seinen entzückenden kahlen Aesten, mit seinen
süßen zarten Zweigen, die nackt seien wie win-
zige, neu geborene -Knaben?
Und der Schnee darauf? Gleiche er nicht
einem Besätze von glitzernden Diamanten?
Oder die Wolke da oben?
Diese kleine weiße, bläuliche Wolke? Wie sie
träumerisch dahinziehe, wie ein Märchen! . . .
Und dann die Menschen —
Sehe sie nicht, wie sie litten?
Das Schicksal an Ihnen, sehen Sie cs nicht?
Wie sie gedrückt dahin schlichen, durch Lüge,
Haß, Liebe hindurch, wie Marionetten, einem Un-
bekannten entgegen, das sie anstarre . . .
Herr Theobald hatte den Arm ausgestreckt und
ließ ihn sinken.
„Ja, Fräulein . . .“ murmelte er und brach dann
plötzlich ab.
Fräulein Hermine hörte ihm nicht mehr zu.
Sie hatte den Kopf auf den Tisch gelegt, ihn
in ihre Arme vergraben, und weinte leise vor
sich hin.
Offenbar schämte sie sich.
Nur die krampfhafte Art, wie ihr Körper zuckte,
verriet ihre Erregung.
Herr Theobald blieb lange schweigsam. '
Er war plötzlich ernüchtert.
Der Tag mit seinem aufdringlichen Licht, mit
seinem Lärm, drang, durch das Fenster.
Alles war wie umsonst.,
Fast begriff er es nicht: das sich gar nichts,
aber auch gar nichts geändert hatte.
Daß er noch immer zwischen den vier Wänden
hauste, daß die schmale „Sorge“ vor ihm lag, die
Totenschänke, die ganze kleine Stadt mit ihren
engen Gassen und alten Giebeln, und daß die
düstere Ecke in der Kanzlei seiner harrte, mit der
gleichgültigen, nichtssagenden Arbeit . . .
Und daß dieser Joachim sein Freund war,
dieser nüchterne Mensch, der nichts fühlte, nichts
wollte! . . ', ' ■ * > ■
Unbegreiflich war ihm das alles.
Und fast zweifelte er an seiner eigenen Exi-
stenz.
Der, der er gewesen war, war nicht mehr.
Ein Fremder war es, der hier fühlte und dachte,
der hier sah und sprach.
Dem er erschrocken zusah, der ihn ratlos
und Staunen machte.
Was war Leben, was Traum.
In eine fremde Umgebung sah er sich versetzt.
Alles seltsam und neu.
Die Erde war jung, frisch und heiter, sie sprach
zu ihm in allen Tonarten, und er verstand sie,
reagierte auf alles, in einer merkwürdig lebhaften
Weise, die er bisher nicht an sich gekannt hatte
Das Blut rollte ihm schneller durch die Adern,
sein Atem war leicht, sein Auge scharf., flink sein
Gang, seine Muskeln spieltn . . .
Herr Theobald entriß sich mit Gewalt diesen
Bildern. Er trat vor den Spiegel, fuhr sich durch
die weißen Haare und lächelte dünn.
Die Uhr schlug neun.
„Beruhigen Sie sich, Fräulein Hermine,“ sagte
er, „es wird ja alles anders werden!“
Da sie nicht hörte, faßte er sie an der Schulter.
Sie fuhr auf.
Sie strich sich mit beiden Händen über die
Augen, lachte ihn an und meinte: „Sie haben
recht ... es ist ja Unsinn, zu flennen!“
. . . Sie stand auf und räumte, ohne ihn zu
fragen, die Frühstücksreste vom Tische.
Als sie das Tischtuch zusammenfaltete, wandte
sie sich von ihm ab: „Wissen Sie. Herr Theobald,
warum ich geweint habe?“
Er wisse es nicht.
Ob er sie aber auch nicht auslachen werde,
wenn sie es sagte?
Nein, das würde er gewiß nicht tun.
„Ja ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen sagen
soll,“ sagte sie und drehte ihm immer den Rücken
zu, . . . „aber wirklich: Sie lachen mich nicht aus?“
Er bestätigte ihr nochmals: nein, nicht!
„Also, — ich habe mir etwas Dummes einge-
bildet.“
Herr Theobald verstand nicht.
„Etwas eingebildet?“
„Ja, es war sehr dumm — — Denken Sie:
ich bildete mir ein, Sie wären in mich verliebt! . .
.Sie lachte, sah ihn aber nicht an.
Uni sich etwas zu schaffen zu machen, faltete
sie das Tischtuch noch einmal auseinander, legte es
wieder zusammen und hing es über einen Stuhl.
Herr Theobald war krebsrot geworden.
Er starrte sie an und fand kein Wort der Er-
widerung. '
Aber in seiner Brust lachte etwas, da würgte es
und wollte herauf! .
Aber kein Wort fand er, nicht einmal eine Ge-
berde ...
. Auch Fräulein Hermine zögerte eine Weile, ehe
sie fortfuhr:
„Daß Sie verliebt in mich wären, habe ich ei-
gentlich nicht geglaubt . . . nein, das ist nicht der
richtige Ausdruck! . . . überhaupt, — ich Weiß nicht,
ob Sie mich verstehen werden ... ich war über-
rascht, daß Sie so lieb,zu mir gesprochen habet? . . .
schon gestern waren Sie so freundlich zu mir! . . .
und dann, nicht wahr: Sie haben doch gar nichts
davon! - Gott, denken Sie, da ging es mir so durch
den Kopf: wenn das dein Mann wäre! . . .“
Sie brach ab.
Sic drehte sich plötzlich um, sah ihn voll an: mit
einem kurzen heftigen Blick . . .
„Und da mußte Sie weinen?“ fragte Herr Theo-
bald rauh.
„Nicht wahr: so dumm!“
Herr Theobald ging zum Ofen und legte Kohlen
zu. Lange und zwecklos schürte er die rote Glut.
Er mußte etwas tun, um seine Gedanken abzu-
lenken. Es war ja alles unsinnig.
Kalt wollte er bleiben. Kalt und nüchtern.
Er sprach'in Gedanken unablässig vor sich hin:
unsinnig, unsinnig ....
Fräulein Hermine sah ihm zu.
In Wirklichkeit sah sie ihn gar nicht.
Ihre Augen gingen über ihn hinweg, verloren
sich in einem Meere von Nebel und Wolken ■—
„Es war merkwürdig.“ sprach sie leise, wie zu
sich selbst, „ich mußte dabei an meine Eltern
denken ...
Es wäre schließlich so gekommen: ich hätte
heute einen Mann-—“
Herr Theobald griff ihre Worte auf.
Schnell begann er zu reden, in der Furcht, sie
könne wieder auf ihn zurückkommen.
Obwohl cs ihm im Grunde widerstrebte, drehte
er das Gespräch.
„Sie haben an Ihre Eltern gedacht, Fräulein Her-
mine. Und da mußten Sie weinen . . . Sicher gibt
es noch viele Fäden, die Sie zu ihnen hinziehen. Sie
erzählten mir ja gestern schon von ihrer Heimat.
Denken Sie manchmal art sie zurück?“
Fräulein Hermine fand sich gar nicht zurecht.
Hatte er etwas gefragt?
„Wovon sprachen Sie?“
„Von Ihren Elfern.“
Ach die!“
Fräulein Hermine zog in ihrer leichten Art die
Achseln hoch und begann langsam in der Stube auf
und ab zu gehen.
Es war soviel Gleichgiltigkeit und Kälte in ihrer
Stimme und in ihrer Miene, daß Herr Theobald an
ihr ganz irre wurde.
„Sie erzählten doch gestern so lebhaft davon,
wie alles zuhause bei Ihnen gewesen sei. Von
Ihrem Vater sprachen Sie. und von Ihrer Mutter.
Sie waren doch richtig stolz auf sie! —“
„Ja, ja!“ machte sie, „wie lange ist das her!“
„Haben Sie nicht den Wunsch, wieder einmal
nachhause zu gehen? Es müßte sich doch alles gut
machen lassen, denke ich.“
Fräulein Hermine blieb stehen und machte große
Augen,
„Wie meinen Sie das?“ fragte sie.
„Ich meine, daß Sie das Leben hier aufgeben
sollen. Daß Sie alles Vergangene hinter sich werfen
sollen. Es ist ja nicht vorbei mit Ihnen, Sie haben
noch zu hoffen! . . . Suchen Sie Ihre Eltern auf.!.
Gehen Sie heim, Fräulein Hermine! Man wird Ihnen
bcistchen, alle werden Ihnen helfen!“
„. .. Oder können Sie das nicht?“ setzte er hinzu,
da sie ihm-gar nicht, zuzuhören schien, sondern
wieder nervös hin und her ging.
„Was soll ich nicht können?“
Herr Theobald-War verlegen.
„Ich meine, ob Sie nicht imstande wären, ein
neues Leben zu —, ich meine, ob Sie nicht die Lust
finden würden, wieder ruhiger und gleichförmiger
zu leben?“
„Herr Theobald!“
Sie lachte, kam zu ihm und legte beide Hände auf
seine Schultern.
So sah sie ihm eine Weile in die Augen.
„Herr Theobald! Machen Sie nicht so viele
Worte! Nennen Sie die Sache immerhin bei ihrem
Namen! . . . Und dann, da Sie fragen: glauben Sie
im Ernste, es machte mir viel Vergnügen, mein Le-
ben? . . . Als ich ein junges Ding war, — da war
das etwas anderes! Damals - - vielleicht! Aber
heute . . .“
Sie lehnte sich noch schwerer an ihn.
„Ich weiß, ich weiß! Ich gefalle Ihnen noch
immer, Herr Theobald! . . . Ach was! Werden Sie
nicht rot! Was ist dabei! -. . . Schließlich — ich
bin erst einige Dreißig! . . . Und dann, da Sie es
wissen wollen . . . heute, heute täte ich gern etwas
'anderes! . . .“
Sie ließ ihn frei und warf sich nachdenklich in
das Sofa.
Herr Theobald atmete auf.
„Versuchen Sie es,“ begann er wieder. „Fahren
Sie heim, Fräulein Hermine . . . Oder ist das nicht
möglich?“
„Möglich?“ sagte sie mechanisch. „Gewiß —
warum sollte es nicht möglich sein?“
Plötzlich ging über ihr Gesicht ein Leuchten.
Sie warf einen lauernden Blick auf Herrn Theo-
bald. „Oder doch, — nein!“ sagte sie und ihre
Ruhe klang sehr gemacht. „Es ist doch nicht mög-
lich, Herr Theobald!“
„Und was hindert Sie?“
Seine Stimme .zitterte.
„Daß Sie so fragen können, Herr Theobald!
Womit soll ich die weite Reise machjcn? Ich
habe keinen Kreuzer Geld, — ich bin blank! Auch
kann ich mich so zu Hause nicht sehen lassen:
in diesen Fetzen! Wäsche habe ich keine, keine
Schuhe, an allem fehlt es mir! . . . Und dann zu
Hause. . . Wie sollte das werden? Man kennt mich
gar nicht mehr!“
„Ihre Eltern . . .“
„Gott, meine Eltern! . . .“
„Leben sie noch?“
Fräulein Hermine lag mehr auf dem Sofa, als
daß sie auf ihm saß. Ihre Augen waren ge-
schlossen. „Ja, ja, — sie leben,“ und es klang, als
wisse sie gar nicht, was sie sage, als sei sie mit
ihren Gedanken ganz wo anders.
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süßen zarten Zweigen, die nackt seien wie win-
zige, neu geborene -Knaben?
Und der Schnee darauf? Gleiche er nicht
einem Besätze von glitzernden Diamanten?
Oder die Wolke da oben?
Diese kleine weiße, bläuliche Wolke? Wie sie
träumerisch dahinziehe, wie ein Märchen! . . .
Und dann die Menschen —
Sehe sie nicht, wie sie litten?
Das Schicksal an Ihnen, sehen Sie cs nicht?
Wie sie gedrückt dahin schlichen, durch Lüge,
Haß, Liebe hindurch, wie Marionetten, einem Un-
bekannten entgegen, das sie anstarre . . .
Herr Theobald hatte den Arm ausgestreckt und
ließ ihn sinken.
„Ja, Fräulein . . .“ murmelte er und brach dann
plötzlich ab.
Fräulein Hermine hörte ihm nicht mehr zu.
Sie hatte den Kopf auf den Tisch gelegt, ihn
in ihre Arme vergraben, und weinte leise vor
sich hin.
Offenbar schämte sie sich.
Nur die krampfhafte Art, wie ihr Körper zuckte,
verriet ihre Erregung.
Herr Theobald blieb lange schweigsam. '
Er war plötzlich ernüchtert.
Der Tag mit seinem aufdringlichen Licht, mit
seinem Lärm, drang, durch das Fenster.
Alles war wie umsonst.,
Fast begriff er es nicht: das sich gar nichts,
aber auch gar nichts geändert hatte.
Daß er noch immer zwischen den vier Wänden
hauste, daß die schmale „Sorge“ vor ihm lag, die
Totenschänke, die ganze kleine Stadt mit ihren
engen Gassen und alten Giebeln, und daß die
düstere Ecke in der Kanzlei seiner harrte, mit der
gleichgültigen, nichtssagenden Arbeit . . .
Und daß dieser Joachim sein Freund war,
dieser nüchterne Mensch, der nichts fühlte, nichts
wollte! . . ', ' ■ * > ■
Unbegreiflich war ihm das alles.
Und fast zweifelte er an seiner eigenen Exi-
stenz.
Der, der er gewesen war, war nicht mehr.
Ein Fremder war es, der hier fühlte und dachte,
der hier sah und sprach.
Dem er erschrocken zusah, der ihn ratlos
und Staunen machte.
Was war Leben, was Traum.
In eine fremde Umgebung sah er sich versetzt.
Alles seltsam und neu.
Die Erde war jung, frisch und heiter, sie sprach
zu ihm in allen Tonarten, und er verstand sie,
reagierte auf alles, in einer merkwürdig lebhaften
Weise, die er bisher nicht an sich gekannt hatte
Das Blut rollte ihm schneller durch die Adern,
sein Atem war leicht, sein Auge scharf., flink sein
Gang, seine Muskeln spieltn . . .
Herr Theobald entriß sich mit Gewalt diesen
Bildern. Er trat vor den Spiegel, fuhr sich durch
die weißen Haare und lächelte dünn.
Die Uhr schlug neun.
„Beruhigen Sie sich, Fräulein Hermine,“ sagte
er, „es wird ja alles anders werden!“
Da sie nicht hörte, faßte er sie an der Schulter.
Sie fuhr auf.
Sie strich sich mit beiden Händen über die
Augen, lachte ihn an und meinte: „Sie haben
recht ... es ist ja Unsinn, zu flennen!“
. . . Sie stand auf und räumte, ohne ihn zu
fragen, die Frühstücksreste vom Tische.
Als sie das Tischtuch zusammenfaltete, wandte
sie sich von ihm ab: „Wissen Sie. Herr Theobald,
warum ich geweint habe?“
Er wisse es nicht.
Ob er sie aber auch nicht auslachen werde,
wenn sie es sagte?
Nein, das würde er gewiß nicht tun.
„Ja ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen sagen
soll,“ sagte sie und drehte ihm immer den Rücken
zu, . . . „aber wirklich: Sie lachen mich nicht aus?“
Er bestätigte ihr nochmals: nein, nicht!
„Also, — ich habe mir etwas Dummes einge-
bildet.“
Herr Theobald verstand nicht.
„Etwas eingebildet?“
„Ja, es war sehr dumm — — Denken Sie:
ich bildete mir ein, Sie wären in mich verliebt! . .
.Sie lachte, sah ihn aber nicht an.
Uni sich etwas zu schaffen zu machen, faltete
sie das Tischtuch noch einmal auseinander, legte es
wieder zusammen und hing es über einen Stuhl.
Herr Theobald war krebsrot geworden.
Er starrte sie an und fand kein Wort der Er-
widerung. '
Aber in seiner Brust lachte etwas, da würgte es
und wollte herauf! .
Aber kein Wort fand er, nicht einmal eine Ge-
berde ...
. Auch Fräulein Hermine zögerte eine Weile, ehe
sie fortfuhr:
„Daß Sie verliebt in mich wären, habe ich ei-
gentlich nicht geglaubt . . . nein, das ist nicht der
richtige Ausdruck! . . . überhaupt, — ich Weiß nicht,
ob Sie mich verstehen werden ... ich war über-
rascht, daß Sie so lieb,zu mir gesprochen habet? . . .
schon gestern waren Sie so freundlich zu mir! . . .
und dann, nicht wahr: Sie haben doch gar nichts
davon! - Gott, denken Sie, da ging es mir so durch
den Kopf: wenn das dein Mann wäre! . . .“
Sie brach ab.
Sic drehte sich plötzlich um, sah ihn voll an: mit
einem kurzen heftigen Blick . . .
„Und da mußte Sie weinen?“ fragte Herr Theo-
bald rauh.
„Nicht wahr: so dumm!“
Herr Theobald ging zum Ofen und legte Kohlen
zu. Lange und zwecklos schürte er die rote Glut.
Er mußte etwas tun, um seine Gedanken abzu-
lenken. Es war ja alles unsinnig.
Kalt wollte er bleiben. Kalt und nüchtern.
Er sprach'in Gedanken unablässig vor sich hin:
unsinnig, unsinnig ....
Fräulein Hermine sah ihm zu.
In Wirklichkeit sah sie ihn gar nicht.
Ihre Augen gingen über ihn hinweg, verloren
sich in einem Meere von Nebel und Wolken ■—
„Es war merkwürdig.“ sprach sie leise, wie zu
sich selbst, „ich mußte dabei an meine Eltern
denken ...
Es wäre schließlich so gekommen: ich hätte
heute einen Mann-—“
Herr Theobald griff ihre Worte auf.
Schnell begann er zu reden, in der Furcht, sie
könne wieder auf ihn zurückkommen.
Obwohl cs ihm im Grunde widerstrebte, drehte
er das Gespräch.
„Sie haben an Ihre Eltern gedacht, Fräulein Her-
mine. Und da mußten Sie weinen . . . Sicher gibt
es noch viele Fäden, die Sie zu ihnen hinziehen. Sie
erzählten mir ja gestern schon von ihrer Heimat.
Denken Sie manchmal art sie zurück?“
Fräulein Hermine fand sich gar nicht zurecht.
Hatte er etwas gefragt?
„Wovon sprachen Sie?“
„Von Ihren Elfern.“
Ach die!“
Fräulein Hermine zog in ihrer leichten Art die
Achseln hoch und begann langsam in der Stube auf
und ab zu gehen.
Es war soviel Gleichgiltigkeit und Kälte in ihrer
Stimme und in ihrer Miene, daß Herr Theobald an
ihr ganz irre wurde.
„Sie erzählten doch gestern so lebhaft davon,
wie alles zuhause bei Ihnen gewesen sei. Von
Ihrem Vater sprachen Sie. und von Ihrer Mutter.
Sie waren doch richtig stolz auf sie! —“
„Ja, ja!“ machte sie, „wie lange ist das her!“
„Haben Sie nicht den Wunsch, wieder einmal
nachhause zu gehen? Es müßte sich doch alles gut
machen lassen, denke ich.“
Fräulein Hermine blieb stehen und machte große
Augen,
„Wie meinen Sie das?“ fragte sie.
„Ich meine, daß Sie das Leben hier aufgeben
sollen. Daß Sie alles Vergangene hinter sich werfen
sollen. Es ist ja nicht vorbei mit Ihnen, Sie haben
noch zu hoffen! . . . Suchen Sie Ihre Eltern auf.!.
Gehen Sie heim, Fräulein Hermine! Man wird Ihnen
bcistchen, alle werden Ihnen helfen!“
„. .. Oder können Sie das nicht?“ setzte er hinzu,
da sie ihm-gar nicht, zuzuhören schien, sondern
wieder nervös hin und her ging.
„Was soll ich nicht können?“
Herr Theobald-War verlegen.
„Ich meine, ob Sie nicht imstande wären, ein
neues Leben zu —, ich meine, ob Sie nicht die Lust
finden würden, wieder ruhiger und gleichförmiger
zu leben?“
„Herr Theobald!“
Sie lachte, kam zu ihm und legte beide Hände auf
seine Schultern.
So sah sie ihm eine Weile in die Augen.
„Herr Theobald! Machen Sie nicht so viele
Worte! Nennen Sie die Sache immerhin bei ihrem
Namen! . . . Und dann, da Sie fragen: glauben Sie
im Ernste, es machte mir viel Vergnügen, mein Le-
ben? . . . Als ich ein junges Ding war, — da war
das etwas anderes! Damals - - vielleicht! Aber
heute . . .“
Sie lehnte sich noch schwerer an ihn.
„Ich weiß, ich weiß! Ich gefalle Ihnen noch
immer, Herr Theobald! . . . Ach was! Werden Sie
nicht rot! Was ist dabei! -. . . Schließlich — ich
bin erst einige Dreißig! . . . Und dann, da Sie es
wissen wollen . . . heute, heute täte ich gern etwas
'anderes! . . .“
Sie ließ ihn frei und warf sich nachdenklich in
das Sofa.
Herr Theobald atmete auf.
„Versuchen Sie es,“ begann er wieder. „Fahren
Sie heim, Fräulein Hermine . . . Oder ist das nicht
möglich?“
„Möglich?“ sagte sie mechanisch. „Gewiß —
warum sollte es nicht möglich sein?“
Plötzlich ging über ihr Gesicht ein Leuchten.
Sie warf einen lauernden Blick auf Herrn Theo-
bald. „Oder doch, — nein!“ sagte sie und ihre
Ruhe klang sehr gemacht. „Es ist doch nicht mög-
lich, Herr Theobald!“
„Und was hindert Sie?“
Seine Stimme .zitterte.
„Daß Sie so fragen können, Herr Theobald!
Womit soll ich die weite Reise machjcn? Ich
habe keinen Kreuzer Geld, — ich bin blank! Auch
kann ich mich so zu Hause nicht sehen lassen:
in diesen Fetzen! Wäsche habe ich keine, keine
Schuhe, an allem fehlt es mir! . . . Und dann zu
Hause. . . Wie sollte das werden? Man kennt mich
gar nicht mehr!“
„Ihre Eltern . . .“
„Gott, meine Eltern! . . .“
„Leben sie noch?“
Fräulein Hermine lag mehr auf dem Sofa, als
daß sie auf ihm saß. Ihre Augen waren ge-
schlossen. „Ja, ja, — sie leben,“ und es klang, als
wisse sie gar nicht, was sie sage, als sei sie mit
ihren Gedanken ganz wo anders.
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