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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 107
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Friedlaender, Salomo: Max Steiner: "Die Welt der Aufklärung", [1]: nachgelassene Schriften
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zulässige, ja gebotene. Askese ist nach Kant
prinzipiell unsittlich: sie würde, logisch zur
Maxime verallgemeinert, gar keine sittliche Em-
pirie mehr übrig lassen. Und hier eben ist es,
wo die von Steiner approbierte Kan tische Er-
kenntnistheorie ähnlich pessimistisch ausartet wie
bei Schopenhauer. Der Mensch beginnt, als Ver-
hinderung deS Absoluten, pathologisch' zu
wirken ! Ein von Kant gar nicht beabsichtigter,
aber schwärmerischen Gemütern sich leicht auf-
drängender Eindruck. Steiners Schwärmerei war
um so viel gefährlicher, als sie durch die eis-
kalte Gehaltenheit seines Geistes verdeckt bleiben
konnte.
Man darf nämlich nicht verkennen, daß die
Kantische „Hinterwelt" ein Energie-Reservoir für
Menschen von „dieser" Wilt ist: Kant ist Em-
piriker und Sensualist unter der Aegide zwar
des „Absoluten", des Göttlichen, der idealen Ver-
nunft, des ethischen; Glaubens; er ist kritischer
Optimist; kein dogmatischer wie Leibniz; kein
dionysischer wie Nietzsche; kein heroisch-bru-
taler wie gewisse Evolutionisten. Der Fall Max
Steiners dagegen ist in der Tat nichts Geringeres
als das Symptom eines Mankos in der Logik auch
noch der vernünftigsten Geister. (Philosophie
ist Logik gewordene Genialität.) Macht man,
wie Steiner, die Logik zum obersten Kriterium
des Lebens und sieht 'sich kraft, der Logik zur
Aufhebung aller Logik gezwungen —. was dann ?
— Die Schlange beißt sich hier nicht nur in den
eignen Schwanz, sondern ißt sich sogar selber
noch auf! Und das alles' freilich nur wegen des
Aberglaubens, der „Mensch" genannt wird. Der
sogenannte Mensch ist nichts als eine! petitio prin-i
cipü, eine naive Voraussetzung, eine der vielen'
Truismen des viel zu gesunden; Menschenverstan-
des. Eigentlich hat Kant in seinem Apriori be-
reits etwas ganz anderes als den Menschen zur
Voraussetzung seines Systems: Etwas, in Be-
ziehung worauf allererst ein Unterschied von
Immanenz und Transzendenz gilt! Nämlich1
den logisch-praktischen Formalismus seiner Be-
dingungen aller Erfahrung. Der „Mensch"
ist für Kant gar keine Bedingung, sondern ein
allen übrigen koordiniertes Bestandstück der
Erfahrung, ^iner der mannigfachen empirischen
„Inhalte"; eine der vielen Versinnlichungen der
„reinen", d. h. formalen, bedingenden Er-
fahrung. Die Voraussetzung Kants ist der
logische, :der „transzendentallogische" Mensch,
dessen Freiheit, Unsterblichkeit, Göttlichkeit so
sehr transzendent gewiß, wie immanent
finster bleibt: Dieser formale Gott ist bloß da-
durch Mensch, daß er seinen' Inhalt, seinen Stoff
nicht ebenfalls a priori erzeugt, sondern dunkel
empfängt; empirisch a pateriori. Kurzum, die
reine Vernunft, der logische, normale Mensch
enthält alle Bedingungen zur Schöpfung der
Welt an sich selbst, aller Welt — aber weiter
gar nichts! Die Welt, welche er in der Tat wirk-
lich erfährt, und unter die der Pluralis
seines empirischen Menschen ge-
hört, ist keineswegs sein adäquates Objekt oder
Subjekt; sondern seine Ueberraschüng mit etwas
ewig Rätselhaftem, das er gläubig und rezeptiv
hinnehmen muß, ohne jemals zur eigentlichen
Produktion und zum Wissen zu gelangen. Der
Intellekt ist sehr merkwürdigerweise bei Kant
kein Prädikat des Menschen: umgekehrt ist der
Mensch ein Prädikat des Intellektes, wodurch
dessen Aseität, Apriorität eine Schranke, eine Be-
einträchtigung erfährt. Aber Kant schreibt seine
Lehre für den Menschen vor! Der Kant der
Kritik würde jede Befassung mit der Erlösung
vom Menschen als eine unkritische Naivität ab-
gelehnt haben —, als transzendente Spekulation;
wie es denn überhaupt eine Menge tiefer
Probleme gibt, welche Kant prinzipiell ignoriert!
Bei Kant ist der empirische Mensch eine Art
Asymptote an das Wesen der Dinge, das' dem
apriorischen Intellekt eigentlich entsprechen
22

würde. Kant bleibt durchaus der Philosoph der
„'Erscheinung", der das „Wesen" immer bloß
pädagogisch, niemals im Sinne der Erlösung as-
ketisch verwertet. Sein Bereich .ist die von der
Transzendenz, nicht zur Transzendenz' geleitete
Immanenz. Dagegen tendiert das Christentum
wie auch dessen intuitivster Philosoph, Schopen-
hauer, vom Menschen weg zur Transzendenz hin.
Max Steiner läßt sich als ein konsequenterer, rigo-
roserer Schopenhauer betrachten. Die Kantische
Kritik erlaubt ihm keinerlei Anschein der Trans-
zendenz, mit dem Schopenhauer so bestechend
brilliert: kein Strahl der Erkenntnis’, dringt in das
transzendente Geheimnis: desto intensiver wird
die praktische Gewißheit, desto radikaler
der Krieg, die Alternative zwischen Diesseits und
Jenseits; es gibt hier keine Vermittlung,
keine Rücksicht, keine Schonung! Bei Kant (und.
auch bei Goethe) ist gerade) der Mensch dieses
versöhnende und distanzierende, die Distanz in-
dividuell nuancierende Mediu'm. Steiner will weder
gute noch schlechte Kompromisse, sondern er
will das Jenseits. Demgemäß vermißt er an Kant
diese genaue Indikation, diese unzweideutige
vernünftige Vorschrift, den prinzipiellen Befehl
zur Askese, den reinen Inhalt der reinen Form;
die rückhaltlose Einwilligung in die letzte Er-
kenntnis der Nichtigkeit aller Erscheinung. Dem-
gemäß kann er in Nietzsche nichts anderes sehen,
als den konsequentesten Anwalt des „Diesseits".
Was hilft denn die skeptischste Dialektik des
Geistes, wenn das Herz nun einmal nichts davon:
wissen will, das unausrottbare Gefühl des Ekels
vor, solchem Gfeiste, der mit der stärksten und
feinsten Kraftanspannung im wesentlichen
nichts leistet, nichts leisten kann?’—
II.
„Wer kennt sein eigen Herz?" Dieses Zen-
trum der Person, das so gewiß vorhanden, den-
noch so schwer erreichbar wie der Erdmittel-
punkt ist. Les grandes pensees viennient du coeur.
Was der Mensch im Innersten will, ist gar nicht
mißzuverstehen, und Kant hat es einigermaßen
adäquat formuliert als: „Gott, Freiheit, Unsterb-
lichkeit." Eine solche Ausschweifung im Wün-
schen, angesichts der komparativ recht erbärm-
lijchen Realität leicht lächerlich, erforderte die
strengste Zügelung und Zucht, und Kant hat
ihr sie reichlich angedeihen lassen. Er ist hierin
übertroffen worden durch Schopenhauer, der
das Leben radikal desidealisierte zugunsten eines
Gegenlebens. Hier haben wir die verhängnis-
volle Alternative, der Worte, die Nietzsche mit
aller Wucht umgekehrt akzentuierte, bis in das
innerste Derz hinein, das er .sich in der Brust
selbst herumdrehte. Auch Max Steiner blickt der
Realität wie Nietzsche in das furchtbare Antlitz
— aber sein Flerz ist geteilt, zerrissen. Er demon-
striert mit seinem Uebertritt zum Katholizismus
gegen die Instinktflachheit der modernen Athe-
isten. Sein Geist ist ersichtlich auf selten der
vorliegenden naturwissenschaftlichen Realität.
Aber den brutalen Gottesstaatsstreich der Um-
wertung kann er desto weniger mitmachen, als
er offenbar von der Methode einer gegen-
seitigen Bedingtheit des einander
Aus schließenden logisch nichts wissen will.
Er konnte Gottes (der sittlichen Idee) nicht ent-
raten; und ihn auf die andere Seite zu schaffen,
wie Nietzsche, widerstrebte senie'm mystischen
Herzen. Mit Recht ergriff ihn gleich Nietzsche
der grimmigste Hohn, wenn naturwissenschaft-
liche Denker mit christlicher Salbung sittliche
Folgerungen aus den un- und antichristlichsten
Prämissen ableiteten. Sein Philosophieren trägt
den Januskopf, dessen entgegengesetzte Ant-
litze diesseits und jenseits und toto coelo diver-
gieren lassen. Ja, höchst wahrscheinlich würde
seine politische Ethik, hätte er sie vollenden
können, ihre ganze Energie aus-der Unvereinbar-
keit dieser Differenz bezogen haben. Aber keinen

Psychologen kann die scheinbar neutrale Hal-
tung Steiners darüber täuschen, daß er im
Innersten gegen das Diesseits Partei genommen
hat. Nietzsche z. B. hat sich zwar gegen das
Christentum für Dionysos erklärt: aber er ließ
diese Antithese in aller Spannung real bestehen ,
er geriet durchweg mit dieser Gegensatztypik
als mit etwas Unloswerdbarem. In diesem Ver-
ständnis bleibt Steiner zurück. Mit eminenter
logischer Kraft strengt er sich an, diesen Zwie-
spalt praktisch zu entscheiden, sittlich zu
erledigen: Zu leben — nicht bloß von Gnaden
der Geburt, sondern ... triftig gegründet! Es
blieb ihm dabei: Erkenntnis ist nicht lebens-, das
Leben nicht erkenntnisfähig. Steiner hat uns eine
sehr merkwürdige mystisch klingende Be-
hauptung ohne allen Beweis hinterlassen: um
ein Problem praktisch lösbar zu machen,
braucht man es theoretisch werder be-
Beispiel, es gäbe keinerlei objektive ethische Nor-
men — so könnte dieser Nicht-Befund sehr wohl
die Grundlage einer politischen Philosophie ab-
geben ! Aehnlich sagt er: „Die wissenschaftliche
Erfolglosigkeit der Rätsellösung macht den reli-
giösen Versuch nicht unmöglich, sondern drängt
ihn geradezu auf." Schließlich ist es wohl die
radikale Verzweiflung an der Auffindung einer
Moral mit logischem Fundament gewesen, welche
die Erkenntnis für Steiner so tragisch machte.
„Singe! sprich nicht mehr!" Das Erlösungswort
der Seele Nietzsches fand bei diesem rigorosen
Logiker kein Gehör. Wir haben von Nietzsche
das Eingeständnis, daß er sich der Furchtbarkeit
des Immoralismus, des Atheismus zwar theore-
tisch, aber nicht praktisch gewachsen, fühle. Aber
allen Anschein hat es, daß das Werk Steiners
Fragment geblieben ist, weil er den Atheismus
nicht einmal theoretisch ertragen konnte. Ohne
Gott verliert auch die Logik ihre Dignität; sie
wird zum belanglosen Spezialfall des Chaos.
Der Selbstmord aus Atheismus flößt Ehrfurcht
ein. Woher weiß man So genau, daß Nietzsche
kein Selbstmörder gewesen ist, gesetzt, der Tod,
sei das plumpste Mittel, gestorben zu sein? —
Fortsetzung folgt

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