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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 105
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Boccioni, Umberto: Futuristen: die Aussteller an das Publikum
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Maler-Kritiker: eine Erwiderung
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0008

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müsse, das heißt, den besonderen Rhythmus jedes
einzelnen Gegenstandes, seine Neigung, seine
Bewegung oder besser gesagt: seine innere Kraft.
Gewöhnlich betrachtet man das menschliche
Wesen unter seinen verschiedenen Ruhe- und
Bewegungsmomenten in freudiger Erregung
oder in melancholischem Ernst.
Aber man bemerkt nicht, daß alle unbeleb;
ten Gegenstände in ihren Linien Ruhe oder
Wahnsinn, Trauer oder Heiterkeit erkennen
lassen.
Diese verschiedenen Tendenzen geben den
Linien, aus denen sie geformt sind, Gefühl und
Charakter drückender Stabilität oder luftiger
Leichtigkeit.
Jeder Gegenstand läßt in seinen Linien er-
kennen, wie er den Tendenzen seiner Formen
folgend auseinanderfiele.
Diese Zersetzung hängt nicht von festen Ge-
setzen ab, sondern sie verändert sich je nach
der charakteristischen Persönlichkeit des Gegen-
standes, oder nach der Rührung des Betrachters.
Ferner beeinflußt jeder Gegenstand den
anderen, nicht durch Lichtreflexionen (Fundament
des impressionistischen Pr im iti vis-
rn u s), sondern durch eine regelrechte Konkur-
renz der Linien und durch Schlachten der
Flächen, indem sie dem Gesetz des Eindrucks
folgen, der das Bild beherrscht (Fundament des
futuristischen Primitivismus).
Deswegen sagten wir inmitten der lärmen-
den Heiterkeit der Dummen:
„Die sechzehn Personen, die sich in einem
in Gang befindlichen Autobus befinden, sind
einmal eine, zehn, vier oder drei Personen; sie
sind unbeweglich und ändern ihren Platz; sie
kommen, gehen, hüpfen auf die Straße, plötzlich
von der Sonne verschlungen, dann setzen sie sich
wieder hin wie ewige Symbole der allgemeinen
Vibration. Wie oft sahen wir auf der Wange
der Person, mit der wir uns unterhielten, das
Pferd, das dort hinten am anderen Ende der
Straße daherlief.
Unsere Körper dringen ein' in das Sofa, auf
dem wir sitzen, und das Sofa in uns. Der Auto-
bus stürzt sich auf die Häuser, an denen er vor-
übereilt und die Häuser auf den Autobus und
verschmelzen mit ihm."
Der Wunsch, den ästhetischen Eindruck zu
verstärken, der gleichsam das Bild mit der
Seele des Betrachters in eins zusammenschweißt,
hat uns bewogen zu erklären, „daß der Be-
schauer von nun an in der Mitte des
Bildes stehen solle."
Er wird dem Vorgänge nicht nur beiwohnen,
sondern auch teil an ihm haben. Wenn wir
malen, so übersetzen sich die Phasen eines Auf-
standes, die sich mit Faustschlägen bedeckende
Menge und der Angriff der Kavallerie auf der
Leinwand durch Linienbündel, die allen in Kon-
flikt geratenen Kräften entsprechen, indem sie
dem Gesetz der allgemeinen Gewalttätigkeit des
Bildes folgen.
Diese „Linienkräfte" müssen den Betrachter
einhül|en und mit sich fortreißen; er muß gleich-
sam mit den Persönlichkeiten des Bildes kämpfen
müssen.
Alle Gegenstände, nach dem zu urteilen, was
der Maler Boccioni treffend „physischen
Transzendentalismus" nennt, trachten in
ihren „Linienkräften" dem Unendlichen zu,
dessen Fortdauer unsere Intuition mißt.
Diese „Linienkräfte“ müssen wir zeichnen,
um das Kunstwerk zur wirklichen Malerei zurück-
zuführen. Wir übersetzen die Natur, indem wir
auf der Leinwand diese Gegenstände wie die An-
fänge oder die Verlängerung der Rhythmen
geben, die diese Gegenstände selbst unserer
Empfindsamkeit aufdrücken.
Nachdem wir zum Beispiel auf einem Bilde
die rechte Schulter und das rechte Ohr eines
Mannes gegeben haben, halten wir es einfach

für überflüssig und unnütz, auch die linke
Schulter und das linke Ohr dieser Person zu
geben. Wir zeichnen nicht die Töne, sondern
die vibrierenden Zwischenräume. Wir zeichnen
nicht die Krankheiten, sondern ihre Symptome
und Wirkungen.
Erhellen wir unseren Gedanken durch ein
der Evolution der Musik entnommenes Beispiel.
Wir haben nicht nur radikal das nach seinem
festen Gleichgewicht ausgebildete also künst-
liche Motiv verlassen, sondern wir zerschneiden
willkürlich und plötzlich jedes Motiv durch ein
oder mehrere Motive, deren ganze Entwicklung
wir niemals geben, sondern nur ihre Einleitung,
ihre Mitte und ihren Schluß.
Wie man sieht, gibt es bei uns nicht nur Ab-
wechslung, sondern auch Chaos und Zusammen-
stoß der völlig entgegengesetzten Rhythmen, die
wir trotzdem zu neuer Harmonie zusammen-
führen.
So gelangen wir zu dem, was wir „Malen
der Seel en zu stände" nennen.
In der malerischen Beschreibung der ver-
schiedenen Seelenzustände gleicher Art können
senkrechte, wellige, gleichsam erschöpfte, hier
und da an Silhouetten leerer Körper angeklam-
merte Linien leicht die Sehnsucht und die Mut-
losigkeit ausdrücken.
Konfuse, hüpfende, gerade oder krumme
Linien, die sich angedeuteten, zufluchtsuchenden,
eiligen Gesten beimengen, bedeuten chaotische
Gefühlserregung.
Wiederum geben wagerechte, fliehende,
eilende, kurz abgesetzte Linien, die rücksichts-
los Gesichter mit ertrunkenen Profilen und zer-
bröckelnde Fetzen von Landschaften zerschnei-
den, die aufregende Bewegung des Scheidenden.
Es ist fast unmöglich, durch Worte das
Wesen der Malerei anzugeben.
Das Publikum muß überzeugt sein: um
ästhetische, ihm ungewohnte Empfindungen zu
verstehen, soll es vollkommen seine intellektuelle
Kultur vergessen, nicht um sich des Kunst-
werkes zu bemächtigen, sondern um sich
ihm verloren zu über lassen.
Wir beginnen eine neue Epoche der Malerei.
Wir sind sehr sicher, äußerst wichtige und
ursprüngliche Begriffe zu verwirklichen. Andere
werden uns folgen, die mit ebensoviel hart-
näckiger Kühnheit die Gipfel erklimmen werden,
die wir nur hatten blicken lassen. Deshalb haben
wir uns für die Uranfänger einer gänz-
lichen erneuerten Sensibilität erklärt.
In einigen Bildern, die wir der Oeffentlich-
keit vorführen, vervielfachen die Vibration und
die Bewegung unzählige Male den Gegenstand.
So haben wir unsere Behauptung verwirklicht,
von dem „laufendem Pferd, das nicht
vier, sondern zwanzig Füße hat."
Man kann übrigens vermerken, daß in
unseren Bildern Flecke, Linien, Farbenzonen
keiner Wirklichkeit entsprechen, sondern nach
einem Gesetz unserer inneren Mathematik musi-
kalisch die Bewegung des Betrachters vorbereiten
und vergrößern.
So schaffen wir eine Art eindrucksvolle At-
mosphäre, indem wir mit unserer Intuition die
Sympathien und Berührungspunkte suchen, die
zwischen der äußeren Szene (konkret), und der
inneren Anteilnahme (abstrakt) bestehen.
Diese augenscheinlich unlogischen, unerklär-
lichen Flecke, Linien, Farbenzonen: sie sind die
geheimnisvollen Schlüssel zu unseren Bildern.
Zweifellos wird man uns den Vorwurf
machen, wir suchten zu sehr die feinen Zu-
sammenhänge zu bestimmen und auszudrücken,
die unser abstraktes Innere und unser konkretes
Aeußere verbinden.
Wie will man jedoch, daß wir dem Be-
griffsvermögen eines Publikums absolute Frei-
heit lassen, das immer nur sieht, wie es zu sehen

gelernt hat, mit Augen, die die Erfahrung ver-
dorben hat?
Jeden Tag zerstören wir in uns und unseren
Bildern die realistischen Formen und klaren
Einzelheiten, die dazu gedient haben, eine ge-
meinsame Auffassung zwischen uns und
dem Publikum herzustellen. Damit die Menge
unsere wundervolle geistige, ihm unbekannte
Welt genießen kann, verschaffen wir ihm deren
materielle Empfindung.
So antworten wir auf die grobe und ein-
fältige Neugierde, die uns umringt, durch die
brutal realistischen Seiten unseres Primitivismus.
Schluß: Unsere futuristische Malerei enthält
drei neue Begriffe für die Malerei:
1 Die Lösung der Frage der Körperdarstel-
lung auf dem Bilde, entgegen dem Zerfließen
der Dinge nach Art der Jmpressionisten.
2 Die Fähigkeit, die Gegenstände mit den
sie charakterisierenden Li n ien kräf te n zu
übersetzen, durch den man eine völlig neue, ob-
jektive künstlerische Macht erhält.
3 Natürliche Folge der beiden anderen:
teilnehmende Atmosphäre des Bildes zu geben,
eine Zusammenstellung der verschiedenen ab-
strakten Rhythmen jedes Gegenstandes, der eine
bisher unbekannte Quelle von malerischem Lyris-
mus entströmt.
Umberto Boccioni
Carlo D. Carra
Luigi Russolo
Giacomo Balla
Gino Severini
Autorisierte Uebertragung von Jean-Jacques

Maler-Kritiker
Eine Erwiderung
In Nummer 17 einer Wochenschrift „Pan"
(also noch herausgegeben von Herrn Cassirer)
vom 14. März wird Herrn Paul Westheim, dem
Kunstfreund, dem Literaten, dem Liebhaber der
schönen Künste, vor allem aber dem Kritiker
erlaubt, einen Artikel: „Die vielen, vielen Künst-
ler", zu veröffentlichen.
Ich stimme mit Herrn Westheim so sehr
überein, daß ich Worte, Sätze, sogar Abschnitte
abschreiben und dennoch meine Meinung sagen
kann. Ich werde beweisen: „Gräßlich viel Men-
schen (Herr Wefctheim), werden heut zu Kri-
tikern gemacht Gräßlich für die, die da
glauben, durch ehrliche Arbeit weiter kommen
zu müssen; noch gräßlicher für tuns, die wir
gute Kunst lieben wie die schöne Natur, wie
das weite Meer oder" — nein, Herr Westheim,
hier kann ich nicht abschreiben. Es ist zu mäßige
Literatur — „hätte man Neigung zur Paradoxie,
so könnte man behaupten, daß es um so besser
um die Kunst bestellt scheint, je mehr Kritiker
ihr Metier betreiben."
„Kein Zweifel, es gab immer und allerorts
Geschöpfe, die ohne Berufung in den Journalen
vagierten, die Eitelkeit oder romantisches Ge-
blüt Kritikerlorbeeren erjagen hieß."
Aber Herr Westheim, konnten Sie es denn
gar nicht mehr hinterm Ladentisch als Kommis
für Kaffee und Tee aushalten? — Ließ Ihr
romantisches Geblüt Ihnen keine Ruhe mehr?
Wußten Sie denn nicht, daß man seine Be-
rufe wechseln kann und doch derselbe bleibt?
Ich bin überzeugt, daß Sie heut noch imstande
sind, Ihre Kundschaft mit jeder Sorte Kritik und
in jeder Güte zu bedienen. Allerdings, die
besseren Sorten führen Sie wohl nicht.
„Schlinggewächs! Den Ohnmächtigen, die
nicht können, was sie sollen, und nicht wissen,
was sie möchten, bleibt nichts weiter übrig, als
Persönlichkeiten, die mit ihren Arbeiten an die
Oeffentlichkeit treten, anzukläffen. Ganz gleich,

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