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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

DOI Heft:
Nr. 129
DOI Artikel:
Kandinsky, Wassily: Ueber Kunstverstehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0158

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Umfang acht Seiten

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DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Ausstellungsräume
Berlin W / Königin Augustastr. 51

DRITTER JAHRGANG BERLIN OKTOBER 1912 NUMMER 129
Inhalt: Kandinsky: Ueber Kunst verstehen / Karl Borromäus Heinrich: Menschen von Gottes Gnaden / Albert Ehrenstein: Die alte Geschichte /
Günther Mürr: Gedicht / Grete Tichauer: Gedichte / Alfred Döblin: Tänzerinnen / Jacques RivUre: Baudelaire / Empfohlene Bücher / Kandinsky: Sechs
Originalholzschnitte / Franz Marc: Pferde: / Originalholzschnitt

Redaktion und Verlag
Berlin WO / Potsdamer Straße 18

Herausgeber und Schriftleiter
HERWARTH WALDEN

W. Kandinsky: Originalholzschnitt /1910


Ueber Kunstverstehen
Von Kandinsky
Zu großen Zeiten ist die geistige Atmosphäre
von einem präcisen Wunsch, von einer bestimmten
Notwendigkeit dermaßen erfüllt, daß man leicht
zum Propheten werden kann.
So sind überhaupt die Wendungsperioden, die
Zeiten, in welchen die innere, vor dem oberfläch-
lichen Auge versteckte i n n e r e Reife dem geisti-
gen Pendel unsichtbar einen unüberwindlichen Stoß
gibt.
Das ist der Pendel, welcher demselben ober-
flächlichen Auge als ein immer an dersel-
ben Stelle hin und her wackelnder Gegen-
stand erscheint.

Er steigt diesen gesetzmäßigen Berg auf. Bleibt
einen Augenblick, einen unaussprechlich kurzen
Augenblick, da oben stehen und nimmt den neuen
Weg, die neue Richtung an.
In dem unglaublich kurzen Augenblick des
Stillstandes kann jeder leicht die neue Richtung
prophezeien.
Es ist nur merkwürdig, fast unerklärlich, daß
„die große Menge“ diesem „Propheten“ nicht
glaubt.
Alles „Präcise“, Analytische, Scharfkantige,
Hartbestimmende, im Harten Gesetzliche, das
durch Jahrhunderte ging und im neunzehnten Jahr-
hundert allumfassend uns heute zum Entsetzen
sich „entwickelt“ hat, ist heute „plötzlich“
so fremd, so abgeschlossen, und wie es man-
chem heute scheint „unnötig“ geworden, daß man
sich beinahe mit Gewalt den Gedanken, die Er-

innerung aufzwingen muß: „es war erst gestern“.
Und . . . „in mir sind noch manche Ueberreste
dieser Zeit zu finden“. Diesen letzten Gedanken
glaubt jeder von uns ebenso wenig, wie den uns
persönlich bevorstehenden Tod. Aber auch das
Wissen ist hier nicht leicht.
Ich glaube nicht, daß es heute einen einzigen
Kritiker gibt, der nicht weiß, daß „der Impres-
sionismus aus ist“. Manche wissen auch, daß er
der natürliche Abschluß des naturellen Wollens in
der Kunst war.
Es scheint, daß auch die äußeren Ereignisse die
„verlorene Zeit“ nachholen wollen.
„Die Entwicklung“ spielt sich mit einer in
Verzweiflung bringenden Geschwindigkeit ab.
Vor drei Jahren wurde jedes neue Bild
vom großen Publikum, vom Kunstkenner, vom
Kunstfreund, vom Kunstkritiker beschimpft.

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