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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 144/145
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Friedlaender, Salomo: Präsentismus: Rede des Erdkaisers an die Menschen
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Benn, Gottfried: Nocturno
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Tichauer, Grete: Flimmerndes Mädchen
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Zech, Paul: Das Reiterliedchen
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0252

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Geist, der s t e t s v e r e i n t, ich bin doppel-
züngig mit neutraler Zunge wie Orakel. Ich bin
die Sphinx, die ihr eigenes Rätsel gelöst hat.
Ich bin.
Aber der Dr. S. Friedlaender ist mein Großmaul.

Noeturno
Anni ....
Da ging er zu Bekannten. Ein Mann und eine
Frau, der Mann spielte. Sein Kopf hing aus einem
Urwald hervor. Um seine Arme wanden sich dicke
feuchte Ranken.
Die Frau lag vor ihm. Sie hatte Netze von
blauer Mütterlichkeit über den Augen. Das tat
ihm wohl, der er nicht hatte, wo er sich bergen
sollte. Dann sah er auf ihr Haar. Das war frucht-
bar, schwer, der Liebe gehörig. Ein Reif darin
sang rauh aus grünen Steinen: wie sind die Nacken
der Frauen so sanft!
Da sah er sie und ihren Mann sich begehren und
stillen, und wie hernach die Erde gegen sie wuchs
und sie an sich nahm und trug, und die Nacht, die
über sie sank.
Da durchstach ihn seine Einsamkeit. Da krümmte,
ihn ein Schmerz. Da fühlte er seinen Leib dürr,
krank geschlagen, mit einer lächerlich großen
Wunde. —
Nun fühlte er sie stärker noch als schon den
ganzen Tag und alles, was er verloren hatte: die
ganze wehende Süße, wenn sie neben ihm geschrit-
ten war, der Stirne prunkende Gebärde, das Haar
— oh nicht zu denken an dies Haar!
Die Zähne schlugen ihm aufeinander. Er sah
dies Haar sich vor einem andern Manne öffnen. Der
strich darüber. Das war es nun. In Ober-Italien
würde es sein. Auf den Borromäischen Inseln viel-
leicht. In einem Hotel: die Tür zum Balkon stand
offen und ließ die Nacht herein und das Meer.
Er hörte einen Schrei. Die ganze Erde schrie,
als es dann geschah. Ein Röcheln war es wie aus
einem fernen Untergang. —-
Da erhob er sich und ging. Wenig Menschen
kamen. Ein Fräulein kam mit Ohrringen. Wohl-
wollen heischend war die dunkelrote Form von
ihrem Hut. Ein Trupp junger Männer kam. Froh,
laut, voll beruflichen Ansehens, denen wenig fehl-
schlug. Sie lachten und waren vorbei. —
Dann war er im Walde. Noch einmal überfiel
er ihn: zu fliehen und zu reisen. Ägypten lag ihm
sehr am Herzen. Asien dämmerte auf. Häfen,
Möwen, braune Kutter waren da; weißer Oleander
die Ufer hoch.
Was aber dann, sagte er sich? dann? Ueberall
würden Städte sein, in denen sie nicht war. Man
konnte Meere durchfahren und sie blieb doch ver-
loren. —
Dann ging er weiter.
Nun trug er sie zum letzten Mal durch den
Abend, an den schlafenden Wassern vorbei. Er
labte ihre Lippen mit der Süße des hellen Mond-
lichts. Er gab ihr von den zarten Nebeln an die
Schläfen. Um die Schultern tat er ihr das Weiche
aus den Wölbungen der Uferwälder gegen den
hellen Nachthimmel.
Dann stand er still. Entkleidete sich. War nackt.
Nun schöpfte er mit den hohlgebogenen Händen
tief von unten an sich empor bis über die Stirne,
als höbe er etwas aus sich hervor: wie lange trug

er sie nun schon als das Liebste in seinem Blute;
das Schönste, das an ihm war; Fernstes, Weiches,
Verborgenes, Brüderliches: sie.
Das hielt er nun in die Höhe. Bewegte leise die
Hände. Streute es in die Nacht wie Staub, wie Ge-
ruch, wi eine Wolke.
Ganz, ganz leise regte er die Hände. Mit einer
letzten schluchzenden Zärtlichkeit. Mit fast ge-
schlossenen Augen, als fühlte er, wie es entwiche.
Dann fanden die Hände und taten ihr letztes
Werk. —
Gottfried Benn

Flimmerndes Mädchen
Als das ganze Zimmer voll Sternen war,
zog sie sich aus;
stand nackend und lachend
mitten drin da
in Sternen.
Oben haschten ihre Finger
den kleinsten nach;
größre flirrten und stiegen
um wiegende Glieder
Hüfte und Knie.
Silbern im Silber des Raumes;
in Sternen.
Sie tanzte des ersten Sterbens
Klingenden Himmelstanz.
Grete Tichauer
Das Reiterliedchen
Von Paul Zech
I.
Da lag ein Don in der Nähe von Mons. Immer
das Bahngele,ise entlang mußte man gehn. Eine
halbe Stunde vielleicht. Es gab aber auch Leute,
die nur zwanzig Minuten dazu brauchten. Jenach-
dem.
Das Dorf war unansehnlich und hart. Denn keine
Vorgärten lagen protzig vor den Häusern. Und auch
kein Springbrunnen stand auf dem Marktplatz; nur
ein großes hölzernes Kruzifix.
Aber eine Kirche hatte dieses Dorf und eine
Schule.
Die Schule war krumm und blind wie ein Kriegs-
veteran. Und auf dem Kirchturm nistete eine
Storchfamilie.
Und genau vierundzwanzig Häuser waren noch
vorhanden. In dem ersten Hause wohnte der
Pfarrer mit dem Meßdiener. Es war ein großes
weißes Haus. Auf den Fensterbrettern standen ein
paar Blumentöpfe und dicht dahinter hingen blaue
Gardinen herunter.
Das zweite Haus gehörte dem L*nrer und das
dritte dem Maitre. Beide Häusei hatten grüne
Türen und flache Dächer.
Und dann kamen noch zwanzig Häuser, die
waren alle wie ein Haus: schwarz und torfge-
picht und vor den Fenstern lagen Misthaufen: Auf-
gehäuftes von Ziegen und Schweinen und Kanin-
chen.
Das vierundzwianzigste Haus war auch schwarz
und torfgepicht. Aber statt des Düngerhaufens lag
immer ein Kind in der Sonne. Und in der offenen
Tür, die zweiteilig war, stand die Frau Huysmanns
und strickte.

Jean Huysmanns, ihr Mann, war ein Steiger.
Jeden Morgen um fünf fuhr er auf dem Dreirad zur
Grube. Und er kam erst nach sechs Uhr abends
wieder zurück auf dem Dreirad.
Er aß dann und trank wie einer, der viel arbei-
tet. Und nach dem Essen ging er gleich zu Bett.
Manchmal küßte er auch die Frau noch ehe er
schlafen ging. Wenn er ihren versteckten Mund
sah und die Augen, sagte er immer wie aus der
Ferne: „Liebe Madelaine!“
Und sie kräuselte die Lippen und küßte ihn. Und
ein Kater strich schnurrend an ihrem Fuß. Nach
einem Weilchen stiegen sie dann zu zweit ins Bett.
Und als eines Abends Jean Huysmanns wie-
derum Frau Madelaines Mund suchte und die Au-
gen. und ein ganz klein wenig näher „Liebe Ma-
delaine“ sagte, nahm sie seine Hand und zerbrach
darin etwas.
Und Jean kam noch ein wenig näher und
meinte: „wir könnten uns doch gut einen Kostgän-
ger halten!“
Da schoß ihr Mund aus de\ Tiefe empor, wie
wenn sich eine kleine, süße Muschel öffnet. Und
die Augen streckte sie wie zwei Fühler aus. Ein
Lachen war darüber gespießt, das war rot wie
ein Herz. Und er war ihres Mannes Herz.
II.
Am andern Morgen, kurz vor dem Mittagessen
kam der Kostgänger. Er reichte der Frau die
weiche rotfleischige Hand wie ein Bekannter und
sagte: „Der Huysmanns schickt mich. Stappen,
Leon Stappen ist mein Name.“ Und die Frau ließ
die warme Hand langsam entgleiten und nickte.
Der Kostgänger wollte gleich seine Schlafkam-
mer sehen. Und als sie ihn die Treppe hinauf-
führte und das Zimmer aufriegelte, wo ein frisch-
bezogenes Bett sehr breitbeinig stand, dachte Frau
Madelaine: er wird fünf Jahre jünger sein, denn
Jean. Und sein Haar ist ganz anders. Er wird ein
Vlame sein. Vielleicht aus St. Amand wo meine
Schwester wohnt.
Da Leon Stappen sich umwahdte mit blitzenden
Zähnen, meinte Madelaine schlicht: „mm wollen
wir essen. Ich habe Kohlrüben gekocht mit Ham-
melfleisch. Jean muß jetzt Aufgewärmtes essen.
Ich habe sonst immer des Abends die Mittagskost
gekocht“.
Er verzog gleichgültig den Mund und trommelte
mit den Lippen so wie Huysmanns, wenn er Sauer-
kraut mit Pfötchen gegessen hatte. Aber diese
Lippen sagten etwas anderes.
Dann gingen die Zwei hinunter und aßen. Und
nach dem Essen holte Madelaine das Söhnchen aus
der Kammer und hielt es dem Kostgänger hin.
„Das ist Pull!“
„Ja das ist Pull!“
„Vier Jahre wird er im Herbst und dann be-
kommt er Hosen an und ein Pferdchen wird ihm
Vater kaufen.“
„Ja. ja ein Steckenpferdchen werde ich ihm
kaufen“ sagte Leon Stappen und nahm den Buben
aufs Knie und ließ ihn reiten.
Eine ganze Weile ritt das Söhnchen so auf dem
Knie des Kostgängers.
Und Madelaine stand mit dem Rücken am
Fenster und wiegte den Kopf zu diesem Liedchen,
das Leon Stappen achtlos vor sich hinpfiff. Von
ihrem Scheitel standen ein paar ganz feine Härchen
in der Sonne und leuchteten wie Stahlspitzen.
Aber es war kein Reiterliedchen, das der Vlame
pfiff.
Und ganz plötzlich hatte Madelaine das Gefühl,
als ob jemand ihren Kopf zwischen zwei weiche,
rotfleischige Hände nähme und den Mund aus
seinem Versteck wie mit einem Pfeifchen lockte.

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