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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 136/137
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Hatvani, Paul: Spracherotik
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [11]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0210

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Spraeherotik
Von Paul Hatvani
Die Wissenschaft macht sich über Endlichkeit
und Unendlichkeit schon deshalb keine Gedanken,
weil sie behauptet, daß die Gedanken die Wissen-
schaft machen. Aber die Sprache kommt zu kurz.
Wohl glaubt man zu wissen, daß es Worte gibt
und man sich bei jedem Wort etwas denken
müsse . . .. aber man ist jedesmal sehr entrüstet,
wenn man erfahren hat, daß das Wort auf die Ge-
danken seiner Erzeugers verzichtend, sich sein
Teil selber denkt. Und zwischen Endlichkeit und
Unendlichkeit hat das Wort Raum genug, um auf
die Mithilfe der Gedanken verzichten zu können.
Aber in der Gedankenlosigkeit der „wissenschaft-
lich“ - d. h. mechanistisch — gebildeten Hirne
ist kein Platz zum Spracherlebnis. Die Sprache
ist eine Grenzenlosigkeit, die sich durch Gedanken
nicht beschränken läßt. Das Wort ist eine Grenze
und von Wort zu Wort ist ein weiter Weg. Die
Wortbeziehungen, die man Grammatik nennt,
dünken mir wie kaum erahnte Symbole einer
transzendenten Sprachlogik — oder d e r Logik
überhaupt —; eine neue Dimension der Gescheh-
nisse baut sich auf, die Welt ist sprachlos, denn
sie kann den Raum nicht finden, wo sich die
Sprache selbst erlebt. Die uralte Tatsache des
Spracherlebens muß erst neu entdeckt werden, zu
einer Zeit, wo auch neben der Bildnismalerei eine
neue Kunst der Farben und Formen zu entstehen
scheint.
Jedes Erlebnis ist erotisch und wird am Weib-
lichem, — ein formloser Ausdruck einer Aus-
druckslosigkeit —, zum Problem des Schaffens.
Und der erlebende Künstler ist umso männ-
licher, je mehr er seine Umgebung, seine Ma-
terie, den Raum seines Erlebens, das Dasein oder
die Welt, als „Weib“ empfindet. Größtes Erleben
ist höchste Männlichkeit und darum ist Gott,
als Former und Gestalter einer formlosen Weib-
lichkeit „Welt“ der absolute Mann, das Genie.
Die Welt ist das Weib Gottes und seine Liebe
ist unser Leben.
Den schaffenden Künstler bindet ein sexuelles
Verhältnis zu seiner Materie und daher zur Welt
überhaupt; denn die Materie seiner Kunst ist für
ihn ein symbolisches Abbild der Welt. Der
Sprachkünstler muß die Sprache vorerst zertrüm-
mern, den chaotischen Urzurstand, eine absolute
Homogenität der Materie herstellen, damit das
Formlose, das Weib daraus werde. Dann beginnt
sein Werk. „Im Anfänge schuf Gott den Himmel
und die Erde . . . Und Gott sprach . . .“ Die
Gegensätze teilen sich, das Formlose bekommt In-
halt und das Inhaltlose Form, — und siehe, das
Weib wird schwanger bei der Berührung des
Mannes. Klang und Kasus werden logisch wie
alle Alliterationen und der Genitivus ist wie ein
herrischer Ruf nach dem Besitz des Weibes. Die
Bedeutungen streiten um das Vorrecht des besten
Platzes und Alles will symphonisch in die Welt
dringen, liebend und siegend, eine Welt für sich.
„So sehr siegt die bloße Stellung, sei es der Krie-
ger, sei es der Sätze“.
Der geniale Künstler — genial ist keine Rela-
tion, sondern eine organische Eigenschaft — wird
schöpferisch an seiner Welt, die er als Weib fühlt;
das Material seiner Kunst aber muß ihm die Welt
ersetzen. Der Schriftsteller muß in der Sprache
das Weib entdecken können und alle Phantasie,
die er zur Zeugung seiner Werke nötig hat, muß
eine Indukation der Sprache sein.

Die Sexualität des Künstlers muß einen Um-
weg gehen: sie führt vom Weibe zur Kunst. Das
Weib ist der Nullpunkt, auf den die Wertkoordi-
naten des Mannes bezogen werden; die Liebe zum
Weibe aber ist die psychomotorische Kraft des
Mannes.
Der Mann, ein Einzelner, Einsamer im Raume,
kreist wie ein Planet um die Sonne der Weib-
lichkeit; alle Frauen der Welt zusammengenom-
men bilden eine einzige Homogenität, Stützpunkt
und Abgrund zugleich für die Monade „Mann“.
. . . Die Sprache, die dem Gedanken dient, ist
ebenso ein Werkzeug, wie es die Gedanken sind,
die der Sprache dienen. Die Sprache des Künst-
lers ist Eindruck und Ausdruck zugleich, sie ver-
zichtet es, „Stimmungen“ zu b e schreiben, da ihr
Ton allein schon imstande ist, sich von den Ver-
stimmungen des Tonlosen zu unterscheiden.
„Stimmung“ ist in der Sprache und nicht „zwischen
den Zeilen“.
Ebenso ist „Stil“ — in der Baukunst z. B.
immer nur eine Ausrede für historische Plagiate,
also ein Deckmantel, die eigene Gedankenlosigkeit
zu verbergen — ist Stil ein Plagigat der Sprache
an den Gedanken. Die Sprache des Künstlers ist
ebenso wie das Weib Gottes stillos; denn „Stil“
ist die Differenziertheit des Mannes.
Wohl ist die Sprache Ausdrucksform; aber
eben das eignet sie dazu, ein Spiegel zu sein für
die Eitelkeit des Weibes „Welt“ und deshalb gibt
es eine Sprachkunst. Kunst aber ist das ero-
tische Verhältnis eines Mannes, oder des
„Männlichen“ —, zu einer Materie die die Eigen-
schaften des Weiblichen hat: sie ist zwar homo-
gen, ein Ganzes, besitzt aber die Fähigkeit, alle
Gestalt anzunehmen, ein Mimicry des Lebens,
ein Weltembryo, das seines Schöpfers harrt.
Das aber ist der Sinn der Welt: sie ist das
Weib Gottes und seine Liebe ist unser Leben.

Menschen von Gottes
Gnaden

Aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant
ville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.

Von Karl Borromäus Heinrich
Fortsetzung
Nach drei Tagen schon hatte Baron Frangart
ein Schreiben des Geistlichen und der Anstalts-
leitung bekommen, daß, in Anbetracht der glänzen-
den Zukunft, die er dem Kinde „Nummer acht-
zehn“ garantiert habe, gegen dessen Entlassung
aus dem Anstaltsverband nichts einzuwenden sei.
Baron Frangart könne, vorausgesetzt, daß er
schon etwelche Vorsorge für die Unterkunft ge-
troffen habe, den Knaben jederzeit sprechen und
ihn frühestens am Silvestertag abholen. Gleich
nach Empfang dieses Briefes fuhr Baron Frangart
zu einem guten Schneider und bestellte ihn für
Nachmittag in die Findlingsanstalt. Auch er selbst
traf um diese Zeit dort ein, um den auserwählten
Knaben nun persönlich kennen zu lernen.
Es war dies ein ziemlich kleiner, wie schon
erzählt, schmächtiger magerer Junge. Seine Figur
erschien noch durch den dicken plumpen Schul-
.lodenanzug, in dem er steckte, entstellt. Seine

Hande waren nicht häßlich. Sein Kopf hatte eine
eher breite als längliche Form (Schlagintweit — der
den Jungen später kennen lernte — behauptete,
daß diese Form seit dem Einfall der Hunnen, unter
Atilla, in Bayern sehr häufig auftrete). Seine Augen
waren freilich grau, aber lebhaft; nur wenn ihn
der Anstaltsleiter anredetc, verschleierten sie sich
jeweils. Die Nase mochte für das Alter des Kna-
ben vielleicht zu groß erscheinen, aber das mußte
sich mit der Zeit, wenn sich die Gesichtbildung
festigte, ausgleichen. Sein Mund gefiel Baron
Frangart sehr: er war klein und zierlich, die Lip-
pen dünn und nicht ohne Linien. — Im ganzen
stellte sein Aussehen Baron Frangart zufrieden;
was die semmelblonden Haare betraf, so mußte
man sie wohl färben lassen; und die graue Ge-
sichtsfarbe würde sich schon von selbst ändern,
— nein, der Junge war nicht häßlich.
Im Laufe des Gesprächs erwies er sich weder
besonders klug noch besonders schwerfällig. Ara
merkwürdigsten schien Baron Frangart die un-
unterbrochene gespannte Aufmerksamkeit, mit der
der Junge ihn beim Sprechen ansah, seinen Blick
beobachtete und seine Gebärden verfolgte. Manch-
mal überhörte er teilweise die Worte, die man
sprach, indem er sichtlich zu sehr vom gesamten
Eindruck gefesselt war. Endlich fiel Baron Fran-
gart auf, wie veränderlich sich seine Mienen zeig-
ten; auch die Haltung des Knaben stellte sich
gegen Ende des Gesprächs schon ganz anders, viel
stolzer und gemessener dar als zu Eingang. Mit
Freude schloß Frangart daraus auf große Empfäng-
lichkeit.
Am Silvestertag gegen fünf Uhr nachmittags
fuhr der junge Baron das zweite Mal am Find-
lingshaus vor, um den Jungen „Nummer achtzehn“
abzuholen. Dieser trug jetzt seine neuen Kleider,
einen breiten geränderten Liegkragen (in der Art,
wie sie Baron Frangart als Kind getragen hatte),
der den Hals ganz frei ließ. Der Gang des Knaben
bot ein viel zierlicheres Bild als vordem; das
macht, er trug jetzt feinere Schuhe aus dünnem
nachgiebigem Leder, die den Fuß nicht so be-
schwerten wie die harten dreifach gesohlten Schul-
stiefel. Nur mit den Armen und Händen schien er
sich noch nicht recht zu helfen wissen; bald ließ
er sie ungeschickt hängen, bald steckte er sie
plump in die Tasche. Aber auch das würde noch
gut werden, versprach sich Baron Frangart.

Der Knabe wohnte nun in der Briennerstraße
bei Baron Frangart. Er hatte seinen eigenen jun-
gen Diener, der ihm alle Handreichungen des Tages
tat, die er sich noch vor wenigen Wochen selbst
getan hatte. Und für seinen Unterricht, der nicht
mehr als zwölf Stunden wöchentlich Zeit weg-
nahm, hatte Baron Frangart einen Lehrer bestellt.
In der Religion, den heiligen Geheimnissen, unter-
wies ihn sein junger Erzieher selbst, teilweise
— in den systematischen technischen Fragen —
besorgte dies ein Geistlicher.
-Der Knabe brauchte sich nicht vor neun Uhr
morgens zu erheben. Dann füllte ab zehn Uhr
bis gegen Mittag der Unterricht seine Zeit aus.
Um Mittag erst traf er Baron Frangart. Dieser
ließ ihn jeden zweiten Nachmittag allein, er konnte
im Wagen spazieren fahren oder zu Hause sitzen
und träumen, wie es ihm gerade einfiel. Die erste
Woche aß Frangart mit ihm zu Hause, da er sich
in dem so exklusiven Hotel (wo außer ihm nur
einige Menschen der besten Gesellschaft speisten)
nicht etwa, wenn der Junge schlecht äße, genieren
wollte. Dieser aber hatte sich vermöge seiner
ganz außerordentlichen Beobachtungsgabe, von der
er immerfort den regsten Gebrauch machte, schon
in wenigen Tagen eine Baron Frangart über-

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