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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 144/145
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [5]
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Meyer, Alfred Richard: Märzlich den Kurfürstendamm herunter
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0257

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Herr Theobald wurde unruhig.
Belästige ich sie? fragte er sich.
Dennoch wagte er, wenn auch zögernd, weiter
vorzudringen.
„So wollen Sie es nicht versuchen?“
„Versuchen! — -— Wie, Herr Theobald?
Wie?!“
Herr Theobald überwand sich.
Ohne ihr ins Gesicht sehen zu können, sagte
er: „Dafür will ich gerne Sorge tragen . . . wenn
Sie gestatten . . .“
Schließlich warf er doch einen Blick zu ihr hin-
über. Sie lag noch ebenso unbeweglich, ihre Lider
bedeckten die Augen, kein Zug in ihrem Gesichte
verriet sie.
„Wie. Sie wollen? . . .“ fragte sie endlich, und
in ihrer Frage lag nichts von Ueberraschung und
nichts von Freude.
„Was in »meinen Kräften steht, gern,“ sagte
Herr Theobald zögernd. „Ich habe freilich nicht
viel. -— aber wenn sie glauben, daß es ausreicht...“
Das dürfen Sie nicht tim,“ sagte unbeweglich
Fräulein Hermine.
Herr Theobald war ratlos.
„Nehmen Sic es nicht an?“
„Das dürfen Sie nicht tun,“ wiederholte Fräu-
lein Hermine mit der gleichen Farblosigkeit, ohne
mit einer Wimper zu zucken.
„Habe ich Sie beleidigt?“
„Herr Theobald! Wer sagt Ihnen denn, daß ich
Ihr Geld nicht nehme, um mir damit einige lustige
Tage zu machen und dann wieder — unterzu-
tauchen?“
„Nein Fräulein reden Sie nicht so! . . . Das ist
ja . . . Nein, nein, hören Sie auf!“
„Wer sagt Ihnen das? Wissen Sie denn, wer
ich bin? Kennen Sie mich? Wer bürgt Ihnen dafür,
daß ich Sie nicht an der Nase herumführe?“
Es war gar nicht, als ob sie es sei, die sprach.
Irgendein Mädchen lag auf dem Sofa, teilnahms-
los, mit geschlossenen Augen, und aus seinem
Munde kamen gelassen, ohne sich zu überstürzen,
Worte, Worte . . .
Sie waren farblos, fast ohne Betonung ge-
sprochen. man konnte im Zweifel sein, ob die, die
sie sprach, wach war oder schlief.
Das einzige, wodurch sie eine Nuance Leben
erhielten, mir einen Hauch, schien ein leiser Spott
zu sein. Herr Theobald fühlte ein leiser Spott . . .
„Ja, so leicht machen Sie es einem, Sie zu be-
trügen! . . . Stellen Sie sich vor. wie alles kommt:
man nimmt Ihr Geld, Ihr schönes Geld, Herr Theo-
bald, man macht mit ihm davon. . . Irgendwohin
— natürlich, w.o's lustig ist . . . das findet sich!
Jemand, der mitfährt . . . haha! . . . der findet sich
auch! . . . Was soll man machen? Man unterhält
sich nicht? Zu Zweien, zu Dreien, zu Dutzenden...
Sie haben eine Ahnung, was man treibt! . . . Man
trinkt, man lacht . . . Man lacht, Herr Theobald!
Man wälzt sich, — ja! . . . Es gibt da eine Ge-
schichte . . . von einem alten Mann . . . haha! . . .
der Huren Geld gibt . . . haha! . . . für nichts! . . .
für nichts! . . .“
Was bin ich für ein jämmerlicher Mensch! sagte
sich in Gedanken Herr Theobald. Warum breche
ich nicht in Gelächter aus über mich!
Er sah sich vor einem anderen stehen, der er
selbst war, und sah sich, wie er über diesen an-
deren lachte, und dieses Gelächter klang ihm
gellend in die Ohren. In Wirklichkeit brachte er es
nur zu einer verzweifelten Aeußerung, in die er
allen seinen Schmerz und all’ seine Entrüstung
hineinpreßte:
„Fräulein! . . .“
„Herr Theobald?“ sagte sie weich und schlug
zum ersten Male die Augen auf.

Hatte sie gar nichts gesagt?
Sie sprang auf und reichte Herrn Theobald die
Hand. „Ich nehme an, ich nehme an!“ rief sie aus.
„Alles, was von Ihnen kommt, nehme ich an! Aber
ich zahle es Ihnen zurück! Alles zahle ich Ihnen
zurück, jeden Kreuzer! . . . Nicht wahr, Sie glau-
ben es • . . Sie glauben es mir?!“
„Gewiß, Fräulein Hermine . . .“
Sic hörte nicht auf, seine Hände zu schütteln.
„Und Sie schenken es mir nicht?“
Herr Theobald wurde rot.
Aber sie drang in ihn: „Sagen Sie es, daß Sie
es mir nicht schenken! Sagen Sie es, sagen Sie
es!“
„Ja . . . ja . . .“
„Ich freue mich darauf. Jetzt! Jetzt freue ich
mich darauf! . . . Ich werde heim fahren . . .
heim . . . Denken Sie sich: zehn Jahre war ich nicht
mehr zu Hause! Zehn Jahre . . .“
Und ohne daran zu denken, daß er es schon
wußte, fing sie wieder an, ihm von allem, von dem
sie ihn schon gestern unterrichtet hatte, noch ein-
mal zu erzählen: von ihrem Dorfe und von ihren
Leuten. . ;
Dabei kam sie in ihrer Erzählung, die sie in ihrer
Art sprunghaft, verworren und ohne Zusammen-
hang vorbrachte, immer wieder darauf zurück, er
möge ja nicht glauben, daß sie von gemeinen Leu-
ten, ohne Bildung und ohne Erziehung sei.
Sie sprach in der Tat recht gewählt und zeigte
sich jeder Situation gewachsen, ja, einem unbe-
fangeneren Beobachter als Herrn Theobald wäre
kaum jener leis ironische Ton ihrer Worte ent-
gangen, mit dem sie gleichsam ihre höhere Intelli-
genz markierte. Dennoch war noch so viel des
Frischen, Unbekümmerten und Naiven in ihr, daß
ihre Worte wie prasselnde Funken stoben, ohne
daß die Lebhaftigkeit ihres Wesens sie dazu ver-
führt hätte, platt, gemein und plump roh zu
werden.
Kaum daß sich hin und wieder durch eine
Geste, einen Blick, eine Wendung verriet, wer sie
war.
Herr Theobald hörte ihr angestrengt zu. ver-
schlang sie mit seinen Blicken und wußte doch
nicht, was sie sagte.
Er machte zuweilen eine kurze Bemerkung,
nickte viel mit dem Kopfe und lächelte, wenn ihre
Zähne aufblitzten, mechanisch mit.
Im Geheimen aber sog er sich mit ihrem Bilde
voll, prägte sich jeden einzelnen ihrer Züge ein,
ließ sich keine ihrer vielen charakteristischen
Gesten und Laute entgehen.
Mit allen Fasern seines starken Verlangens
hatte er sich an sie geklammert.
Er wußte: ihr Bild würde nie mehr in ihm ver-
gehen . . .
Fortsetzung folgt


Märzlich den Kur-
fürstendamm herunter
Der Kaiser Wilhelm Gedächtnis-Kirche ragender
Turm
(der auf BeThl von, S. M. mit dem Stern auf dem
Kreuz)
sicht heute so übermangansauerkalig
gewaschen aus.
Das war der Märzwind der Nacht,
der märzliche Regen.

vorfrühlingsfröstelnd,
vielleicht aber auch
— wer kann das wissen! — ■
ein heimlicher Gruß aus den Lüften,
die eben mal nötige, absolut nötige Schleuse
aus dem P. P. des Zeppelin-Lüftsdhiffes „Hansa“
(war es Herr Silbergleit, Heller, gar Natteroth?),
die jetzt gen Schmargendorf
unschuldig
ihren goldenen Geierflug zieht.
Alfred Richard Meyer


Empfohlene Bücher
Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hier
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.
A 1 b e r t E h r e n s t e i n
Tubutsch
Mit Zeichnungen von Oskar Kokoschka
Verlag Jahoda und Siegel / Wien
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Der Selbstmord eines Katers
München /' Verlag Georg Müller
Alexandre Mercereau
Paroles devant la Vie
La Vie / Le poete / La Financee / .La femme
enceinte / La Mere Soi-Meme ./ La De-
meurc ./ La Mort
Paris / Eugene Figuiere et Cie Editeurs
Alexandre Mercereau
La Litterature et les Idees Nouvclles
Paris / Eugene Figuiere et Cie Editeurs
Collection „Revue Independante“
Jean Metzinger
Alexandre Mercereau / Essai Critique
Paris / Eugene Figuiere et Cie Editeurs
Guillaume Apollinaire
L’Enchanteur Pourrissant
Mit Holzschnitten von Andre Derain
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Guillaume Apollinaire
L’Hcresiarque et Cie / Novellen
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Guillaume Apollinaire
Les Peintres cubistes / Meditation« esthetiques
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A1 f r e d D öb 1 i n
Die Ermordung einer Butterblume / Novellen
München / Verlag Georg Müller
Guillaume Apoll ii n a i r e
Le Bestiaire ou Cortege d’Orphee
Paris / Verlag Deplanche
Henri-Martin Barzun
L’Ere du Drame / Esai de Synthese Poetique
Moderne
Paris / Verlag Eugene Figuiere et Cie
Collection „Poeme et Drame“
Eugene Montfort
La Turque / Roman Parisien
Paris / Modern-Bibliotheque
Artheme Fayard et Cie / Editeurs

Verantwortlich für die Schriftleitung:
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