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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 127/128
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Walden, Herwarth: Ueber Malerei insbesondere über tote und lebende Genußtiere
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Rivière, Jacques: Baudelaire, [1]
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Friedlaender, Salomo: Adler und Zaunkönig
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0155

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bewußtsein, das dieses Tier zum Liebling unserer
Vettern jenseits des Kanals macht“. Die Vettern
dürften sich für diese Base mit dem knurrigen
Selbstbewußtsein bedanken. Und zum Schluß, o
Lieblichkeit über Lieblichkeit, „Julius Adam hat
eine seiner beliebten Katzenfamilien, die erst neu-
lich anläßlich des siebzigsten Geburtstages des
Künstlers ihre Würdigung hier fanden, geschickt“.
Wenn nur die lebenden Genußtiere die toten nicht
auffressen.
So malt sich in dem Kopfe des alpinen Münche-
ner Kunstkritikers die Welt, die Malerei heißt.

H. W.


Baudelaire
Von Jacques Rivlere
Uebertragung aus dem Französischen von Jean-Jaques
O vous, soyez temoin que i’ai fait mon devois
Comme un parfait chimiste et comme une äme sainte.
Baudelaire
Er ist mitten unter uns. Er zieht sich nicht in
die Wüsten zurück, um als Dichter und Prophet
zurückzukehren. Er wird die Natur nicht anflehen,
ihn göttlich zu machen. — Aber er ist mit uns. Ich
sehe ihn auf der Straße: er denkt an seine Schulden
und geht dahin und recht ununterbrochen. Er baut
Luftschlösser über Artikel, deren Bezahlung ihn
rangieren könnte. Oder vielleicht denkt er über
irgend eine Liebenswürdigkeit für den Freund nach,
den er besuchen geht. Oder vielleicht „arbeitet“
er noch innerlich an einem Gedicht, stellt Worte in
Ordnung, die nicht recht zueinander passen. —
Vielleicht hätte ich ihn gekannt — hätte ich nur
seine Einfälle und Launen kennen gelernt. Aber
er hatte eine Seele. Er trug sie mitten unter seinem
Leben. Sie war zugegen, wenn irgendein Leiden
oder eine Gier sich seiner bemächtigte. Sie war
bereit, alles mitzufühlen; nicht mit Dilettantismus,
sondern wie eine echte arme, für die Sorge und
Sorgfalt geschaffene Seele. Die Seele, das unbe-
kannte in uns, das alle unsere Abenteuer lauernd
beobachtet! Bei sich zu Hause ließ er sie sich
befreien. Sic sprach klug und erzählte ihre Prü-
fungen leidenschaftslos, glanzlos. Sie bestand ihr
Gewissensexamen. Und dennoch: sie allein klagt
sich nicht mehr an, aber meine Seele und die eure,
die wir doch so sorgfältig zurückgehalten hatten,
und die wir nicht so großer Leidenschaften fähig
erachteten.
I
Beherrschte Poesie
Du machst den Eindruck eines schönen Schif-
fes, 'das in See sticht.x)
Sie ist voll lehrreichen Inhalts. Sie schwebt
gehorsam mit ihren fügsamen Fängen. Man fin-
det keine Verse, die sich in einen graden unend-
lichen Weg zwängen, die sich einer dem andern
anschmiegen, die sich von selbst vermehren. Aber
jedes einzelne Stück ist das reine Umgehen einer
Strömung, die Treue des Wassers zwischen sich
windenden Ufern.
Diese geführte Poesie reißt alle Worte in
ihrer Zahl mit sich. Die seltensten stehen neben
den gebräuchlichsten, die bescheidensten neben
den kühnsten. Aber, untergehend in der sicheren
und zarten Bewegung des Gesamten, überrascht
keines. Merkwürdiger Schwung der Worte! Bald
wie eine Ermüdung der Stimme, bald wie eine
plötzliche, das Herz überkommende Bescheiden-
heit, wie ein geschmeidiges Dahinschreiten, wie
ein Wort voller Schwäche:

1) Tu fais Pfiffet d’un beau vaisseau qui prend le
large. „Le Beau Navire“. Fleurs du Mal. p. 164

Et qui sait si les fleurs nouvelles que je rfive
Trouveront dans cesal lave comme une greve
Le mystique aliment qui ferait leur vigueur.x)
Oder:
Cybele, qui les ahne a u g m e n t e ses
verdures. 1 2)
Scharfsinnige Einschränkung, die die Gedrängt-
heit des Verses schwächt. Wahl der Geringfügig-
keit. Kompromiß mit 'dem Schweigen.
Manchmal dagegen kämpfen die stärksten
Wörter voller Wut, erstickt. Sie grollen ohne
Schrei. Sie sind den Flüssen entrissen und ver-
lieren sich in der stummen, verhaltenen Macht des
poetischen Schwunges:
Cheveux bleus, papillon de tenebre tendues,
Vous me rendez I’azur du ciel immense et rond;
Sur les bords duvetes de vos meches tordues
Je m’enivre ardemment des senteurs confondues
De l’huile de coco. du musc et du goudron.3)
Aber immer übt der Dichter seine Herrschaft
über seine Dichtungen aus. Er leitet sie, langsam
und durchgeführt. Wie es ihm paßt, zu ihrem
Ziele. Er lenkt durch seinen einflußreichen Ge-
schmack. Er bedient sich gern ungeahnter Worte
— man könnte sagen abgeschmackter Worte. Aber
er tut es, um ihre Sonderbarkeit zu schwächen, um
eine Harmonie über sie auszugießen, um das Ab-
fließen einzuengen, das er ihnen, launenhaft geöff-
net hat.4) Wie die, die sich vollkommen dessen,
das sie sagen wollen, bewußt sind, sucht er die
fernsten Ausdrücke; dann führt er sie näher heran,
beschwichtigt sie, gibt ihnen eine Gemessenheit,
die man an ihnen nicht kennt.
Er ist Dichter, das heißt er gestaltet
Verse wie eine kühne, nützliche und wohlüberlegte
Arbeit.
Eine solche Poesie kann nicht Inspiration sein.
Zweifellos ist sie begeistert, eine Begeisterung, die
jedoch nur die Befreiung der arbeitenden Dichter-
kraft ist. Baudelaire beschreibt sich selbst in
seinen Irrungen, wie er dichtet:
Heurtant parfois des vers depuis longtemps
reves. 5 6)
Die sprudelnden Sätze, die die ursprünglichsten
zu sein scheinen, sind immer wie eine plötzliche
Auflösung, wie ein vorbereiteter Blitz. Wie der
steigende, zarte Gedanke sich ohne Eile der Dun-
kelheit, die er war, entzieht, so behält auch der
poetische Fluß trotz seinem Wirkungsvermögen
eine gewisse Langsamkeit:
J’aime de vos longs yeux la lumiere verdätre . .8)
Er ist einsam wie eine große Blume. Bei Bau-
delaire wuchern die Gleichnisse nie so wie bei den
Inspirierten. Der Dichter fürchtet die dichterischen
Situationen. Gedanken, deren einfaches Aussagen
ringsum die Metaphern wie Flammen aufglühen
läßt. Er ist nicht gern von dem Glanz seiner Ein-
fälle umgeben und umschlossen. Er gibt sich nichts
im Anfang. Aber die Bilder entstehen rings um sein
Wort; von ihm erweckt, erheben sie sich; sie blei-
ben bei ihm; sie bilden einen geordneten Festzug.
Sie klammern sich an einen einfachen Vokativ,
stützen ihn, erfüllen ihn mit dichtem, düsterem
Lichte:
Je t’adore ä l’egal de la voüte noturne.
O vase de tristesse, ö grande taciturne ....

1) L’Ennemi, p. 101
2) Bohfimiens du voyage, p. 104
3) La Chevelure, p. 120
4) Claudel sagte von Baudelaires Stil: „Es ist ein
merkwürdiges Gemisch aus dem Stil des Racine
und dem Stil der Journalisten seiner Zeit“.
5) „Le Sobeil“, p. 251
6) „Chant d’Automne“, p. 173

Sie sind die Gestalt selbst der Ausdrucksweise,,
sie schmiegen sich dem Satz an:
Quand vers toi mes desirs partent en caravane,.
Tes yeux sont la citerne oü boivent mes
ennuis. . .*)’
Sie gleiten in den Dialog; sie sind in der Frage
und in der Antwort:
D’oü vous, disiez-vous, cette tristesse ctrange,
Montant comme la mer sur le roc noir et nu?2)
Und in der „Chevelure“:
N'es-tu pas l’oasis oü je reve, et la gourde
Oü je hume ä longs traits le vin de Souvenir?3)
Fortsetzung folgt
1) „Sed non satiata“, p. 123
2) „Semper eadem“, p. 145
3) „La Chevelure“, p. 120

Adlen-und Zaunkönig
Von Dr. S. Friedlaender
Herr Carl Albrecht Bernoulli, der mein Buch
„Friedrich Nietzsche / Eine intellektuale Bio-
graphie“ vor kurzem in der „Frankfurter Zeitung“
besprochen hat, läßt mich als „Zaunkönig“ figu-
rieren, „der sich aus den Schwingen des ermüdeten
Adlers noch um ein Stück höher über ihn erhebt“,
und „der Respekt vor den siebzehn Bänden, die
Nietzsche hinterlassen hat. verträgt sich nicht recht
mit einem solchen Zaunkönigsflug“. Nun behaupte
ich — die Beweise liegen in jenen „siebzehn“ und
meinem einen Bande ad oculos demonstriert -—:
Nietzsche ist kein „ermüdeter“ Adler, das Gleich-
nis hinkt aber auf mehr als einem Bein. Von der
Auffassung Nietzsches als ermüdeten Adlers ist der
Rückschluß auf eine Froschperspektive, in der man
Adler und Zaunkönige leicht verwechselt, sehr nahe-
gelegt. Zu solchen Höhen aufblickend, kann selbst
der scharfsinnigste Rezensent, wenn es ihm an Re-
spekt (nicht vor bereits bekannten, sondern) vor
unbekannten Größen gebricht, einer perspek-
tivischen Täuschung unterliegen. Das Große
schätzt jeder, der es nur sieht; aber beim
„Kleinen“, ja Mikroskopischen, da nehmt euch in
acht! Hier nutzt euch die Berufung auf die
Augen sicherlich beim Vulgus (des Denk- und
Lesepöbels), niemals beim Kenner. Das Kleine kann
klein sein oder klein scheinen. Siebzehn aus-
gewachsne Bäume lassen sich hier leichtfertig
gegen ein Samenkorn ausspielen. Also, der Re-
zensent hat darin recht, daß er mich
winzig findet; er irrt aber darin, daß
er diese Winzigkeit für das Auge als
eine für die Einsicht nimmt. — Bekannt-
lich trägt der Adler Zarathustra’s eine Schlange um
seinen Hals geringelt. Mein Grundgedanke ver-
gleicht sich lieber dieser Schlange. Sie ist
„buntscheckig“, sie kriecht und windet sich, sie
käme, ohne Adlerschwingen, nicht zur Höhe —
aber sie ist kein Zaunkönig. Gegen diese Meta-
morphosierung protestiert sie kraft Nietzsches eige-
ner Gewalt und aus der Machtvollkommenheit des
Gedankens aller Gedanken, den diese uralte listige
Schlange gewiß noch vernehmlicher ins Ohr des Ad-
lers reden wird. Es gilt den Rangstreit der Gedan-
ken, keiner Personen. Die Philosophie kennt nicht
Kant, sondern „die Kritik der reinen Vernunft“; sie
kennt schon deshalb keinen Friedlaender, weil sie
keinen Nietzsche kennt. Und gesetzt, Friedlaender
wäre Zaunkönig — es gibt nicht soviel Zaunkönige,
die sich eines Adlers bedienen können. Aber
schließlich bleibt es bei der Schlange: und bei
allen Täuschungen der Froschperspektive.'

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