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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 125/126
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Burljuk, David Davidovič: Die "Wilden" Rußlands
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Döblin, Alfred: Jungfräulichkeit und Prostitution
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0143

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unglaublicher Spektakel — die reinste Walpurgis-
nacht. Hier vereinigten sich mit den „Akademikern“
auch die Elemente, die früher der Akademie wenigs
stens äußerlich Opposition, bildeten. (Der akat-
demische Kanon: „Werte“, Koloristik, der Glauben
an die ,»reale“, „richtige“ Zeichnung, an den „har-
monischen“ Ton (diese Teile des Gesetzes verwer-
fen manche, die aber das Weitere doch als heilig
betrachten) Konstruktion, Proportion, Symmetri,
Perspektive, Anatomie (das Verwerfen dieser Prin-
zipien ist das allerwesentlichste, das allererste, das
allerbezeichnendste — nicht umsonst haben sogar
Cezanpe und van Gogh, wenn auch nur einen ent-
fernten Wink, auf die Notwendigkeit der Befreiung
von diesem Sklaventum gemacht! Dieser Spek-
takel war bestimmt hier und dort ein Lärm, wel-
cher manche unbequeme Frage (bei den dünnhäu-
tigen) übertönte. ,,Habe ich denn auch Recht? Soll
man denn so dem Apollo dienen, wie ich es tue?
Ist es wirklich in! Ordnung, wenn ich von Jahr zu
Jahr immer dieselben Bilder male und rtur ihre
Namen ändere?“ Jetzt wird das Spiel offen ge-
spielt . . . .
Die Sache ist soweit gekommen, soweit hinten
ist die russische Kunst geblieben, daß zum Beispiel
Mujher von dieser Kunst überhaupt keine Notiz
nahm. (Was Benois wieder „gut“ machte.
Der russischen Ausgabe der Muther’schen Kunst-
geschichte wurde ein von Benois geschriebener
Extraband beigegeben, welcher die russische Kunst
behandelt, wobei der Kreis der „Kunstwelt“ den
Hauptplatz erhält). Sogar Maurice Denis trotz seL
nem Takt und trotz seinen mehr als bescheidenen
Forderungen lächelte ziemlich schief, als ihm die
russischen Kunstprodukte gezeigt wurden.
Die Anhänger der akademischen „Kunst“, für
welche das freie Suchen nach dem Schönen nichts
wie „Fratzenschneiden“ ist, für welche das patrio-
tische Gedeihen der „echten“ russischen Kunst na-
türlich die beste Gelegenheit bieten würde, mit ih-
ren talentlosen „Werken“ Handel zu treiben —
diese Elemente bilden den richtigen Albdruck der
Kunst, ihren Tod. Ein 'Teil dieser Elemente, wel-
cher ganz offen die Zähne zeigt, und mit Würde
sein Fell trägt, ist nicht der Gefährlichste. Wirklich
schlimm ist der andere Teil. Die mit Schafsfellen
maskierten Wölfe. 0, diese falschen Schäfchen!
Sie sind die echte Gefahr und es heißt — Obacht
geben!
Das sind die wirklichen Feinde der neuen
Kunst, welche glücklicherweise in Rußland exi-
stiert und welcher andere Prinzipien zu Grunde
liegen.
Ihre Vertreter Larionoff, P. Kuznezoff, Sarian,
Denissow, Kantschalowsky, Maschkoff, Frau Gont-
scharow, von Wisen, W. und D. Burljuk, Knabe,
Jakulow und die im Auslande lebenden Scherebzo-
wa (Paris) Kandinsky, Werefkina, Jawlensky (Mün-
chen) haben gleich den großen französischen Mei-
stern zum Beispiel Cezanne, van Gogh, Picasso,,
Derain, Le Fauconnier, teilweise Matisse und Rou-
ßeau) neue Prinzipien des Schönen,
eine neue Schön heitsdefinition in ihren Werken
offenbart.
Die Feinde dieser Kunst sollen sich nur vor
Lachen krümmen. Es sollen auch die verkleideten
Schäfchen uns ihr Wohlwollen aussprechen, wel-
ches sie ebenso gern einem,,, Kunstweltler“ schen-
ken.
Es bleibt ihnen nichts mehr übrig.
Um die Werke der genannten Künstler zu ver-
stehen, muß man gründlich den akademischen Kram
über Bord werfen. Das Gefühl muß gesäubert
werden, was den Menschen, welche in allerhand
schönen „Kenntnissen“ stecken, nicht so leicht ist.

Immer dasselbe alte Lied! Auch die größten
Zeichner des neunzehnten Jahrhunderts — Cezan-
ne, van Gogh — mußten dieses Lied hören. Unsere
„sezessionistischen“ Maler sind ja bis heute über-
zeugt, daß Cezanne kein übler Künstler war, wel-
chem es aber hauptsächlich an der Zeichnung man-
gelte.
Das neuentdeckte Gesetz aller der obengenann-
ten Künstler ist aber nur eine aufrecht gestellte
Tradition deren Ursprung wir in den Werken der
„barbarischen“ Kunst sehen. Der Aegypter, Assyn*
er, Skythen usw. Diese wiedergefundene Tra-
dition ist das Schwert, welches die Ketten des
konventionellen Akademismus zerschlug und die
Kunst freigab, sodaß sie in der Farbe und in der
Zeichnung (Form) aus der Dunkelheit des Sklaven-
tums sich auf den Weg des hellen Frühjahrs und
der Freiheit stellen konnte.
Das was erst in Cezanne, dem „Schwerfälligen“,
und dem krampfhaften van Gogh für djie ,,Hand-
schrift“ dieser Künstler gehalten wurde, ist eben
etwas größeres: es ist die Offenbarung der neuen
Wahrheiten und Wege.
Und diese sind:
1. Die Verhältnisse des Bildes zu seinen
graphischen Elementen, die Verhältnisse des
Dargestellten zu den Elementen der Fläche (was
wir als einen Wink schon in der ägyptischen „Pro-
filmalerei“ sehen.)
2. Das Gesetz der verschobenen Konstruktion
— die neue Welt der Zeichnungskonstruktion! Das
damit verbundene
3. Gesetz der freien Zeichnung —• (HaupL
Vertreter — Kandinsky, auch in den besten Wer-
ken von Denissow und besonders klar in den ,,Sol-
daten“ von Larionoff zu sehen.)
4. Die Anwendung mehrerer Standpunkte,
(was in der Architektur als ein mechanisches Ge-
setz längst bekannt war)1, das Vereinbaren der
perspektivischen Darstellung mit der Grundfläche,
das heißt, Verwendung mehrerer Flächen (Jaku-
low — „Cafe chantant“).
5. Die Behandlung der Flächen und ihre Über-
schneidungen (Picasso, Braque, in Rußland —-
W. Burljuk).
6. Das spektative Gleichgewicht, welches die
mechanische Komposition ersetzt.
Z.i Das Gesetz der farbigen Dissonanz (Masch”
kow, Kantschalowsky).
Diese Prinzipien bieten unerschöpfliche Queb
len der ewigen Schönheit. Hier kann jeder schöp-
fen, wer Augen bekam, die den, versteckten Sinn
der Linien, der Farben sehen können. Das ruft,
lockt und zieht den Menschen an.
So wurde definitiv das Band zerrissen, welches
die Kunst durch allerhand Regeln an die Akademie
fesselte: Konstruktion, Symmetrie (Anatomie) der
Proportionen, Perspektive undsoweiter — die
Regeln, welcher jeder Talentlose schließlich leicht
beherrscht —, die malerische Küche der Kunst!
Alle unsere Fach- und Gelegenheitskritiker
sollten die ersten sein, welche verstehen müßten,
daß es höchste Zeit ist, den dunklen Vorhang zu-
rückzuschlagen und das Fenster der echten Kunst
zu öffnen. i
Aus dem Jahrbuch Der Blaue Reiter, das von W,
Kandinsky und Franz Marc herausgegeben und bei R.
Piper & Co. in München erschienen ist. Auf das Buch
mit seinen zahlreichen wertvollen Illustrationen sei nach-
drücklich hingewiesen.

Jungfräulichkeit und Prostitution
Von Alfred Döblin
Der Mensch, ein Organismus. Die Organe zum
Hausgebrauch,, Heimarbeit, siehe Leber, Niere; Pri-
vatangelegenheit des Individuums. Oder nach

außen gerichtet, als Quollen, Wurzeln, Münder,
Hände. In ihnen drückt sich aus die Bindung
an die Umwelt, die andere Welt. Die Organe,
oft auf Vieles und Vielseitiges eingestellt; biswei-
len aber keusche Spezialistentätigkeit. Zwei Or-
gane und Systeme auf andere Menschen leibhaftig
gerichtet: dies die Brüste der Frau und die
Genitalien.
In den Genitalien der Hinweis auf den anderen
Menschen. Genauer den andersgeschlechtlichen
Menschen. Ihre Beziehung in einer Handlung er-
schöpft, der Kongressus, der Beziehungsakt. Da-
nach das Verhältnis beider Geschlechter von der
gröbsten Eintönigkeit.
An sich allemal identisch, simpel, wird die Se-
xualbeziehung vieldeutig durch die Vieldeutigkeit
der Triebträger. (Programm: Aufzeichnung eben
dieser Vieldeutigkeit.
Vorbemerkung. Nicht jedes Verhälnis zwi-
schen Mann und Weib spezifisch, nicht jede Reak-
tion des Mannes männlich, des Weibes weiblich.
Siehe die ungeschlechtigen Wissenschaftstiere mit
männlichen und weiblichen Kleidern und Hüten.
Grundaxiom: Jede spezifische Beziehung zwi-
schen Mann und Weib gleich Prostitution. Dies, die
Oberrubrik für sämtliche Kategorien und Vieldeu-
tigkeiten. Denn in den Genitalien Hinweis auf das
andere Geschlecht,, nicht aber1 auf den anderen
Menschen. Begründung von Prostitution, der
Mangel des Zwanges zum bestimmten Objekt, das
Fehlen einer fatalistischen Bestimmung für ein se-
xuelles Gegenüber, die Ziellosigkeit des Bezieh-
unfgstriebes. Die naturgegebene Unbestimmtheit
und ein naturgegebenes Dirnentum.
An der Schwelle Vorformen, Mißformen, Spott-
formen der Sexualität. Die spotten durchweg der
Fortpflanzung. Etwa folgende Melodie wird ge-
pfiffen: Was geht uns der andere an? Was geht
uns das andere Geschlecht an? Was geht uns der
Mensch an? Wo organischer Drang, jedoch nicht
der Beziehungstrieb Typus des Masturbanten. DeP
Masturbant: Asozial,, Menschenverächter,, Indivi-
dualist, Solipist Die Schlange, die sich selbst beißt*
Vielleicht ein Lobgepriesener des Buddhismus: denn
er beendet den Kreis der Wiedergeburten. Wo
organischer Drang, auch Beziehungstrieb, jedoch
nicht zum anderen Geschlecht: Der Päderast, die
Lesbica, der Sodomit,, der Fetischist. Wo Organe,
jedoch nicht e,nmal organischer Drang, da ‘die Fri-
gide; der tote Punkt der Sexualität. Von hier nur
ein Schritt zum Eunuchen.
Diese Vor-Miß-und Spottformen tiefsinnig und
sefhr belehrend. Denn,, sie lehren die Unabhängig-
keit der Triebe von einander und von den Organen,
lösen die verflochtenen Bänder.
Die Kokotte, die Geldprostituierte nicht die
reine Einfleischung natürlichen Dirnentums, nicht
einmal eine Addition aus Geld und Dirnentum.
Auf dem Satze: Alles meßbar und vergleich-
bar lebt Sozietät. Der Kaufmann als streng-
ster Sozialist sieht das Maß aller Dinge im Geld*—-
aber Sozietät und Kaufmann lehnen diese Bewer-
tung für die Sexualität ab. Kopfschüttel der Ko-
tette. „Pour quoi? Warum? Wieso? Weshalb?“
Wir sind doch keine Tiere, die sich fortpflanzen
pour le roi de Prusse, auch nicht Lebeweibcflien,
die sich in die Welt hineinamüsieren. Wer Talente
hat, entwickelt sie, setzt sie in Markstücke um,
beziehungsweise etcetera. Die Kokotte, ein Pionier
des Sozialismus auf moralischem Brachland. Höchst
moralische Unterjochung des Tieres im Menschen,
noch mehr, übermoralisches Gelächter über die
Sexualität. Nämlich Sexualität ein Mittel, um sich
höchst minderwertige Dinge zu kaufen, als da sind
Brillanten und Kartoffeln. Die Dienstbarmachung
von Naturgewalten feiert in der Kokotte einen Tri-
umph. Die Dirne treibt den Luxus eines barbari-
schen Millardiärs: sie läßt Kräfte für sich arbeiten.

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