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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 109
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Walden, Herwarth: Abwehr
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [5]: Roman
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Friedlaender, Salomo: Max Steiner: "Die Welt der Aufklärung", [3]: nachgelassene Schriften
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Ehrenbaum-Degele, Hans: Gedicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0038

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Bäume aus. „Mit der böswilligen Absicht Ge-
sunder soll man kämpfen, weil irregeleitete und
vom Wege abgekommene Menschen immer noch
Aussicht bieten, gerettet und erhalten zu werden."
Nach der Aussicht auf den Tiergarten die Aus-
sicht auf das Magdalenenstift. Nein, dieses Weib,
kein Engel ist so rein.
„Aber jene, die ihren Körper in Nacht-
lokalen verwüsten, Männer, die durch einen sinn-
losen Lebenswandel zu verrückten Weibern wer-
den, die aus ihrem Verfall noch' ein paar Groschen
für ihren Absinth verdienen wollen, die kann
man nur mit einem kräftigen Faustschlag sich
vom Leibe halten."
Aber mein Fräulein, man will Ihnen ja gar
nicht zu Leibe. Sie bieten keine schönen Aus-
sichten, und der kräftige Faustschlag geht nicht
von Ihnen aus. Denn: „Und da selbst der
Korrektesten auch einmal sekundenlang Klarheit
beschieden ist, so findet sich in dem tollen Flug-
blatt dieser Gesellschaft ein geradezu befreiender
Satz: , . . . Wollen wir . . . den Faustschlag
preisen/ Man sieht, die Leutchen sind an derbe
Traktätchen gewöhnt." Das Fräulein hat sich
noch nicht an seinen neuen Beruf als Kunst-
kritikerin gewöhnt, es denkt noch immer an das
Magdalenenstift. Man sollte es mit Herrn Scheff-
ler in dieselbe Moralkiste packen. Vielleicht wird
ihm dann das Unzulängliche — Ereignis.
*
Herr Kunstmaler Max Oppenheimer, Ver-
fasser zahlreicher Bilder eng nach Laszlo, Manet,
Cezanne, Oskar Kokoschka und Greco ist in der
Zeitschrift Pan als Kunstkritiker zu Wörtern ge-
kommen. Er nennt sich in dieser Eigenschaft
Mopp, wobei er das sehr charakteristische s über-
flüssig durch ein p ersetzt. Herr Kunstmaler
Max Oppenheimer schreibt vorläufig gegen
die Futuristen. Vielleicht wird man bald (mehr
sehen.
H. W

Der schwarze Vorhang
Roman
Von Alfred Döblin
Fortsetzung
Johannes versuchte unbefangen vor ihr zu
scheinen, aber er glaubte bald, daß es ihm nicht
gelänge, daß ihre Augen in ihn hineinsähen, ja
daß sie ihn erinnerte. Eine leichte Unsicherheit
kam in seine Art, mit ihr zu sprechen, sie an-
zusehen, ihr die Hand Zu! reichen, auch fühlte er
sich schuldig, weil sie die Schmach erkennen
mußte, die sein Zögern und Verbergen ihr antat.
Es schwieg etwas so laut zwischen ihnen. Seine
Blicke flatterten manchmal teilnamslos, so wollte
er es, um ihr Gesicht; ganz zog er sich wochen-
Ijasng von ihr zurück. Das machte Irene noch'
aufmerksamer, und ihre weiche Stimme fragte
ihn leise, und schien an seine verschlossene
Seele zu klopfen. *
Wie fühlte er sich schuldig. Er konnte ihr
nicht mehr entgehen.
Und eines Morgens entschloß er sich', um
sich endlich Ruhe und seinej alte Gelassenheit zu.
erwerben, ihr zu sagen, daß! er sie liebe.
Zum ersten Male ging er gleichgültig zu ihr,
aber im Gehen wurde er immer niedergeschlage-
ner. Was waren das für irre Wege, auf denen;
er schritt. War er nicht wie gejagt? Rächtenl sich1
nicht wirklich jene Geister? Und dieses lächer-
liche Wort Liebe, oh esi entfaltete so befehlende
Kräfte, rief und lockte so .unentrinnbar und müßte
seinen Willen haben gegen ihn. Wie zwangen
und unterjochten ihn die Menschen!
Während er neben Irene saß, fühlte er sich
sö ganz dieser Macht hingegeben, die seine Ge-
danken tyrannisierte, alle taumeln machte, jedeml

fremden Wunsche die Glieder bach! und so sieg-
reich, so beängstigend siegreich durchgedrungen
war, daß er stumm auf Irene die Augen richtete,
als ob sie ihm helfen sollte. „Ich muß dich
lieben, ich muß dich' lieben", sagte er immer
wieder leise auf der Bank in dem weiten Garten
Irenes, und sah sie dabei flehend an. Er wollte
ihren unausgesprochenen Bitten nachgeben, er
wollte der Gütigen nicht wehe tun; sie be-
schenken, wie sie es1 verdiente.',
Etwas schrie in seinen Muskeln und Sehnen,
er solle fortlaufen und sich1 verstecken; und doch,
preßte er sie fest an1 sich. Ihre Lippen waren
nur ein Zittern, die Lippen der todesblassen
Irene. : i i
Ihre Arme und ihre Brust stemmten sich
leicht und keusch1 von ihm ab; ein herzliches,
piädchensüßes Mitleid floß über das so zart-
häutige Gesicht, an dessen Schläfen zwei dünne
Aederchen durchbläuten und fein pulsierten, bald
heftig, bald träge rollend.
Sie hörten Beide erregt das Rauschen der
Bäume über sich. Ganz rasch fuhr es durch'
seinen Sinn, wie selig still es jetzt wohl in
seinem eigenen Garten war, wo sein Hund be-
graben lag und er nun bald wieder ungestört,
von nichts beunruhigt umhergehen und schlafen
konnte. 1 \
Sie wußten beide nicht, was weiter ge-
schehen sollte. Er ermannte sich, besann sich.
Zärtlich wie nie sah' er ihre Augen auf seinem
Gesicht ruhen; ihr Kopf lag an seiner Schulter,
einige dünne Strähnen ihres lockeren Haares
hatte er gedankenlos zwischen seine .Lippen ge-
zogen. Und schmeichelnd begann die Wärme
und Glätte ihrer nackten Hand, die sich in das
Bett seiner gewühlt hatte, zu; seiner Haut zu| reden
und seine Gedanken zu ihrjzu locken.
Sie war doch so schön, diese Irene. Mit
Mühe erinnerte er sich ihrer, der er dankbar
war, weil sie ihn düsteren .Versunkenheiten ent-
rissen hatte. Zwei Geschenke hatte sie ihm ge-
macht, die zusammengehörten: Besänftigung und
Pflicht zu neuer Unrast —- er hatte beides an-
genommen, als er eines annahm; saß nun willen-
los neben ihr.
Seine schweren Hände hoben ihr Gesicht
ganz zu seinem auf: die ^ägyptisch stolze, die
auf seine Not einstmals nicht; geachtet hatte und;
jetzt an seiner Seite bebte, hatte er nun be-
zjwungen und sich gerächt für die Qual jener
dupipfen Stunden. Er saß auf Trümmern —
und fühlte kein Glück, nur leicht verächtlichen
Stolz unter dem innigen Blick dieser metallisch
strahlenden Augen. Als er wieder zu sprechen
anfing, klang seine Stimme tief und leise; er
mußte dem Klange nachgeben und erzählte von
wirren Träumen und blöden Leiden und wun-
derte sich heimlich, während er sprach, was ihn
antrieb, diesem Mädchen davon zu sprechen.
Die Narrheit wollte sichtlich ganz ausgeschlürft
sein, bis er von ihij gesättigt war.
Leise grollte er ihr und sich'.
Mit beiden Händen hatte Irene seine Rechte
gefaßt und drückte sie, während sie den Kopf
bis auf ihre Brust herab senkte und starr zur
Seite auf den Kies und (die Steinchen sah, wäh-
rend er sprach. Was drückte pie ihm die Hand ?
War es nicht zum Lachen ? Sie bemitleidete ihn
gar; das Weiblein bemitleidete ihn. Wie eine
lose Frucht war sie ihm {zugefallen, an die er
mit dem Hauch eines dummen Wortes rührte:
eine leicht käufliche Ware war dies Weiblein
neben ihm. ;
In seinem Innern hatte sich nichts geändert,
als sie sich trennten. Wo die mondsanfte, wenn
auch unerklärliche Wirkung ihres Blickes und!
ihrer Stimme nachließ, begann sein Groll breiter
und deutlicher zu murren. (
Er kaufte sich unterwegs Kirschen und setzte
sich auf eine Bank, um sie zu essen. Was war
eigentlich geschehen? Nichts? Er hatte das

lästige Schweigen, das zwischen ihnen bestand,
beendet, und nuns war alles wieder gut. En konnte
jetzt zur Ruhe seines Gartens zurückkehren. —-
Irene war sein geworden. —,
Er hatte das Gefühl, als ob' ihm eine Sache
zugeschoben sei, die er gar nicht gefordert hatte,
als ob er irgendwie betrogen sei. Was sollte er
mit ihr? Was wollte sie von ihm? Und doch
hatte er sie fest an sich geschlossen und sich
an sie gefesselt. — Je; mehr er sich' auf sie besann,
desto schuldiger fühlte er sich yor ihr.
Und desto tiefer trieb sie,ihn in Unruhe und
Schwere.

*
Fortsetzung folgt

Max Steiner:
„Die Welt der Aufklärung“
Nachgelassene Schriften
Kritischer Hinweis
Von Dr. S. Friedlaender
Schluß
Nicht genug warnen kann man die
Idealisten der Keuschheit und Reinheit vor
der falschen Bewertung des „Reinen" im
Gegensatz zur »Welt“. Welt selber ist ein
Gegensatz, eine kreischende Differenz, und Rein-
heit ist der Dreh- und! Angelpunkt, ohne dessen!
spielend leichte, reibungslose Präzision das Welt-
rad in allen Fugen und Widerspielen seiner
Speichen ächzt. Exorbitante Geister wie Schopen-
hauer, wie Max Steiner lassen nicht so sehr den,
Schwerpunkt ihrer Umschwünge, als dessen
präzis richtige Lokalisation in der Mitte vermissen;
sie zentralisieren sich schlecht; oder — wie Kant
— obskur; oder — wie Nietzsche — clair-obscur;
oder — wie Goethe! —, poetisch. Jetzt ist mit
Strenge geltend zu machen: Das; Ideal ist polar
vorhanden, positiv und negativ; und; keine Wirk-
lichkeit wird ihm irgendwie negativ und positiv
beikommen können: praktisch wirksam ist
ijmmer bloß die reinste Indifferenz
des Ideals; das ist der ruhende Pol jener
Widerbewegung, der Hebelpunkt aller Welt.
Ohne diese radikale persönliche Selbstaufhebung,
Selbstüberwindung, Selbstvernichtung muß das
Differenzieren, welcher Art immer, verzweifelt
ausfallen; und im verzweifeltsten Fall wird der
{Selbstmord, den man bei Lebzeiten mit sich
hätte vornehmen sollen, sehr drastisch nacfi-
geholt (Werden. Der Zweifel hat keinen
Vere i n igu n gs-, aber einen Vernich-
tfun gsp unkt, und von diesem Punkte aus
gerade wird die Skepsis schärfer als jemals ent-
brennen, und ihre: Pein wird nur „ein Stachel
der (Wollust sein." Unser Wesen muß Frei-
heit vom Leben atmen, wenn es Frei-
heit zum Leben atmen soll. — Max Steiner
hat dadurch, daß er die schlechten Freigeister
an den 'Pranger seiner Logik stellte, den Geist
echter befreit. —
Herausgegeben und eingeleitet von Kurt Hiller / Berlin
Ernst Hofmann & Co. 1912

Gedicht
Willst du meinen Kreis betreten,
Mußt du in die Tiefen lauschen,
Wo, umdämmert von Gebeten,
Meine roten Ströme rauschen,
In die Fernen mußt du schauen,
Wolken deine Träume schenken;
Himmel müssen aus dir blauen,
Sonnen sich an deinem Liebt
Golden tränken.
Hans Ehrenbaum-Degele

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