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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 148/149
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Apollinaire, Guillaume: Die moderne Malerei
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Bommersheim, Paul: Die Überwindung der Perspektive und Robert Delaunay
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0270

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Die moderne Malerei
Von Guillaume Apollinaire
In Frankreich entstanden im neunzehnten
Jahrhundert die verschiedensten und neuesten
Kunstbewegungen, die alle zusammen den Im-
pressionismus ausmachen. Diese Richtung ist der
Gegenpol der alten italienischen Perspektivmale-
rei. Wenn diese Bewegung, deren Anfänge man
schon im achtzehnten Jahrhundert wahrhnehmen
kann, sich auf Frankreich zu beschränken scheint,
so kommt das daher, daß Paris im neunzehnten
Jahrhundert „die “ Kunststadt war. In Wirklich-
keit ist diese Bewegung nicht mir französisch,
sondern europäisch. — Engländer, wie Constable
und Turner, ein Deutscher wie Marees, ein Hol-
länder wie van Gogh, ein Spanier wie Picasso
haben eine große Rolle in dieser Bewegung ge-
spielt, die nicht nur eine Kundgebung des franzö-
sischen Genies, sondern der universellen Kultur ist.
Immerhin faßte diese neue Kunst zuerst in
Frankreich Fuß, und die Franzosen drückten sich
in dieser Kunst in größerer Anzahl und mit mehr
Glück aus als die Maler der anderen Nationen.
Die größten Namen in der modernen Malerei von
Courbet bis Cezanne, von Delacroix bis Matisse
sind französische Namen.
Man kann vom künstlerischen Kulturstandpunkt
behaupten, Frankreich spiele die Rolle, die Italien
für die alte Malerei spielte. Später studierte man
diese Richtungen der Malerei in Deutschland mit
mindestens ebensoviel Eifer wie in Frankreich bis
zu den „Fauves“. Da beginnt der Impressionis-
mus sich in persönliche Tendenzen zu verwan-
deln, die, zuerst suchend, jetzt jede einen persön-
lichen Weg zum lebendigen Ausdruck des Er-
habenen eingeschlagen haben.
* ... *
In der Literatur ist in Frankreich dasselbe ge-
schehen; hier vereinigt jede neue Bewegung die
verschiedensten Richtungen. Ihr Name „Drama-
tismus“ drückt nicht das Antideskriptive aus, das
in den Werken der Dichter und der Prosaschrift-
steller vorherrscht. Zu diesen gehört Barzun,
Mercereau, Georges Polti und auch ich.
* *
Ebenso gibt es in der modernen Malerei neue
Tendenzen; die bedeutendsten scheinen mir einer-
seits der Kubismus Picassos, andererseits der Or-
phismus Delaunays zu sein. Der Orphismus ist
aus Matisse und der Bewegung der „Fauves“
entsprossen und zwar aus ihrer antiakademischen
und leuchtenden Tendenz.
Der Kubismus Picassos ist aus einer Bewe-
gung entstanden, die von Andre Derain ausgeht.
Andre Derain, eine unruhige, in Form und
Farbe verliebte Persönlichkeit, gab, als er zur
Kunst erwachte, mehr als Versprechen, denn er
erweckte in denen, die er begegnete, die eigene
Persönlichkeit: Bei Matisse erweckte er den
Sinn für symbolische Farben, bei Picasso den für
neue erhabene Formen. Dann lebte Derain zu-
rückgezogen und vergaß für eine Zeit an der Kunst
seiner Epoche teilzunehmen. — Das Wichtigste
in seinen Werken sind die ruhigen, tiefen Bilder,
(bis 1910), die solchen Einfluß ausübten, und Holz-
schnitte, die er für mein Buch „l’enchanteur pour-
risant“ schnitt. Diese Schnitte gaben das Zei-
chen für eine renaissance des Holzschnitts, einer
geschmeidigeren, weiteren Technik als die Gau-
guins zum Beispiel; dieses Wiederaufleben des
Holzschnittes galt für ganz Europa.
* * *
Jetzt die Haupttendenzen der modernen Male-
rei. Der authentische Kubismus — wenn man sich
absolut ausdrücken will — wäre die Kunst, neue
Zusammenstellungen mit Formalelementen zu
272

malen, die nicht der Realität der Vision, sondern
der der Begriffe entlehnt wären.
Diese Tendenz führt zu einer poetischen Male-
rei, die außerhalb der Betrachtung steht; denn
selbst im Falle eines, einfachem Kubismus zwänge
die Entfaltung der notwendigen geometrischen
Fläche, um eine vollkommene Vorstellung eines
Gegenstandes zu geben, hauptsächlich bei Gegen-
ständen, deren Formen nicht absolut einfach sind,
den Künstler ein Bild wiederzugeben: das, selbst»
wenn man sich die Mühe gäbe es zu verstehen,
vollkommen von dem Gegenstand entfernen
würde, dessen Vorstellung, also dessen objektive
Wirklichkeit man geben wollte.
. Die Legitimität einer solchen Malerei kommt
gar nicht in Betracht. Jeder muß zugeben, daß
ein Stuhl, von welcher Seite man ihn auch be-
trachtet, niemals aufhört vier Beine, einen Sitz
und eine Lehne zu haben und daß, wenn man ihn
eines dieser Elemente beraubt, man ihn eines
wesentlichen Elementes beraubt. Und die Primi-
tiven malten eine Stadt nicht wie die Personen
im Vordergründe sie hätten sehen können, son-
dern so, wie sie in Wirklichkeit war, also voll-
ständig, mit Toren, Straßen und Türmen. Eine
große Anzahl Neuerungen, die man in diese Art
Bilder einführte, bestätigen jeden Tag diesen
menschlichen und poetischen Charakter.

Picasso und. Braque nahmen Buchstaben von
Schildern und andern Inschriften auf, weil in der
modernen Stadt die Inschrift, das Schild, die Re-
klame eine sehr wichtige künstlerische Rolle spielen
und geignet sind in das Kunstwerk aufgenommen
zu werden. Manchmal hat Picasso auf die gewöhn-
lichen Farben verzichtet, und Reliefbilder gemacht
aus Pappe, Bilder aus zusammengeklebten Papier-
stückchen; er verfuhr nach einer plastischen Inspi-
ration, und diese sonderbaren, groben und nicht
zueinander passenden Materialien wurden edel,
weil der Künstler ihnen seine zarte und starke
Persönlichkeit gibt.

sondern indem sie gleichzeitig alle Farben des
Prisma erregt. Diese Tendenz, kann man Orphis-
raus nennen. Diese Richtung, glaube ich, ist besser
als anderen, der Empfindsamkeit mehrerer neuer
deutscher Maler verwandt.
* * *

Diese dramatische Bewegung in der Kunst und
in der Poesie wird in Frankreich immer stärker;
sie ist hauptsächlich vertreten durch die Arbeitet
von Fernand Leger, dessen Versuche unter den
jungen Malern sehr beachtet werden; dann durch
einige Bilder von Mlle. Laurencin, durch die neuen
Werke Picabias, die in ihrer Wuchtigen Heftigkeit
das Publikum des „Salon d’Autoume“ und der
„Section d’Or“ empören, und schließlich durch die
merkwürdigen Bilder von Marcel Duchamp, der
versucht die Bewegung des Lebens zu symboli-
sieren etc. etc.

Zu dieser Bewegung gehören -— instinktiv —•
noch die interessantesten deutschen Maler wie
Kandinsky, Marc, Meidner, Macke, Jan Censky,
Münter, Otto Freundlich etc. Zu diesem Or-
phismus gehören auch die italienischen Fu-
turisten, die aus den „Fauves“ und den Ku-
bisten entstanden, es nicht für richtig hielten,
alle entweder perspektivischen oder psychologi-
schen Konventionen wegzuschaffen. ' -

Diese zwei Bewegungen sind die Bewegung
einer reinen Kunst, weil sie nur das Vergnügen un-
seres Sehvermögens bestimmen. Es sind Bewe-
gungen reiner Malerei, weil sie sich zum Erhabe-
nen erheben, ohne sich auf irgend künstlerische,
literarische oder wissenschaftliche Konvention zu
berufen. Wir sind trunken vor Begeisterung. Wir
erheben uns hier zum plastischen Lyrismus.

Zu dieser Richtung gehören Georges Braque,
Jean Metzinger, Albert Gleizes, Jean Gris und ei-
nige Werke von Marie Laurencin.

Eine Unterströmung bildete sich in dieser
Hauptströmung: Der phsische Kubismus, der darin
besteht, neue Zusammenstellungen zu schaffen,
mit Elementen, die der Wirklichkeit der Vision
entlehnt sind. Es ist keine reine Kunst, und diese
Richtung gehört nur durch ihren konstruktiven
Schein zum Kubismus.

Eine andere Richtung des Impressionismus stei-
gert sich dem Erhabenen, dem Lichte zu. Die
Bemühungen der Impressionisten hatten diese da-
hin gebracht, das Ebenbild (le simulacre) des Lich-
tes zu malen. Dann kam Seurat; er entdeckte den
Kontrast der Komplementärfarben, konnte sich
aber vom Bilde nicht losmachen, weil ein Kontrast
nur durch sich selbst bestehen kann; trotzdem war
diese Bemühung beträchtlich, wenigstens in der
Hinsicht, daß sie vielen neuen Suchern den Weg
ebnete.

* *

Delaunay glaubte, daß, wenn tatsächlich eine
einfache Farbe ihr Komplementfarbe bedingt, sie
diese nicht bedingt, indem sie das Licht zerbricht,

Ebenso erhebt sich die neueste Dichterbewe-
gung, die wir in Frankreich unter dem Namen
„Dramatismus“ kennen, zu diesem konkreten, di-
rekten Lyrismus, den beschreibende Dichter nicht
erreichen können.
Diese schöpferische Tendenz erstreckt sich jetzt
auf das All. Malen ist keine nachbildende Kunst
sondern eine schaffende. Mit diesen orphe-
ischen und kubistische Bewegungen gelangen wir
in vollster Poesie ans helle Licht.
Ich liebe die Kunst der neuen Maler, weil ich
vor allem das Licht liebe.
Und da alle Menschen vor allem das Licht lie-
ben, haben sie das Feuer erfunden.
Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen; von
Jean-Jacques

Die Ueberwindung der
Perspektive und Robert
Delaunay
Von Paul Bommersheim
Die Perspektive ist der Ausdruck einer mecha-
nistischen Geistesrichtung. Das mechanistische
Denken sieht im ganzen die Summe seiner Teile
und glaubt das Ganze durch Addition seiner Teile
 
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