch sagen
darf, was mich nicht ganz befriedigt, so ist es dies:
Daß er — selbstverständlich im ernsten künstleri-
schen Sinn genommen — nicht eigentlich span-
nend ist Ich meine dieses „spannend“ in einer
Art, wie es schließlich eben doch jeder Roman
m. E. sein müßte, um auch einen Leser von Kultur
zu fesseln.“
Julins Wolff der Romantiker
In einer alten Nummer der Zeitschrift Boden-
reform vom 20. Juni 1910 wird der Idealismus
schwärmender Jugend vor Julius Wolff ge-
warnt :
„Der vielgelesene Dichter Julius Wolff ist
am dritten Juni gestorben. Das würde uns an die-
ser Stelle nicht berühren; denn seine „süßen Lie-
der“ sind nie tief in soziale Probleme eingedrungen.
Was uns hier nur interessiert, ist die irreführende
Nachricht der Presse, die den Reichtum dieses
Mannes lediglich als einen Erfolg seines dichteri-
schen Schaffens hinstellt. Das ist geeignet, den Idea-
lismus schwärmender Jugend auf Irrwege zu füh-
ren, .und deshalb soll hier ruhig ausgesprochen wer-
den, daß Julius Wolff in der gewerbsmäßi-
gen Terrainspekulation stand. Er saß im
Vorstand des sogenannten Charlottenburger Bau-
vereins, einer reinen Terraingesellschaft. Ob er
geschäftlich in dieser Gesellschaft hervorragend
tätig war, oder ob er nur als Brücke zu Schrift-
steller- und Journalistenkreisen dienen sollte, kann
ein Außenstehender natürlich nicht beurteilen. Daß
die Vertreter der organisierten Terrainspekulation
Wert auf gute Beziehungen zur Presse legen, ist
ja leicht verständlich.“
Man kann natürlich Terrainspekulant sein und
trotzdem mit „Epen“ auch Geld verdienen. Amü-
sant bleibt die Angelegenheit jedenfalls doch.
Man wird geschoben und man schiebt.
H. W.

Menschen von Gottes
Gnaden
Ans den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Mi6-
vflle, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
Von Karl Borromäus Heinrich
' Fortsetzung
Um es vorneweg zu sagen: wenn alle Gefällig-
keiten, die Ludwig Schlagintweit, Sohn eines pen-
sionierten Briefträgers, Fritz Freiherrn von Fran-
gart unaufgefordert erwies; wenn alle rührenden
Züge freundschaftlicher Besorgtheit, die an diesem
herzlichen jungen Menschen während der Zeit
ihres Beisammenseins hervortraten; wenn alle
Grade des Gefühls, zu denen sich seine Zuneigung
verstieg; wenn einem das alles auf einmal gegen-
wärtig sein könnte, und man vergliche hiermit jene
monotone, jederzeit beherrschte Sympathie, mit der
Baron Frangart, zuweilen bei sich selbst, seltener
schon mit freundlichen Blicken, mit Worten voll-
ends nur dann und wann, stets aber kärglich Lud-
wig Schlagintweit dankte, — so möchte man wie-
derum mit einem Vergleich sagen, daß der mit einem
goldenen Kelch Beschenkte einen irdenen Krug als
Gegengeschenk gegeben habe. Aber so einfach ist die

Rechnung nicht. Man muß bedenken, wie ganz von
selbst der Eine aus sich herausging, wie er mit
seinem allzeit offenen Herzen durch die Welt zog,
gleichsam Gott nacheifernd, der die Sonne über
Gerechte und Ungerechte ohne Auslese scheinen
läßt, wohingegen der Andere, zur Unterscheidung
und Distinktion geboren und erzogen, Herzlichkeit im
allgemeinen fast als Schmutz empfand, „weil in ihr
die Schranken fallen und alles durcheinanderfließt“;
den verborgenen Reichtum seines Herzens, gemäß
dem Ratschluß Gottes, bei sich behalten mußte
und vielleicht so schwer daran trug wie ein Baum
an überreifen Aepfeln, die nicht abgeschüttelt wer-
den. Und überhaupt ist in Dingen des Gefühls alles
Urteilen ungerecht. Dies war der Gedankengang,
auf dem sich Ludwig Schlagintweit während seiner
Freundschaft für Baron Frangart und auch lange
nachher noch tröstete . . .
Schon am ersten Tage bat er Baron Frangart,
ihn mittags nach Haus begleiten zu dürfen. Auf
dem Wege gab er ihm Aufschluß über die einzelnen
Mitschüler, einerseits um ihn zu warnen, anderer-
seits um ihm zu zeigen, wem er vertrauen dürfe.
„Ich will niemand vertrauen und niemand miß-
trauen, ich brauche das nicht.“ — „Und trotzdem
müssen Sie sich vor dem Einen oder Andern in acht
nehmen. Warum sollen Sie sich denn Scherereien
machen?“ — „Warum wollen Sie denn, daß ich mir
keine mache? — Sie haben doch auch solche
durchgemacht, sonst wüßten Sie ja nichts davon.“
„Warum ist wurscht, Baron Frangart, warum tut
nichts zur Sache. Ich will Ihnen nur sagen, daß
der dicke Vordermann vor uns, Hans Gabler, zwar
eine Mittelmäßigkeit, aber auch ein windiger Schuft
ist. Und daß der Andere neben ihm, der künftige
Leutnant Groß, an Beschränktheit von niemand
übertroffen wird. Aber ehrlich ist er bis auf die
Knochen, ich sage Ihnen, mich freut jedes Wort an
ihm, so gerad und unüberlegt redet er heraus. Und
die zwei sind Freunde, ganz unglaublich. — Dann
in der dreißigsten Bank) rechts von uns: Müller,
Meier und Huber; die sind nur da, weil ohne sie
die Bank leer stände. Tun keinem was Unrechtes
und keinem was Rechtes. Saufen am meisten
Bier und tarocken fabelhaft. Staatsbürger, einfach
Staatsbürger, Baron Frangart; der eine wird Geo-
meter, der andre Ingenieur und der dritte Archi-
tekt, also höhere Handwerker. Wieder in der Bank
vor ihnen: Mehlmann, dessen Verstand mit Schim-
mel überzogenes Mehl ist; er eignet sich glänzend
zum Juristen. Der kleine Silberstein — wie schon
der Name sagt — der ängstlichste Mensch, den ich
kenne; traut sich nichts zu lernen, weil er fürchtet,
als Streber dazustehen; zahlt immer Bier, um seine
sparsame Rasse zu verleugnen, na, einfach, feig.
Aber trotzdem nicht ganz zu verachten. Am Ende
dieser Bank ein brutaler Schmierfink. Bitte, geben
Sie ihm nie die Hand! Er verdient sie nicht, Herr
Baron. Hat auf dem Eis ein Mädchen irgendwie
besoffen gemacht und ist mit ihr hinter die Hirschau
hinausspaziert. Damals wenn ich nicht aufgepaßt
hätte, — ach, die billigen Mittel von dem Kerl! Er
wird Ihnen sagen, daß Sie sich vor dem indiskreten
Schlagintweit hüten sollen; ich bin nämlich zu den
Zweien hin und dem armen Ding bin ich erst an
ihrem Haus von der Seite gegangen. Gerettet . . .
Schwamm drüber. Die zweite zweisitzige Bank
vor uns, die müssen Sie sich merken: Der Eine
hat ein Lachen, daß einem das Herz aufgeht, und
es soll erwachsene Damen geben, die für ihn
schwärmen: sagt nichts gegen ihn, er wird Bene-
diktiner. Und ein guter, das weiß Gott . . . Der
neben ihm hinkt und stinkt vor Bosheit. Keine mag
ihn, er möchte sie alle, ’s ist ja wahr: der größte
Teil von unse. °r ganzen Bande kann kein weib-
liches Wesen mehr anders ansehen, — aber der,
der notzüchtigt sie mit seinem Gegaff. Dabei

schüchtern, winselt fortwährend um Mitleid. Ver-
drückt und verlogen. Aber, aber feine deutsche
Aufsätze! So was von Sprachgefühl; vielleicht
müssen manche Menschen gemein sein, damit ihr
Geist ungemein wird. — Dann in der ganzen Fün-
ferreihe vor diesen fünf: fünf Prachtstaatsbürger,
die zufällig nicht Müller heißen. Unnütze Mühe,
sich ihre albernen Namen zu merken, einer ist wie
der andere. Gut bin ich jedem, aber wem bin ich
denn nicht gut! Sogar dem kleinen Groll weiter
vorn, der schon seit seiner Geburt schläft. Soll
weiter schlafen, angenehme Ruh! Nicht wahr, Herr
Baron? Man könnte dieses runde bambino be-
mitleiden; vom Eis das schönste Mädchen ist ihm
gut gewesen, hat es aber rein verschlafen.“ Baron
Frangart legte ihm belustigt die Hand auf die
Schulter, zog sie aber sogleich zurück: „Und wie
ist es mit Ihnen selbst?“ — „Richtig, das hätt’ ich
beinahe vergessen! Also ich will Ihnen sagen: ich
bin alles, nur nicht loyal. Republikaner, Demokrat,
Sozialist, Anarchist. Natürlich keines von allen,
aber solche Anfälle kann man kriegen, wenn man
so hineinsieht wie ich. Seien Sie froh, Baron
Frangart, daß Sie die Welt nicht kennen. Wie Sie
sagen, Sie brauchen das nicht. Aber ich brauche
das, weil ich dummerweise die Menschen gern
hab. Auch die Aristokraten, wenn ich darf . . .
Pardon, das war wieder so unvornehm direkt, —
also das bin ich auch. Dann bin ich etwas älter
als die anderen: erstens, weil ich mehr gesehen
habe; zweitens weil mein Vater in Anbetracht sei-
ner kindischen Pension zu spät bemerkt hat, welche
unaussprechlichen namenlosen maßlosen Talente in
mir schlummern . . . Lachen Sie doch ein wenig,
Baron Frangart, nur ein wenig! . . . Nicht?, nun
dann nicht . . . Mein Vater hat diese Talente zu
spät bemerkt und mich erst mit vierzehn Jahren
aufs Gymnasium geschickt. Vierzehn und neun
macht dreiundzwanzig. Also das bin ich; was sonst
noch, fällt mir jetzt gerade nicht ein.“
„Erzählen Sie mir wieder von den anderen,
bitte — es war so amüsant!“ — „Ach, amüsant,
na ja, ich bin eben doch ein Bajazzo, wie die an-
dern sagen. Sie glauben das auch, Herr Baron?“
„Ich glaube nie etwas ,auch‘ . . .“ — „Wenn Sie
es sagen, wird es wahr sein. Und ich mag das,
ich verehre das, ich liebe die Outsider . . . Out-
sider stehen am Anfang und am Ende einer jeden
Welt, oder hören Sie unsern lateinischen Professor:
Solitudo est mater omnium malorum — oh weh,
so heißt es nicht, will sagen: Stultitia est mater
und so weiter —“.
Und Schlagintweit erzählte Baron Frangart von
den andern Mitschülern: von den zwei jüdischen
Vettern Eichhorn, die alle beide so unangenehm
praktisch, aber sehr „gent“ waren; von dem künf-
tigen Mediziner Graßmann, der schon als Junge
in sexueller Freude die Schmetterlinge quälte und
für den Beruf eines Frauen- und Nervenarztes also
alle wünschenswerte Begabung mitbrachte; von
dem notleidenden Jehle, der seine Mutter durch
Lektionengeben ernährte, aber ein Neidhammel
war und nicht sehen konnte, daß es andern gut
ging. Von vier weiteren Staatsbürgern, die alle für
einen Assessor oder Richter oder sonstigen Juristen
nötige Weltfremdheit inklusive Mangel an Ein-
sicht und Ueberfluß an schwammiger Bourgeosie
besaßen, also von natürlich ehrbaren Leuten in
ihrer Art. Von einem, der an eine verborgene Indi-
vidualität in sich glaubte, und da man diese in
einem privaten Landerziehungsheim nicht hatte ent-
decken können, nun doch lieber in einer staatlichen
Anstalt auf ihre Entdeckung hoffte. Von dem quasi
Dandy Wörner, der alle Schülerinnen der Töchter-
Schule mit dem Vornamen ansprechen durfte, weil
sie blöd genug waren, die Vornamen für den An-
blick seines Schnurrbartes herauszugeben; von

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