Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

DOI Heft:
Nr. 136/137
DOI Artikel:
Seidel-Turin, Curt: Deutsche Romane
DOI Artikel:
Adler, Joseph: Die Literatur in Trauer
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0218

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Eau de Cologne No. 4711 und Syphilis. Gott hat
den Menschen aus einem Klumpen geschaffen;
der Romanschriftsteller hat ihn mit Klümpchen
beschmutzt. Das heißt, der feige an Größenwahn
leidende Tagdieb betrügt die Welt mit gedruck-
tem Papier und besudelt sie mit Dilettantismus.
Liebesidyll. Er, Sie und der Andere: feine
Gesellschaft. Dichter, große Dichter natürlich,
Maler. Offiziere, Gräfinnen und Zuhälter in Glace-
handschuhen. Herren und italienische Sängerinnen
aus Wannsee. Kluge, außerordentlich kluge Men-
schen. Es riecht nach Leichen. Nach vierhundert
Seiten wird Hochzeit gefeiert. Ein ehrlicher
Mensch hätte das mindestens gleich am Anfang-
besorgt. Spaß muß sein, und den kann man ruhig
für fünf Mark verlangen. Was sind überhaupt
lumpige fünf Mark für die deutsche Kultur? Man
verkauft zwar faule Witze — ich weiß nicht,
ob Herr Bong sie gut bezahlt — aber niemand
wird wagen auch nur den Schatten eines Kunst-
werkes zu verkaufen. Aber schöne, große Seifen-
blasen, worin sich Gefühle verbergen, die hoch
in die Lüfte fliehen. Höhere Töchterschulgefühle.
Tanzlehrerbildung und Papageigeisteserziehnng:
so oberflächlich wie irgend möglich; sonst aber
nach Maß angefertigt wie es sich ziemt.

Verwechslungshalber reist man nach Italien.
Italien — wers nicht wissen sollte! — ist das
Land der Sonne und der Liebe. Wer nach Italien
geht, hat selbstverständlich einen Schmerz zu ver-
gessen, Lungenschwindsucht zu heilen, Langeweile
totzuschlagen oder auch eine Liebe zu befestigen.
O bella Italia! Jeder deutsche Analphabet wird
hier zum Dichter: jeder Geometer zum Maler:
jeder Saitenrasper zum Musiker; Homosexualis-
mus mit Gitarrengeklimper; Blumenmädchen mit
Mondenschein. Auch ein Ochse muß zum Dichter
werden. Paul Heyse ist in Italien Dichter gewor-
den! Santa Lucia! Santa Lucia! Wie das die
Herzen erregt. Tränen rollen in den Golf von
Neapel und ertrinken. O bella Italia . . .
flucht auf italienisch die unschuldige Geheimrats-
tochter, beim Anblick des Mondes seufzend, und
der Referendar — der Dichter in Windeln — sinkt
auf die Knie nieder. Wer aber zum Schmerzver-
gessen in den „Garten Europas“ eilte, ersäuft
seinen Kummer im Chianti oder schießt sich bei-
nahe eine Kugel durch den Kopf: dann hängt der
Himmel voller Geigen und das „herrliche, tugend-
hafte, kluge, jungfräuliche Geschöpf“ — ein Pfund
Lulu und zwei Gramm Jeane d’Arc — fällt ihrem
kleinen Goethe um den Hals. Vorhang fällt. Aber
der blecherne Mond erleuchtet auch fernerhin die
alten Kulissen.
Wachsfigurenkabinett im bayrischen Ober-
walde. Umgebung: frei nach Defregger. Kostüme
von Herzog in Berlin. Die Kirche, drei Bauern-
häuser aus Pappe; ein sogenanntes Gemeindeamt,
die Dorfkneipe und auf der Anhöhe den Adelssitz
der Herren v. H. Dazu haben wir einen Kurator,
manchmal, sogar zweie (wenn der Autor guter
Laune ist); einen Doktor; sittliche Jungfern;
Bauernburschen; einen jungen Schloßherrn, der
Tolstoi nachäfft. Man arbeitet nur nach erstklas-
sigen Schablonen. Jedes Gesicht eine Larve. Die
Handlung liegt im Zufall; nur der Betrug ist
schlecht verhüllt. Die Welt voller Mißgeburten,
mit denen der Schöpfer kein Erbarmen kennt.
Kinderspielzeug: Haß, Liebe, Sonntagspredigten,
Vergewaltigungen (Modell des alten Herren von
Jasnaja Poljana), Einzug des Sozialismus — das
heißt: Leichenschmaus — Raufereien, Kirmessen

und Tanzmusik, Kuhgebrüll und Glockenläuten,
Dorfklatsch und grüne Wiesen, Windmühlen und
Tannenwald: blödsinniges Feuerwerk, womit man
den Großstädter von der Naivität des Landlebens
zu überzeugen gedenkt. Kein Zug echten Lebens
bewegt die feiernden Dörfler. Kein Hauch von
Kunst durchweht die Gestalten. Alles liegt im
Aeußeren: vom Feiertagsanzug zum ewig-christ-
lich-blauen Himmel. Nur die Windmühle dreht
sich lustig im Kreise und weht den umgrenzenden
Bäumen frische Luft zu. Alles bleibt unentschie-
den, unsinnig, langweilig. Jeder Zufall ist voraus-
zusehen, eben weil man nur die infamen Expe-
diente anderer Modelle benutzt. Die Erde wim-
melt vor unlauteren Absichten. Blind hat man fal-
sche Farben aufgetragen. Darunter lugt unvor-
sichtig Geisteselend hervor: Kunstarmut. Die zer-
rütteten Verhältnisse des Pharisäertums; des
Philisterreiches haben einen verderblichen Wol-
kenhandel in der Kultur eingeführt. Leichen wol-
len sich als Herrscher und Herren aufdiängen und
merken nicht, — daß aus ihren Totenschädeln der
Schatten selbst jeder Vernunft entflohen ist.


Die Literatur in Trauer
Die Literatur ist eine Wittib, sie trauert um
Albert Traeger. Die Partei, der er als Führer fast
ein halbes Jahrhundert lang angehörte, hat an sei-
nem Grabdenkmal das Gelübde erneuert „ i n
seinem Geiste den politischen Kampf
w e i t e r z u f ü h r e n für den Fortschritt
und für des Volkes Recht und Wohl-
fahrt“.
Die garstige Politik hat wenigstens den Trost:
„daß Traegers Erbe gewahrt bleibt, und daß sein
Wahlkreis der Partei nicht verloren gegangen ist“.
Aber die Literatur muß trostlos um ihn trauern.
Der Gerichtssaal hat den Heimgang des fein-
sinnigen Juristen glatt verschmerzt, und für
die deutsche Frau ist der Stammvater der
jugendlichen Alten überhaupt gar nicht
gestorben. Und wie sagte sie das so ergrei-
fend schön:
„Ich aber, eine deutsche Frau,
Ich fühle keinen Schmerz und keine Trauer.
Du großer Barde bist uns nicht gestorben,
Du, der so oft der Frauen Lob gesungen,
Beim schäumenden Pokal des Geistes
Schwert geschwungen,
Mit allen Frauen lebst du ewig fort.“
Sie wird mit sich handeln lassen. Auf Ehre.
Einige tausend Jahre müssen sie nachlassen, Ma-
dame. Nein. Niemals. Aber, Madame, ’s ist ja
allens bloß Uffmachung. Nichts Echtes. Nichts
Echtes? O, mein Tyrtäus der schwarz-
rot-goldenen Zeit, wie schmäht er dich.
Kein Jahrzehnt lasse ich nach. Und das Geistes
Schwert, das du so hinreißend schön geschwungen
hast, wiegt allein schon für meinen Preis. Sie,
wat det Jeistesschwert is, det jehört schon längst
mangs olle Eisen. Dafor jibt’s keen Sechser mehr.
Aber er war ja doch ein einzig Gearteter. Ein
Kämpe, ein Sänger. Der letzte Zeuge einer
stahlgepanzerten Zeit. Weeß ich, det
hat ja in der Morjenpost jestanden. Oder ins

Tageblatt. Er war der Sänger des edelsten Fa-
milienglücks, der Bannerträger des Fortschritts;
er hat sein Leben lang für Freiheit und Volkswohl
gestritten. Gekämpft. Lassen Sie schon drei
Jahrtausende nach. O, quälen Sie mich nicht län-
ger. Ich bin jene deutsche Frau, auf die er die
reizendsten Toaste ausgebracht hat. Drei Jahr-
tausende. Rasch. Bedenken Sie, daß die Litera-
tur um ihn trauert. Die Literatur. So seh’n Sie
aus. Die Literatur. Lachhaft. Und doch trauert
sie um ihn. Der D r. W i e m e r hat es gesagt.
Am Dreifaltigkeitskirchhof. Anläßlich der Enthül-
lung des Grabdenkmals für den Unvergeßlichen.
Der Dr. Wiemer?
Es ist in den letzten Monaten, seit Traegers
Tod, allerlei zur Erheiterung der Literatur ge-
schehen. Etliche Meister sind fünfzig geworden.
Schnitzler, Dreyer, Fulda, Otto Ernst und Con-
rad Alberti-Sittenfeld. Das Komödienhaus, wo der
Librettist Lothar „das Szepter schwang“,
hatte seine Pforten mit Dreyer und Fulda eröffnet.
Der lächelnde Knabe war zwar nicht lebensfähig
und die „Feuerversicherung“ hat nicht gezündet,
aber die Presse, die die ihrigen nicht verläßt, Lob
und Zuspruch verschwendet. Man hätte sie unter
Kuratel stellen mögen. Selbst der gefürchtete
Alfred schmunzelte allerliebst. Aber das war auch
eine Doppelgeburtstagsfeier und gar nicht so ein-
fach. Bedeutungsvoller im Rahmen des Regie-
rungsantritts eines Kollegen, der die Krone des
Erfolges mit dem Purpur des eifrigen Beifalls zu-
gesichert bekommen wollte. Das königliche
Schauspielhaus hat eine Ehrenschuld e i n g e 1 ö s t,
die es einem gegenüber hatte, der selber von
der Literatur borgte. Ein breitflüssiges Stück
wurde ungekürzt gegeben, Szenen schlugen ein,
Beifall schwoll von Akt zu Akt, aber die Dar-
stellung stand auf hoher Stufe — und schaute
herab. Das zu erleben, hat ein Band grau
werden müssen. Der Ruhm wird verramscht, und
es muß manch einer, der zu Lebzeit der Literatur
nur auf die Schleppe getreten hat, aus dem Schat-
tenreich auferstehn, weil sich dieser und jener in
ein vorteilhaftes Licht setzen will. Die kuriose
Literatur. Ihre bedeutendste Söhne sind erst fünf-
zig geworden, aber sie trauert um Traeger. Trau-
ert noch um ihn. Man wird ihr das Trauergewand
von den Gliedern reißen müssen, der Närrin. Man
wird ihr ernstlich zum Tanz aufspielen lassen.
Lacht Ihr ins Gesicht, der Törin. Der Genarrten.
Sie trauert um den Tod Traegers. Es leben noch
hunderte Dilettanten. Seine politische Tendenz
hat eine lyrische Verschnürung des Innenlebens
begleitet. Allerdings. Aber die Verschnürung
war bindfadendünn. Die politische Sendung?
Bruttogewicht: der Liberalismus
Tara: die Pose
Nettogewicht: die große Phrase.
Joseph Adler

Verantwortlich für die Schriftleitung:
Herwarth Walden / Berlin W 9



219
 
Annotationen