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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 109
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Berliner Frühling
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Beachtenswerte Bücher
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men. Wie immer bildete den Schluß der Ver-
anstaltung ein Tanz, an dem sich die frische,
knospende Jugend wie die Reserve und Land-
wehr um die Wette beteiligten.
Die knospende Junge — Erhöhung der
Friedenspräsenz — Reserve — Landwehr — Lach-
salven — Verstärkte Ausbildung der Ersatzreserve
— Donnernder Beifall — Mehr Schiffe — Wett-
rüsten bis zur Erschöpfung — Wettschwingen
des Geistesschwertes — Lachsalven — Notaus-
gang aus diesem Frühling, wo bist du?
Der andere Morgen gehört immer der Moral
Die Morgenpost sagt:
Daß die Berlinerinnen schön sind, das
wissen wir, die wir sie täglich in ihren
mannigfachen Reizen bewundern kön-
nen, zur Genüge, daß sie aber auch in einem
Lande, in dem bekanntlich die schönsten
Frauen zu sehen sind, erfolgreich bestehen
können, beweist ein Privattelegramm über die
Damenschönheitskonkurrenz, die gestern in
Meran unter lebhaftester Beteiligung stattfand.
Sämtliche vier Preise erhielten Berlinerinnen.
Ja, die Redaktionsmitglieder der Firma Ull-
stein sind fein heraus. Tagtäglich können sie die
mannigfachen Reize der Berlinerinnen bewun-
dern, und sie werden obendrein dafür bezahlt.
Aber einer, der beiläufig nur Kaufmann ist, muß
sich die Bewunderung der mannigfachen Reize
der Berlinerin etwas kosten lassen, und das, wie
wohl es sein gutes Recht ist, kann ihm, wenn
er Unglück hat oder eine brutale Natur ist, sehr
teuer zu stehen kommen.
Aus Scham und Verzweiflung darüber,
daß sie einem Verführer „ins Garn gegangen"
ist, hat am gestrigen Sonntagmorgen, die 18 jäh-
rige Verkäuferin Anna Sch. ihrem Leben ein
Ende zu machen gesucht. Das junge Mädchen
hatte am Sonnabendabend die Bekanntschaft
eines Herrn gemacht, der sich ihr als der Knuf-
f' mann L. vorstellte. Der Fremde lud sie ein,
mit ihm ein Cafe zu besuchen. Das Paar be-
suchte dann noch mehrere Restaurants, wobei
der Kaufmann seine Begleiterin zu veranlassen
wußte, alle möglichen Getränke zu sich' zu
nehmen. Die Kleine wurde schließlich völlig
berauscht und von ihrem Begleiter in seine
Wohnung gebracht und mißbraucht. Als das
junge Mädchen heute morgen in der Wohnung
des L. erwachte, stürzte es sich in holler Ver-
zweiflung aus dem Fenster des dritten Stock-
werkes auf den gepflasterten Hof hinab, wo
es schwer verletzt liegen blieb.
Als die „Kleine" am anderen Morgen im
Bette des fremden Mannes erwachte, erblickte
sie über ihrem Haupt den Strick der rächenden
Moral. Er war aus dem Garn gedreht, in das
sie gelockt worden war. Und da sie weder die
Nüchternheit der „praktischen Berlinerin" noch
die routinierte Oberflächlichkeit der „Dame" be-
saß, stürzte sie sich in, heller Verzweiflung aus
der Himmelshöhe der Scham auf das Stein-
pflaster der Sühne herab.
Von der hellen Verzweiflung fiel kein
Strahl in das Dunkel der Moral.
Nun sollte sich alles, alles wenden
Max Schach hat auch den Frühling begrüßt:
Nun ist er wirklich geworden. Wir Welt-
städter holen uns diese Weisheit nicht in Wäl-
dern und auf Fluren: wir gehen über den
Potsdamer Platz, und wenn wir beim Ueber-
Schreiten der Fahrstraße wieder einmal der
Todesgefahr entronnen sind, verweilen wir auf
dem Bürgersteig und sehen — der Frühling
ist da!
Man geht durch die abendlichen Straßen,
. windet sich vergnügt durch das Gewühl von
Menschen und fühlt, daß irgendetwas in der
Luft erklingt, daß eine neue Melodie da ist.
Man blickt den Mädels unter die Hutkrempe;

man sieht feuchtschimmern de Augen, sieht
Glanz und Frohsinn in den lieben Gesichtern.
Und —. man- weiß nicht warum und wie —
man ist wieder zufriedener mit sich; man hat
sich beinahe recht gern. Eigentlich ist man
doch ein ganz famoser Kerl!
Auf allen Wegen, in allem Straßen und in
jedem Winkel grüßt uns der Frühling, lacht
uns sattes, junges Grün entgegen.
Der Frühling ist spät gekommen. Nun
ist er da mit allen seinen Wundern, possier-
lichen Eigenheiten und erwartungsvollen Stim-
mungen. Man hält wieder Zwiesprache mit
seinem Herzen. . . . .
Während des langen Winters findet der
Pressemensch keine Zeit dazu. Erst nach der
Hauptkampagne des Meinungsschachers und der
Referateschiebungen wird er wieder zufriedener.
Ja, er macht sogar die unglaubliche Entdeckung:
daß er ein ganz famoser Kerl ist. Er hält mit
seinem Herzen Zwiesprache. Mit seinem Ver-
stand kann er keine halten. Und er blickt den
Mädels in die Gesichter, die voll Glanz und Froh-
sinn sind.
Am Sonnabend abend stürzte sich die
zwanzigjährige Verkäuferin Else V. vor den
Augen zahlreicher Passanten von der Waisen-
brücke in die Spree hinab. Schiffer, die in
der Nähe vor Anker lagen, machten sich sofort
an die Rettung der Selbstmörderin, und es ge-
lang ihnen auch, das Mädchen in den Rettungs-
kahn zu ziehen. Es stellte sich nun heraus,
daß die V. bei dem Sturz ins Wasser einen
Knaben geboren hatte. Es wurde daraufhin
noch einmal das Wasser abgesucht, und man
sollte auch den Körper des Kindes auf fischen.
Der Knabe war aber bereits tot; er war er-
trunken.
Nun ist es wirklich Frühling geworden. Am
Potsdamer Platz entrinnt ein Schmock wieder
einmal der Todesgefahr und von der Waisen-
brücke stürzt sich ein Mädel hinab: unter dem
Wasser ein Kind zur Welt zu bringen. So wird
das junge Grün geboren.
Wenn der Frühling nur da ist: mit allen
seinen Wundern, possierlichen Eigenheiten und
erwartungsvollen Stimmungen. Mit dem
Schach treibt er sein Spiel, die kleinen Mädels
treibt er in den Tod.
Sie reimen weiter lange Enden
In der Frontseite der Welt am Montag wird
der Adel und das Ordenswesen bekämpft, aber
in ihrem „literarischen" Teil darf der Heller
von jeder Krone und allen Orden singen, die der
Frühling verliehen hat.
Alle Bäume tragen Orden.
Sie sind über Nacht geadelt worden,
Weil sie tapfer den langen, kalten
Winter in Ehren ausgehalten.
Die einen sind Grafen, die anderen Barone,
Jeder trägt seine eigene Krone.
Nur der Heller nicht. Der schmückt sich
mit jenen Federn, die schon so mancher Roman-
tiker hat lassen müssen.
Die Vögel haben die Schnäbel gewetzt
Und singen
Und der Heller kann seinen auch nicht
halten.
Aber noch einen Pegasusschinder hat die
Welt am Montag anläßlich der Verleihung der
Baronie an die Herren Apfelbaum, Mandelbaum
und u. a. m. „zu Wort kommen lassen." Er
heißt Johannes Noack. Aber das ist nicht das
schlimmste. Man überzeuge sich davon.
Der Winter ist ein böser Feind,
Erstickt die Lieder in der Kehle —
Daß es doch immer Winter wäre.
Im Sommer lacht, im Winter weint
iDie Poesie in meiner Seele.

Den Schmalzlyrikern sitzen die Lieder immer
in der Kehle. Woher käme sonst auch der Reim
auf Seele.
Doch gestern kam ein warmer Strahl
Und Lüfte, so verwirrend rein —
Ein Parzival war ich, ein Gral
Goß in mich Frühlingssonnenschein.
Ich floh hinaus, und auf dem Roß
Durchflog ich Wiesen, Feld und Tann —
Aha, die Grafen Tann.
Wie schnell mein Pegasus auch schoß:
Die Sehnsucht stürmte ihm voran!
Aufhalten!
Der Frühling selber kommt auf leisen Soh-
len. Er will gar nicht gehört sein. Gegen ihn
ist nichts zu sagen. Es verekelt ihn mir nur das
Stampfen der Versfüße, die ihn registrieren.
J. A.

Beachtenswerte Bücher
Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt
ALBERT EHRENSTEIN
Der Selbstmord eines Katers / Novellen
München / Verlag Georg Müller
F. T. MARINETTI
La Momie sanglante
Poeme dramatique
Editions du „Verde e Azzurro“ / Milan
D’Anmlnzio intime
4e edition
Editions du „Verde e Azzurro* / Milan
Le Roi Bombance
Tragedie satirique, 3« edition
Editions du „Mercure de France* / Paris
La Ville Charnelle
4e edition
E. Sansot et Cie. / editeurs / Paris
Les Dieux s’en vont, D’Annunzio reste
8e edition
E. Sansot et Cie. / editeurs / Paris
La Conquete des Iitoiles
4e edition, suivie des jugements de la Presse inter-
nationale
E. Sansot et Cie. / editeurs / Paris
Poupees electriques
Drame en trois actes en prose, avec une preface sur
le futurisme
E. Sansot et Cie. / editeurs / Paris
Enquete internationale sur le vers libre
precedee du premier Manifeste futuriste, 8e mille
£ditions de „Poesia“
Mafarka Le Futuriste
Roman africain
E. Sansot et Cie. / editeurs / Paris

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HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Gemälde-Ausstellung
Zeitschrift Der Sturm
Tiergartenstraße 34 a
Futuristen
Geöffnet täglich von 10 bis 6 Uhr
Eine Mark
Schluß der Ausstellung: Donnerstag, den 46« Mai

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