raschende Geschicklichkeit im manierlichen Essen
erworben. Nach Ablauf der Woche aßen sie im
Hotel.
Es war die Absicht Baron Frangarts, zunächst
alle äußeren Veränderungen auf den Knaben
wirken zu lassen; dieser sollte Zeit haben,
alle Gesetze der Form, die ihn das ruhige
Beispiel Baron Frangart selbst lehrte, in sich
aufzunehmen. Erst wenn er in der äußeren Form
so gut wie vollkommen wäre, wollte Frangart in
seine empfängliche Kindesseele jene Werte legen,
die seine eigene Kultur ausmachten; und zum
Schlüsse erst wollte er gleichsam sich selbst auf
den Knaben übertragen, indem er ihm einflößen
würde, sich für einen bevorzugten und durch Gottes
Gnade bevorrechteten Menschen zu halten; wovon
er sich als Wirkung einen erhöhten Stolz, eine
strenge Selbstbeherrschung und Harmonie des
Wesens versprach; diese sollte dann wieder auf
eine nochmalige Veredlung der äußeren Form zu-
rückwirken; dann mochte das verfeinerte Form-
gefühl wieder den in die Seele gelegten neuen
Wertgefühlen Sicherheit verleihen; diese würden
solchermaßen seinem Glauben an eine priviligierte
Stellung die Berechtigung geben. Und so sollte
sich dies alles in einem immer bestimmter werden-
den Kreislauf der Verfeinerung immer von neuem
abspielen . . . Und wenn der Knabe „Nummer
achtzehn“ auf solche Weise, gleich einem immer
feiner geschliffenem Stein, in allen Teilen seines
Wesens streng und unverrückbar abgeglichen sein
würde . . . Dann, ja dann wollte er ihn nach dem
Süden bringen, nach dem Schloß der Frangarts,
und dort das Letzte, Höchste, was er, Fritz von
Frangart besaß, unter der satten Sonne des Südens,
restlos und gerecht mit ihm teilen, — nämlich jenes
reife edle satte von aller rohen Gier befreite Sich-
selbstgenügen, das ihn jetzt, in einsamer Höhe, von
den Menschen trennte . . . Dann, ach dann, würde
er auch nicht mehr einsam sein; er würde mit
einem Gleichgestellten leben, den er sich selbst
geschaffen hatte, wie ein Meister mit seinem edel-
sten Werk, wie ein Vater mit seinem Sohn; und
somit würde er dann auch das Werk der Liebe
vollbracht, nämlich sich ganz und gar wegge-
schenkt haben.
Jeden zweiten Tag, wenn Baron Frangart mit dem
Knaben ausfuhr, zuerst im Hotel speiste, dann Ein-
käufe machte, um ihn mit dem Wert der Dinge und
mit den wertvollen Dingen vertraut zu machen; ihn
dann und wann, aber nur gelegentlich, um jede Er-
müdung zu vermeiden, vor ein schönes Bild führte;
vor ein edel gebautes Haus und dann wieder vor
ein häßlich-modernes, — immer nur darauf bedacht,
nichts zu predigen, sondern alles durch sich selbst
wirken zu lassen; ihn auf streng, aber vornehm
gekleidete Damen aufmerksam machte,, und lein
anderes Mal auf eine lasciv aufgeputzte Frau; ihn
einen Akt von Carmen anhören ließ, und später
einen halben von einer Oper der neuen Musik; mit
ihm in der Frauenkirche betete und ihn zu anderer
Zeit wie zufällig in eine neue Kirche führte; ihm ein
paar Verse aus Goethes „Iphigenie“ vorlas, und ein
paar Tage nachher eine Seite aus der „Jungfrau
von Orleans“ (oder gar aus dem monotonen un-
männlichen Versgewinsel irgendeines modernen
Lyrikers), — wenn er dies alles in seiner stillen
noblen Art tat, sah er gespannt auf das Mienen-
spiel des Knaben, der seinerseits mit lebhaften
Augen alles und ihn selbst verfolgte; und Baron
Frangart war sehr zu frieden.
Denn in der Tat schien der Junge große Fort-
schritte zu machen; nicht, daß er in lebhaften
Worten darüber geplaudert hätte —denn er sprach
nicht viel, nach dem Beispiel seines Erziehers —,
aber seine Augen redeten, und sie redeten im
Sinne des Erziehers.
Soweit ließ sich alles gut an. Der Knabe selbst
fühlte sich nur an den Nachmittagen, die er allein
zubrachte, zunächst sehr verlassen. Aber nach
den ersten Wochen, wenn das Wetter nicht zum
Ausfahren einlud, saß er zufrieden in seinem Zim-
mer. Er stellte sich vor den größten Spiegel, übte
Verbeugungen ein, probierte Kopfhaltungen und
kopierte, mit dem Talent eines seltenen Schauspie-
lers, Gang, Redeweise und Benehmen des Baron
Frangart!
Nichts war natürlicher und doch zugleich ab-
stoßender als die Art, mit der dieser Junge vor dem
Spiegel „Baron Frangart lernte“ (so nannte er es
selbst). Und sein Geschick in dieser Schauspie-
lerei war in der Tat vollendet; alle Aeußerlich-
keiten wurden in der kürzesten Zeit sein Eigentum.
Denn: Die formale Gewandtheit dieses Knaben,
an der sich Baron Frangart erfreute, sie war nichts
anderes als ein Ergebnis seiner Beobachtungsgabe.
Mit dieser Beobachtungsgabe gelang es ihm auch,
vor geistigen Erlebnissen stehend, Baron Frangart
zu täuschen. Dieser suchte wie natürlich den Ein-
druck auf dem Gesicht des Knaben zu lesen; dieser
aber hatte ihn stets schon vorher mit einem nie
müden Instinkt in der Miene des Baron Frangart,
so beherrscht diese auch sein mochte, gelesen, und
gab sie nun auf seinem eigenen Gesicht richtig
wieder. Daher kam die stetige Täuschung des Ba-
ron Frangart über seinen Zögling; wieviel dieser
innerlich in sich aufnahm, ließ sich nicht feststellen;
vielleicht einiges, vielleicht nichts. — Jedenfalls
aber stand fest, daß er Baron Frangart durchaus
nicht und in keinem Falle absichtlich täuschte.
♦
Indessen nahte die Zeit, wo Baron Frangart
die Entschleierung seiner Illusionen erleben sollte.
Anfang des März — also zwei Monate, nach-
dem er den Knaben aufgenommen hatte — konnte
er einem plötzlichen rauhen Wechsel der Witte-
rung nicht widerstehen und fiel in schweres Fieber.
Er bat Schlagintweit zu sich und vertraute ihm
den Knaben an. Schlagintweit, der mit seiner
Braut nicht gerade sehr glücklich zu sein schien,
war während der letzten Zeit ein einziges Mal
flüchtig zu ihm gekommen und' hatte dabei auch
den Zögling des Baron Frangart kennen gelernt,
Er sollte ihm nun in der Nähe seiner eigenen Woh-
nung, vielleicht in einer guten Pension, eine Unter-
kunft suchen und sich im übrigen mit ihm beschäf-
tigen; Baron Frangart gab hm einige allgemeine
Erklärungen, wie er bisher mit dem Jungen um-
gegangen sei, und er sollte auch von Schlagintweit
so gehalten werden. Dieser erfüllte Frangarts
Wunsch in jeder Weise.
Der junge Baron erhob sich nach vierzehn Ta-
gen, trotz einer leichten Gehirnhautentzündung,
welche das Fieber begleitet hatte, vom Kranken-
lager. Er schickte zu Schlagintweit und ließ ihm
ausrichten, er möge ihm den Knaben bringen. Sie
kamen denn auch zusammen an. Der Knabe be-
grüßte den jungen Baron mit einer lauten Herz-
lichkeit des Tones, die dieser an ihm nicht gewöhnt
war. Er hörte seinen Wortschwall erstaunt an.
„Nun,“ fragte er ihn, „wie hat es dir bei Herrn
Schlagintweit gefallen?“ — „Fein war’s, Herr Ba-
ron, sehr fein.“ — „Anders wie bei mir?“ — „Ja
. . . schließlich . . . mit dem Kirchengehen hat’s
der Herr Schlagintweit nicht so viel wie der Herr
Baron . . . Aber fein war’s . . .“
Baron Frangarts Erstaunen wuchs. Das We-
sen des Jungen schien ganz verändert zu sein.
Wessen Allüren waren dies nur? Ach richtig...
Das war so die Art von Schlagintweit selbst, oder
vielmehr eine gute Kopie davon. Jetzt der Ton-
fall .. . Und diese Bewegung, ganz genau wie
bei Schlagintweit . . . Baron Frangart erzitterte
heftig, als er solchermaßen den Schauspieler in
dem Jungen erkannte.
„Herr Baron, ist Ihnen vielleicht nicht ganz
wohl?“ fragte der Junge, der ihn nach seiner Ge-
wohnheit genau beobachtete, „da müssen wir halt
das Mädel rufen, damit sie Ihnen vielleicht ein Glas
Wasser bringt . . .“ Mit Bestürzung erinnerte sich
Baron Frangart bei diesen Worten, wie schnell
und wie gut der Junge vor zweieinhalb Monaten
ein dialektfreies Schriftdeutsch gelernt hatte. Und
jetzt . . . dieses Behagen an der Redeweise Schlag-
intweits! Bei Schlagintweit selbst mochte Baron
Frangart das gerne leiden, da war es original;
aber bei diesem Jungen, welche abstoßende, wenn
auch genaue Kopie!
„Nein!“ antwortete er abwehrend auf die Frage
des Jungen, „mir ist ganz wohl, ganz wohl . .
„Sag mal, Junge,“ fragte er ihn, „bei wem
würdest du jetzt lieber bleiben, bei Herrn Schlag-
intweit oder bei mir?“
„Ja, das kommt halt darauf an . . . Das weiß
ich gar nicht recht ... Ich tu mich ja in alles
hineinlernen, ich . . .“
In Baron Frangart jagten sich die unglücklich-
sten Gedanken. Das war also der „niedrigste
Mensch“, an den er sich „wegschenken“ hatte
wollen. Der niedrigste Mensch . . . Aber das war
doch gar kein Mensch, das war doch ein kleines
Tier mit Mimicry, dieser Junge . . . Und das Mi-
micry bestand eben in seinem Talent, sich in alles
„hineinzulernen“, hineinzuspielen . . . Nein, wa-
rum sollte er „das Werk der Liebe“ zu Ende brin-
gen, wenn es dem Jungen doch nur eine Lern-
aufgabe auflud . . . Nein, nicht weiter . . . Sofort
mußte ein Ende gemacht werden.
„Ich möchte mit Ihnen sprechen, Schlagintweit,“
begann Baron Frangart nach einer Weile starrsten
Schweigens, „gehen wir ins Zimmer nebenan!“
Es geschah.
Baron Frangart atmete tief und schmerzlich
auf. „Schlagintweit!“ rief er endlich, „bitte, ret-
ten Sie mich, befreien Sie mich . . . vor diesem
Echo, vor diesem Spiegel vor dieser wechselnden
Maske, vor diesem Chamäleon! . . .“ Schlagint-
weit schwieg bestürzt. „Ich dachte . . .“ wollte
er erwidern . . . „Nein,“ unterbrach ihn der Ba-
ron, „ich habe mich schrecklich getäuscht, ich
kann mich nicht wegschenken an ihn, er kann das
Geschenk nicht tragen, es ist ihm zu schwer, es
ist alles zu schwer, alles, alles . . . Befreien Sie
mich von ihm . . .!“
Schlagintweit begriff nicht ganz, aber war so-
gleich bereit, alles Mögliche zu tun. „Soll ich ihn
ermorden?“ schrie er laut, „soll ich ihn ins Gym-
nasium stecken? Soll ich . . . Alles, was Sie
wollen . . .“ — „Ich danke Ihnen lebhaft, ich
danke Ihnen lebhaft,“ erwiderte der junge Baron
mit schmerzlichem Lächeln, „es darf kosten, was
es will, ich werde für seine Zukunft sorgen. — Er
soll es nicht entgelten, daß ich mich getäuscht habe.
Nichts wird mich reuen, aber Sie müssen ihn fort-
bringen von hier, fort, ich kann ihn nicht mehr
sehen, diesen armseligen Kopisten . . . Fort mit
ihm, nur fort!“ —< „Er ist jetzt ein bißchen ver-
wöhnt, der Junge,“ sagte Schlagintweit mitleidig,
„aber das werden wir schon deichseln; hören
Sie, Herr Baron,“ schrie er — nun sein Mitleid
diesem zuwendend — „hören Sie, das ist in Ord-
nung, das ist einfach erledigt, keine Sorge, ganz
und gar erledigt, hören Sie doch, Herr Baron!“ —
„Ich danke Ihnen nochmals, Schlagintweit,“ erwi-
derte dieser in dumpfem Ton. Und er schrieb ihm
für alle Fälle (wenn z. B. Schlagintweit einmal
gerade keine Möglichkeit mehr haben sollte, den
Jungen zu behüten) die Adresse des Pater Bona-
ventura in Chamfort auf, um gleich im voraus
211
erworben. Nach Ablauf der Woche aßen sie im
Hotel.
Es war die Absicht Baron Frangarts, zunächst
alle äußeren Veränderungen auf den Knaben
wirken zu lassen; dieser sollte Zeit haben,
alle Gesetze der Form, die ihn das ruhige
Beispiel Baron Frangart selbst lehrte, in sich
aufzunehmen. Erst wenn er in der äußeren Form
so gut wie vollkommen wäre, wollte Frangart in
seine empfängliche Kindesseele jene Werte legen,
die seine eigene Kultur ausmachten; und zum
Schlüsse erst wollte er gleichsam sich selbst auf
den Knaben übertragen, indem er ihm einflößen
würde, sich für einen bevorzugten und durch Gottes
Gnade bevorrechteten Menschen zu halten; wovon
er sich als Wirkung einen erhöhten Stolz, eine
strenge Selbstbeherrschung und Harmonie des
Wesens versprach; diese sollte dann wieder auf
eine nochmalige Veredlung der äußeren Form zu-
rückwirken; dann mochte das verfeinerte Form-
gefühl wieder den in die Seele gelegten neuen
Wertgefühlen Sicherheit verleihen; diese würden
solchermaßen seinem Glauben an eine priviligierte
Stellung die Berechtigung geben. Und so sollte
sich dies alles in einem immer bestimmter werden-
den Kreislauf der Verfeinerung immer von neuem
abspielen . . . Und wenn der Knabe „Nummer
achtzehn“ auf solche Weise, gleich einem immer
feiner geschliffenem Stein, in allen Teilen seines
Wesens streng und unverrückbar abgeglichen sein
würde . . . Dann, ja dann wollte er ihn nach dem
Süden bringen, nach dem Schloß der Frangarts,
und dort das Letzte, Höchste, was er, Fritz von
Frangart besaß, unter der satten Sonne des Südens,
restlos und gerecht mit ihm teilen, — nämlich jenes
reife edle satte von aller rohen Gier befreite Sich-
selbstgenügen, das ihn jetzt, in einsamer Höhe, von
den Menschen trennte . . . Dann, ach dann, würde
er auch nicht mehr einsam sein; er würde mit
einem Gleichgestellten leben, den er sich selbst
geschaffen hatte, wie ein Meister mit seinem edel-
sten Werk, wie ein Vater mit seinem Sohn; und
somit würde er dann auch das Werk der Liebe
vollbracht, nämlich sich ganz und gar wegge-
schenkt haben.
Jeden zweiten Tag, wenn Baron Frangart mit dem
Knaben ausfuhr, zuerst im Hotel speiste, dann Ein-
käufe machte, um ihn mit dem Wert der Dinge und
mit den wertvollen Dingen vertraut zu machen; ihn
dann und wann, aber nur gelegentlich, um jede Er-
müdung zu vermeiden, vor ein schönes Bild führte;
vor ein edel gebautes Haus und dann wieder vor
ein häßlich-modernes, — immer nur darauf bedacht,
nichts zu predigen, sondern alles durch sich selbst
wirken zu lassen; ihn auf streng, aber vornehm
gekleidete Damen aufmerksam machte,, und lein
anderes Mal auf eine lasciv aufgeputzte Frau; ihn
einen Akt von Carmen anhören ließ, und später
einen halben von einer Oper der neuen Musik; mit
ihm in der Frauenkirche betete und ihn zu anderer
Zeit wie zufällig in eine neue Kirche führte; ihm ein
paar Verse aus Goethes „Iphigenie“ vorlas, und ein
paar Tage nachher eine Seite aus der „Jungfrau
von Orleans“ (oder gar aus dem monotonen un-
männlichen Versgewinsel irgendeines modernen
Lyrikers), — wenn er dies alles in seiner stillen
noblen Art tat, sah er gespannt auf das Mienen-
spiel des Knaben, der seinerseits mit lebhaften
Augen alles und ihn selbst verfolgte; und Baron
Frangart war sehr zu frieden.
Denn in der Tat schien der Junge große Fort-
schritte zu machen; nicht, daß er in lebhaften
Worten darüber geplaudert hätte —denn er sprach
nicht viel, nach dem Beispiel seines Erziehers —,
aber seine Augen redeten, und sie redeten im
Sinne des Erziehers.
Soweit ließ sich alles gut an. Der Knabe selbst
fühlte sich nur an den Nachmittagen, die er allein
zubrachte, zunächst sehr verlassen. Aber nach
den ersten Wochen, wenn das Wetter nicht zum
Ausfahren einlud, saß er zufrieden in seinem Zim-
mer. Er stellte sich vor den größten Spiegel, übte
Verbeugungen ein, probierte Kopfhaltungen und
kopierte, mit dem Talent eines seltenen Schauspie-
lers, Gang, Redeweise und Benehmen des Baron
Frangart!
Nichts war natürlicher und doch zugleich ab-
stoßender als die Art, mit der dieser Junge vor dem
Spiegel „Baron Frangart lernte“ (so nannte er es
selbst). Und sein Geschick in dieser Schauspie-
lerei war in der Tat vollendet; alle Aeußerlich-
keiten wurden in der kürzesten Zeit sein Eigentum.
Denn: Die formale Gewandtheit dieses Knaben,
an der sich Baron Frangart erfreute, sie war nichts
anderes als ein Ergebnis seiner Beobachtungsgabe.
Mit dieser Beobachtungsgabe gelang es ihm auch,
vor geistigen Erlebnissen stehend, Baron Frangart
zu täuschen. Dieser suchte wie natürlich den Ein-
druck auf dem Gesicht des Knaben zu lesen; dieser
aber hatte ihn stets schon vorher mit einem nie
müden Instinkt in der Miene des Baron Frangart,
so beherrscht diese auch sein mochte, gelesen, und
gab sie nun auf seinem eigenen Gesicht richtig
wieder. Daher kam die stetige Täuschung des Ba-
ron Frangart über seinen Zögling; wieviel dieser
innerlich in sich aufnahm, ließ sich nicht feststellen;
vielleicht einiges, vielleicht nichts. — Jedenfalls
aber stand fest, daß er Baron Frangart durchaus
nicht und in keinem Falle absichtlich täuschte.
♦
Indessen nahte die Zeit, wo Baron Frangart
die Entschleierung seiner Illusionen erleben sollte.
Anfang des März — also zwei Monate, nach-
dem er den Knaben aufgenommen hatte — konnte
er einem plötzlichen rauhen Wechsel der Witte-
rung nicht widerstehen und fiel in schweres Fieber.
Er bat Schlagintweit zu sich und vertraute ihm
den Knaben an. Schlagintweit, der mit seiner
Braut nicht gerade sehr glücklich zu sein schien,
war während der letzten Zeit ein einziges Mal
flüchtig zu ihm gekommen und' hatte dabei auch
den Zögling des Baron Frangart kennen gelernt,
Er sollte ihm nun in der Nähe seiner eigenen Woh-
nung, vielleicht in einer guten Pension, eine Unter-
kunft suchen und sich im übrigen mit ihm beschäf-
tigen; Baron Frangart gab hm einige allgemeine
Erklärungen, wie er bisher mit dem Jungen um-
gegangen sei, und er sollte auch von Schlagintweit
so gehalten werden. Dieser erfüllte Frangarts
Wunsch in jeder Weise.
Der junge Baron erhob sich nach vierzehn Ta-
gen, trotz einer leichten Gehirnhautentzündung,
welche das Fieber begleitet hatte, vom Kranken-
lager. Er schickte zu Schlagintweit und ließ ihm
ausrichten, er möge ihm den Knaben bringen. Sie
kamen denn auch zusammen an. Der Knabe be-
grüßte den jungen Baron mit einer lauten Herz-
lichkeit des Tones, die dieser an ihm nicht gewöhnt
war. Er hörte seinen Wortschwall erstaunt an.
„Nun,“ fragte er ihn, „wie hat es dir bei Herrn
Schlagintweit gefallen?“ — „Fein war’s, Herr Ba-
ron, sehr fein.“ — „Anders wie bei mir?“ — „Ja
. . . schließlich . . . mit dem Kirchengehen hat’s
der Herr Schlagintweit nicht so viel wie der Herr
Baron . . . Aber fein war’s . . .“
Baron Frangarts Erstaunen wuchs. Das We-
sen des Jungen schien ganz verändert zu sein.
Wessen Allüren waren dies nur? Ach richtig...
Das war so die Art von Schlagintweit selbst, oder
vielmehr eine gute Kopie davon. Jetzt der Ton-
fall .. . Und diese Bewegung, ganz genau wie
bei Schlagintweit . . . Baron Frangart erzitterte
heftig, als er solchermaßen den Schauspieler in
dem Jungen erkannte.
„Herr Baron, ist Ihnen vielleicht nicht ganz
wohl?“ fragte der Junge, der ihn nach seiner Ge-
wohnheit genau beobachtete, „da müssen wir halt
das Mädel rufen, damit sie Ihnen vielleicht ein Glas
Wasser bringt . . .“ Mit Bestürzung erinnerte sich
Baron Frangart bei diesen Worten, wie schnell
und wie gut der Junge vor zweieinhalb Monaten
ein dialektfreies Schriftdeutsch gelernt hatte. Und
jetzt . . . dieses Behagen an der Redeweise Schlag-
intweits! Bei Schlagintweit selbst mochte Baron
Frangart das gerne leiden, da war es original;
aber bei diesem Jungen, welche abstoßende, wenn
auch genaue Kopie!
„Nein!“ antwortete er abwehrend auf die Frage
des Jungen, „mir ist ganz wohl, ganz wohl . .
„Sag mal, Junge,“ fragte er ihn, „bei wem
würdest du jetzt lieber bleiben, bei Herrn Schlag-
intweit oder bei mir?“
„Ja, das kommt halt darauf an . . . Das weiß
ich gar nicht recht ... Ich tu mich ja in alles
hineinlernen, ich . . .“
In Baron Frangart jagten sich die unglücklich-
sten Gedanken. Das war also der „niedrigste
Mensch“, an den er sich „wegschenken“ hatte
wollen. Der niedrigste Mensch . . . Aber das war
doch gar kein Mensch, das war doch ein kleines
Tier mit Mimicry, dieser Junge . . . Und das Mi-
micry bestand eben in seinem Talent, sich in alles
„hineinzulernen“, hineinzuspielen . . . Nein, wa-
rum sollte er „das Werk der Liebe“ zu Ende brin-
gen, wenn es dem Jungen doch nur eine Lern-
aufgabe auflud . . . Nein, nicht weiter . . . Sofort
mußte ein Ende gemacht werden.
„Ich möchte mit Ihnen sprechen, Schlagintweit,“
begann Baron Frangart nach einer Weile starrsten
Schweigens, „gehen wir ins Zimmer nebenan!“
Es geschah.
Baron Frangart atmete tief und schmerzlich
auf. „Schlagintweit!“ rief er endlich, „bitte, ret-
ten Sie mich, befreien Sie mich . . . vor diesem
Echo, vor diesem Spiegel vor dieser wechselnden
Maske, vor diesem Chamäleon! . . .“ Schlagint-
weit schwieg bestürzt. „Ich dachte . . .“ wollte
er erwidern . . . „Nein,“ unterbrach ihn der Ba-
ron, „ich habe mich schrecklich getäuscht, ich
kann mich nicht wegschenken an ihn, er kann das
Geschenk nicht tragen, es ist ihm zu schwer, es
ist alles zu schwer, alles, alles . . . Befreien Sie
mich von ihm . . .!“
Schlagintweit begriff nicht ganz, aber war so-
gleich bereit, alles Mögliche zu tun. „Soll ich ihn
ermorden?“ schrie er laut, „soll ich ihn ins Gym-
nasium stecken? Soll ich . . . Alles, was Sie
wollen . . .“ — „Ich danke Ihnen lebhaft, ich
danke Ihnen lebhaft,“ erwiderte der junge Baron
mit schmerzlichem Lächeln, „es darf kosten, was
es will, ich werde für seine Zukunft sorgen. — Er
soll es nicht entgelten, daß ich mich getäuscht habe.
Nichts wird mich reuen, aber Sie müssen ihn fort-
bringen von hier, fort, ich kann ihn nicht mehr
sehen, diesen armseligen Kopisten . . . Fort mit
ihm, nur fort!“ —< „Er ist jetzt ein bißchen ver-
wöhnt, der Junge,“ sagte Schlagintweit mitleidig,
„aber das werden wir schon deichseln; hören
Sie, Herr Baron,“ schrie er — nun sein Mitleid
diesem zuwendend — „hören Sie, das ist in Ord-
nung, das ist einfach erledigt, keine Sorge, ganz
und gar erledigt, hören Sie doch, Herr Baron!“ —
„Ich danke Ihnen nochmals, Schlagintweit,“ erwi-
derte dieser in dumpfem Ton. Und er schrieb ihm
für alle Fälle (wenn z. B. Schlagintweit einmal
gerade keine Möglichkeit mehr haben sollte, den
Jungen zu behüten) die Adresse des Pater Bona-
ventura in Chamfort auf, um gleich im voraus
211