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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 146/147
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [6]
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Adler, Joseph: Berliner Sylvester
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Empfohlene Bücher / Notiz
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0265

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...Reden- Sie, liebes Fräulein,“ stammelte er.
..Nein! Sie mifesen mir (vorher versprechen,
•daß Sie nicht nein sagen werden! . . .“
„Wenn ich es vermag . . .“
„Es ist ein nichts, Herr Theobald! . . . ein
nichts! . . .
Sagen Sie: Ja! . . .“
Herr Theobald zögerte.
„Versprechen Sie es mir! Ich bitte darum!“
Sie stand ganz dicht vor ihm und lächelte ihn
an . . .
Ihr Lächeln! . . .
..Sagen Sie: ja! Sagen Sie es!“
. Ja . . . Ja! . . .“
Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Er verfärbte sich und wich zurück.
Aber sie breitete ihre Arme aus . . .
Da. gab er einen schluchzenden Laut von sich
und sank an ihre Brust ...
Sie war gegangen ... ..
. Eben als es Mittag schlug und die Glocken an-
huben zu läuten, hatte sie ihm. ein letztes Mal die
Hand .gedrückt, und ihr Kopf war, mit einer
lächelnden Wendung gegen ihn, hinter der Türe
verschwunden.
Seitdem hatte er- sich stumpf und regungslos,
nicht vom Platze gerührt, und sein ganzes Be-
mühen war dahin gegangen, ihr Bild in seiner
Phantasie festzuhalten.
Eine Stunde schon saß er so.
Er vermeinte noch ihren letzten Gruß zu
hören, das leichte Geräusch ihrer Tritte, als sie
die. Stiegen hinabgegangen war, tönte in ihm fort,
ihm war, als vernehme er noch den dumpfen
Ton, als die Haustüre hinter ihr ins Schloß ge-
fallen war —
Fort, fort . . .
Herr Theobald nahm Hut und Stock, verschloß
die Türe und ging, die „Sorge“ hinunter, nach der
Stadt.
Während der Schnee unter seinen Füßen
knirschte, und das grelle Licht des Wintertages
von allen Seiten auf ihn eindrang, wurde er ge-
wahr, wie das Gefühl der Bangigkeit und einer
verzweifelten Sehnsucht in seiner Brust sich lang-
sam und zaghaft löste.
Er langte auf dem Marktplatz an, nahm seinen
Weg schlendernd durch die Lauben, umging mehr-
mals den kleinen Platz und war sich im Grunde
gar nicht klar, wo er war und was er wollte.
Die Menschen sah er nicht, ebensowenig die
Häuser um sich her; er machte den Weg rein
mechanisch. Sein Blick war immer starr gerade-
aus gerichtet, hatte kein Ziel und verlor sich in
einem Wirrwarr von Gestalten und Geschehnis-
sen, die seine heiß arbeitende Phantasie in einer
uferlosen Menge vor ihn hinstellte.
Die scharfe Luft, die seinem Gesichte beißend
entgegenschlug, tat ihm ungemein wohl, und die
Sonne, die berückende, sich zärtlich einschmei-
chelnde Wintersonne, bewirkte, daß in seine Seele
etwas, wie ein lachender Schein fiel und dort ein
kleines . Glücksgefühl weckte, ein bescheidenes,
winziges Glück, von dem sich dem Körper eine
behagliche Menge von Wärme und Trost mitteilte.
. Er dachte:
. Da draußenjrgendwo fährt jetzt ein Zug . . ,
. Keuchend und pustend stampft er dahin, durch
Felder und Wälder, und an Dörfern und Städten
vorbei, und, in irgendeine. .Ecke, gedrückt, mit
leuchtenden Ajugen, mit. sehnsüchtigem Herzen,
si^zt .jemand, der immerhin meiner gedenkt, . . .
meiner gedenkt ...
Er, vfurde, nicht müde, es . sich auszumalen:..
Wie. sie Jmmer an ihn denken. mußte, genau, so
wfe er“ än “si'e . . .'

Wie in ihrem Herzen ein Keim von Dankbar-
keit steckte, der wuchs und wuchs und sich wan-
deln würde ...
War es nicht wirklich geschehen?
Hatte sie es ihm nicht wirklich gesagt, mit
Worten, mit ihrer eigenen Stimme, indem ihr
Körper sich leibhaftig an den seinen gepreßt
hatte? ...
Daß sie ihn lieb habe — *
„Ich habe dich lieb,“ hatte sie gesagt . . .
Herr Theobald blieb stehen, sah starr vor sich
auf den Boden und machte mit seinem Stocke
kleine verschrobene Zeichen in den Schnee.
„Ich habe dich lieb,“ sagte er dabei und
lächelte in sich hinein.
Wie oft sagte er es?
Es war plötzlich Sonne in ihm.
Warum ging er nicht hin und umarmte diesen
Baum, warum fiel er nicht um jene Säule und
küßte sie! Jeden Stein hätte er aufheben mögen
und ihn liebkosen, alles, was um ihn her war, an
sein Herz drücken. Er lief plötzlich im schärfsten
Tempo dahin, daß, die Leute stehen blieben und
sich verwundert und belustigt anstießen, er
rannte . . . rannte . . .
Fortsetzung folgt

Berliner Sylvester
Und sie raste wieder, die Sylvesterbestie.
Sie bereitete der Papierschlange ein Paradies, der
Jahreswechsel wurde von allen Lebensanalpha-
beten sorglos akzeptiert, die Weiber kreischten,
als gingen sie mit dem neuen Jahre nieder, Ra-
keten stiegen, der Knalleffekte des gemeinen Ulks
und der Rohheit war kein Ende, und das war hur
der Anfang. Zwischen dem Sarge des alten Jah-
res und der Wiege des neuen wurde die Lebens-
freude vergewaltigt. „Immer obenauf“ ist die De-
vise der Kinder echter Fidelität, und der Men-
schenwürde ist ein tolles Ende bereitet. Leute,
die das ganze lange Jahr hindurch nicht ein Fünk-
chen Geist versprühn, verbrennen in der Syl-
vesternacht nach einer f a m o s e n Idee. Und es
ist wahr: daß „es bedeutend leichter ist, die zahl-
reichen gemütvollen Feste an ihrem vorausbe-
stimmten Datum zu feiern, als das eine, das aus
irgendeinem unbekannten Grunde ein reiches Maß
von Witz verlangt. Von dem überreichen Vor-
rat an Gemüt, der uns mm mal innewohnt, kön-
nen wir immer spenden. Leider sind wir nicht
ehrlich genug, um uns einzugestehen, daß es mit
unserer eingeborenen Lustigkeit nicht weit her ist
Mag Punsch, Sekt und angenehme Weiblichkeit im
Laufe des Abends den sagenhaften Berliner Witz
in uns • entfesseln — am Nachmittag sind wir noch
äußerst verlegen.“
Doch „wie immer, wenn uns was fehlt, tritt
eine Industrie auf, um uns zu helfen; und so ist
auch der Sylvester scherz Gegenstand einer In-
dustrie geworden.“ Tausende fleißige Hände
haben sich gerührt, um die unumgänglich not-
wendigen Lawinen der Heiterkeit ins Rollen zu
bringen. Es schneit Konfetti und die Lawinen der
Heiterkeit kommen ins Rollen. Wehe, wehe! Das
alte Jahr ist pleite, die Scherzindustrie floriert,
und nur die Polizei versteht keinen Spaß. Der
Ernst des Lebens ist kalt gestellt, und „mit heißer
Stirne betritt man die Straße, die mit Fall-
stricken, Papieren und’ dem Lärm der un-
möglichsten Radauinstrumente angefüllt ist“. Es
falten Papiere, es schneit Konfetti, die Lawinen
der Heiterkeit stürzen über Fallstricke und die
Radauinstrumente töten Warnungssignale. Prost
Neujahr! - '■ ■ ■■

„Schon gegen 10 Uhr sah man in der Behren-
straße und Unter den Linden starke Auf-
gebote von Schutzmannschaft zu Fuß
und zu Pferde von den Polizeioffizieren die
letzten Instruktionen entgegennehmen. Es sah
aus, wie Szenen aus einem militä-
rischen Feld lager.“
Die Polizei hatte gegen den inneren Feind ge-
rüstet: der eingeborenen Lustigkeit. In der Zeit
des Waffenstillstandes am Balkan erklärt die Ber-
liner Schutzmannschaft der Lustigkeit den Krieg.
Ist das nicht traurig? Der Säbel erhebt sich
gegen den Niedergang des Witzes und der Revol-
ver ist in Bereitschaft gegen eine Fidelität, die ihr
Ziel verfehlt. Den Abstand, der zwischen Witz
und Lustigkeit gähnt, kann man an der Gefahr er-
messen, die dem Nächsten droht.
Ueber die Nacht, die aus irgendeinem unbe-
kannten Grunde ein reiches Maß Witz verlangt,
bricht die Handschellendämmerung herein. Nur
die wüsten, hungrigen Begleiterscheinungen eines
mageren Witzes sind da. Er sickert, ob auch
Sekt und Champagner fließen, und angenehme
Weiblichkeit muß ihn entfesseln» selber an männ-
liche Trauergestalten gekettet. Sie entfesselt
Witz und ist im Ernst zu beklagen. Sie zündet
Splitter, wo sic Brände lockern möchte, sie ent-
fesselt die s c h c e n e Ungebundenheit, selber an
das Wrack einer gescheiterten Eunuchenmoral
geschmiedet. Die angenehme Weib lichkeit
ist die blutige Blüte einer verdorrenden. Sitte, sie
ist ein Produkt der modernen Kultur, ein Surro-
gat des Weibes, das der spekulative Bube Zeit-
geist der Allmutter stückweise abgeschachert hat.
Joseph Adler

Empfohlene Bücher
Die Schriftleitung behält sich Besprechung der Wer
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.
Nicolas Beau du in
Les Poetes: Premier Fascicule: Nicolas Beauduin
Paris / E. Basset et Cie / Editeurs
Poeme et Drame
Volumen I November 1912: Gustave Lanson /
Georges Polti / Louis Mandin / Guillaume Apol-
linaire / Jean de Broschere / A.-R. Schnee-
berger / Albert Gleizes / Jean Metzinger /
Auguste Callet / Charles Callet / Jean Muller /
Gaston Sauvebois / Henri-Martin Barzun
Paris / Verlag Eugene Figuiere et Cie / Editeurs
Albert Verwey
Hct Eigen Rijk / Gedichte
Haag / De Zilverdistel
Paul Zech
Das schwarze Revier / Gedichte
Umschlag von Ludwig Meidner
Verlag A. R. ‘Meyer / Berlin-Wilmersdorf

Notiz
In dem Gedicht Späte Oktober nacht
(Nummer 144/45) muß die siebente und achte Zeile
beißen:
Ängstigend über reifen Gestalt
Dringt h och, langsam doch ohne Halt.

Verantwortlich für die Schnftleitung: ;
Herwarth Walden ?/ Berlin W 9- . ;
.. '267
 
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