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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 115/116
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Marc, Franz: Zur Sache
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [9]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0083

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zeigen, den Gärstoff der neuen Zeit, um die wir rin-
gen. Das allein ist uns Hauptsache und muß es uns
sein. Wir sind in der Tat keine großen Kunsthand-
werker, wie sie manche reife Zeiten kannten, son-
dern Jäger auf neuen Spuren.
Wo heute handwerklich im alten Sinne Bilder
„nur Bilder“ gemalt werden, handelt es sich gar
nicht mehr um Kunst. . Diese Kunst gibt es heute
nicht und kann es nicht geben. Wir haben heute
keine Basis, auf der handwerkliches Kunstschaffen
erblühen kann. Wir leben in der Zeit eines unge-
heuren Umschwunges aller Dinge, aller Ideen. Es
gibt heute Menschen, die wie die ersten Christen,
Jahrtausende vor sich tanzen sehen. Ideen schwir-
ren in der Luft wie Geschosse im Gefecht. Wir
haben keine Zeit, die Knöpfe an unserer Uniform
zu putzen.
Wer dies nicht fühlt, wer diese fruchtbare und
heilige Zeit nicht liebt, gehört nicht zu ihr und ihrem
Werden.
Franz Marc


Der schwarze Vorhang
Roman
Von Alfred Döblm
Aufgejagt und plötzlich verwirrt suchte beider
wachsende Verstörung die Spuren des Weges ab,
den sie gekommen waren, suchte den alten Wind
wieder aufzusuchen, daß er wehe und rüttelte an
den Bäumen,, die kahl und steif waren. Er versank
in die unerhörten Brächte ihres Leibes, aber sie fan-
den sich nicht mehr, und sie vergaben es sich nicht,
daß sie Gemeinsames duldeten. Im Gewitter lief
Irene durch den Wald zwischen den kahlen Stäm-
men und jauchzte vergessen zu dem Blitz, der kni-
sternd durch die Luft sägte drehte sich auf den
Zehen um sich und bot die bloßen weißen Arme
und den zurückgewandten Kopf, Lippen, Wangen
und Lider dem Regen. In Johannes taumelte alles
in plötzlicher dumpfer Hingerissenheit; er sah nur
ihren glücklichen Hals und die hebenden Brüste, und
fühlte die sichere scharfe Krallenhand an seiner
Brust, hörte wieder das gelle Gelächter, das seiner
nicht achtete; die alte Wut packte ihn, daß er seiner
nicht froh werden konnte.
Und durch sie, die weiße, lachende; durch Irene.
Er streckte nach ihr die Hände aus, drohend. „Weh-
re dich, wehre dich! Verfluchte!“ Ihr zarter Ton
fragte nach seiner Traurigkeit, als er weit hinter
ihr zurückzubleiben begann. Seine Augen sagten
ihr: „Wirst bald mit mir traurig sein, Du“. Sie
sah in klar beherrschte Züge. In Abscheu und
Selbstverachtung fielen sie sich in die Arme und
küßten sich trostlos weinend in dem grauen Regen.
* *

Mehr als er litt Irene darunter, daß Lilith ge-
storben war. Ihr klagender Blick fuhr über sein
Gesicht: dann verwandelte sich Irene wieder in die
fremde stolze Aegyptische. Sie hatte vor seinen
Knieen gelegen und ihre bittende Hingesunkenheit
dargebracht; jetzt richtete sie über ihn, indem sie
klagte und anklagte. Er konnte ihren Blick nicht
aushalten und litt unter seiner Feigheit. Eine dumpfe
Schwüle wühlte in seinem Körper, so daß er die
Kleider beängstigend der warmen Haut anliegen
fühlte und sich sein Brustkorb sprengend hob. Ein
Schwindel überdunkelte ihn; mit einem Atemzuge
waren Farbe, Klang,, Umrisse hinweggenommen in
die Leere, in die er selbst versank, während sich die
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Augen schlossen, der Kopf tief in den Nacken legte,
die Arme sich reckten und der Körper mit leichtem
Zittern sich auf den Zehen erhob — Uneingeständ-
lich floh er vor ihrem Blick; aber er konnte es nicht
verhindern, daß immer wieder das verächtliche
Zucken um ihren linken Mundwinkel, den zu küssen
er sich oft vertieft hatte, vor ihm auftauchte.
„Ich bin es schuld“ — die Schwüle schloß sich
enger um seine Brust und Kehle. Zu nichts war
er vor seiner Sklavin durch die Mächte geworden,
die ihn haßten, wie allen Menschenstolz Er spürte,
während die Hände vergeblich abwehrten, das Fell
und die starren stechenden Fühlhaare der Schnauze.
Näher strich ihm der Atem warm und ruckweise
ins Gesicht. Wie er finster bei Seite schaute, saß
es ihm mit einem Satz an der Kehle. Da ließ er
den Kopf in dumpfer Trauer fallen.
* ±
Irene schlich entselbstet umher. Sie sah selten
auf, und mochte aufschreien, wenn man zu ihr
sprach, wie früher zu der ernstsanften und sicheren
sprach. Doch duldete es die Hingeworfene und
wurde glücklich im Vergessen, wenn ihre Freundin
zu ihr thörichtes, loses und böses kräuselte.
Sie glitt dann allmählich mit weinendem Herzen
in die blaue Luft hinunter. Mit verhängten Augen
erzählte sie von den Dingen der Oberfläche; ihre
Lippen sprachen von seinem seltsamen nicht haf-
tenden Blick; sie tranken wie eh aus zierlichen
Tassen und sogen an dünnen Cigaretten in dem
hellgelben, mit Seide ausgeschlagenem Zimmerchen
Irenes. Und die raschäugige lauschte und warf ihr
fragendes Entzücken dazwischen. In Irene wurde
es lichter, während sie plauderte, und von ihren
eigenen Worten getragen vor einen Johannes glitt,
vor etwas breitstirniges, rätselhaft finsteres und
liebloses, an das sie nicht denken konnte, ohne vor
Vergnügen bebend, die gelblich weißen Hände auf
die atmende Brust gepreßt, in heimlicher Wonne
vor sich hin zu lachen. Sie verstand ihn wohl
nicht mehr; sie hatte sich von einer grundlosen
Laune die Lust an ihm trüben lassen.
Leise bat schon etwas in ihr ab. Und als die
Freundin fortgehuscht war, sah Ihrene der leichten
rosigen vom Fenster aus mit glühheißen Wangen
nach. Auf die Straße ging sie. Sie genoß mit tiefen
Atemzügen den Alltag. Wie schön doch ihr Leben
war.
Mit lächelnden Lippen, aber innigem Ernst küßfe
sie in ihrem Zimmer Johannes Bild.

Ihre Augenlider hoben sich. Sie war die weiße
Decke und der grüne Plafond, der kleine goldene
Kronleuchter mit den bemalten Lichtern. Die nie-
drigen Stühle und die schimmernden Deckchen dar-
über schwammen in ihren Augen, gelbe Vorhänge
und grauweißes Dämmerlicht. Die Linien oben an
der weißen Decke krochen still und sperrten ihre
Mäuler auf, verschwanden und verrannen inein-
ander. Die Linien streckten sich rasch, lagen still
da. Eine leichte Hitze hauchte über ihre Arme, wo
sie den Brüsten anlagen. Zarte Spannungen klän-
gen in den Knieen und Schultern der stillen auf.
Sie stolperte über die Risse und grauen Punkte
an der Decke, die sie immer wieder entlang laufen
mußte, so daß die Angst sie tiefer atmen und die
zuckenden Kniee beugen und anziehen ließ. Und
dann stand doch ein kleines Säufzen fremd und
losgelöst irgendwo im Zimmer, dem sie antworten
mußte, das sie heißer bedrängte und suchen ging,

in Zimmermitten, in den Ecken, hinter den gelben
faltenschweren Vorhängen, — vielleicht unter dem
schweren verhängten Fisch, oder vor der Tür, vor
der Tür. Hastig warf sie sich auf, um es zu suchen.
Unter dem kurzen hellen Schmerz der gepreßten
Hand richtete sie sich auf und fand sich beim An-
blick der gelblichen Blässe ihrer Finger. Sie war
von den Dingen getrennt, fühlte sich in ihren Glie-
dern. Irene. Sie streckte sich, Irene Ein Son-
nenfleck schimmerte schon über die Vorhänge.
Ich will heute in der Morgenluft spazieren gehn.
Draußen im Garten Vielleicht schneit es heute.
Auch auf meine Bank schneit es. —
Wie beschattet von einer Unruhe, trug ihr die
,,Bank“ „Johannes“ zu. Sie konnten nicht mehr
draußen sitzen; es war Winter. Winter war es ge-
worden. -— Winter?
Und wo saßen sie denn zuletzt? — „Was ist
mit mir geschehen“? Aufgerichtet saß sie im
Bette, Beute aller Stürme und Entsetzen. Das Zinr
mer klagte sie an. , Die mädchenläppischen Bänder
an der Wand und der Kasten mit Andenken auf dem
Ecktischchen.
Sie drückte den Kopf in das Kissen, preßte es
an Aug und Ohr und reckte krampfhaft den heißen
Körper bis zu den Zehen, als wenn sie ihn von sich
stoßen wollte zu den Dingen zurück. — „Pfui, oh
pfui, ich — Dirne. Oh Maria nun hilf mir. Ich darf
ihn nicht lassen, nie und nimmer, dann wäre ich
ganz und gar geschändet. Seine feile Beute: ich,
oh ich —“ Sie schluchzte ins Kissen „Warum ließ
ich das geschehen? Ich darf nicht mehr leben, ich
will nicht mehr leben“.
♦ * *
*
Und der Wind packte wacker die Segel, biß
sich an den Rändern fest, spitzzähnig und brachte
das Boot zum Kentern.
Seine Seele schleppte Irenen mit sich herum.
Sie war ein leerer Raum, eine Gasmasse in ihm,
die sich immer weiter ausdehnte und in die alles
abfiel vom Gemäuer und erstickte: morsche Steine,
Blumen, rotblaue Gesichter, die anschwollen, quel-
lende Augen, Münder die nach Luft schnappten mit
angespannten Halsmuskeln und die Herzen wühlen
und wogen noch in der Brust. Die Finger spielen
und fasssen nichts; in Todesgrauen dreht sich alles
und kann sich nicht vergessen.
Er schleppte sie mit sich herum. Wohin hatten
ihn diese Gewalten gebracht! Es half nichts, daß
er sich immer wieder Ruhe und Sicherheit predigte;
so waren es doch nur Stunden, um die er getäuscht
war, und fand sich schließlich in einer alten stöhnen-
und nagenden Hilflosigkeit. Sie mußten sich tren-
nen. Er wollte aufatmen, sich vor seiner Schmach
verstecken, Der Zufall war es nur, der ihm Irene
zugeführt hatte, sollte es nicht Narrheit heißen, sich
an den Unsinn klammern und willenlos folgen? Ein
Mensch und Sklave des Zufalls ? — dem Zufall eig-
nets, zu verwirren, stören, zu quälen und entzük-
ken; er springt von einem Irrsinn zum andern und
das heißt leben, und ist alles Zufall.
* *
*
Ein Freund erzählt ihm da von den Geheimnis-
sen seiner Liebe; Johannes, zerstreut, warf unacht-
sam ein Wort dazwischen, das verstohlen von sei-
nen eigenen Heimlichkeiten sprach. Wie fremd und
schön sein Wort klang. Er erstaunte, nie war ein
Wort von seiner Liebe über seine Lippen gekom-
men. Er versuchte gelockt mehr; aber die Worte
rollten so ruhig hin und brachen nicht unter der
Last, die er ihnen auflud. Ein Wort rief mit eige-
 
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