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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 111
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Marinetti, Filippo Tommaso: Tod dem Mondschein !, [1]: zweites Manifest des Futurismus
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Lasker-Schüler, Else: Lasker-Schüler contra B. und Genossen
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0055

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einzig lebenden, die einzig entwurzelten und
die, die am wenigsten vegetieren! . . . Auf! . . .
Nach Podraga! . . . nach Podraga! . . .
Und man zog los: Sprudeln einer gewal-
tigen Schleuse . . .
Die Armee des Wahnsinns stürzte von Ebene
zu Ebene, strömte in die Täler, stieg wieder zu
den Gipfeln mit schicksalsbestimmtem Schwünge,
leicht, wie eine Flüssigkeit in riesigen kommuni-
zierenden Gefäßen und bombardierte mit
Schreien, Stirnen, Fäusten die Mauern Podragas,
das wie eine Glocke tönte.
Die Wärter, die betrunken waren, wurden
getötet oder zu Boden getreten; die tosende
Flut überschwemmte den riesigen kotbe-
deckten Gang der Menagerie, deren vergitterte
Boxen voll tanzender Felle waren und in dem
Geruch des Urins wilder Tiere schwammen und
leichter hin- und herschwankten als die Kanarien-
vögelkäfige in den Armen der Verrückten.
Sogleich machte das Regiment der Löwen die
Stadt jünger. Die empörten Mähnen, die um-
fangreiche Anstrengung der hebelförmigen
Kruppen ließen die Fassaden skulpturenbedeckt
erscheinen! Ihre reißende Kraft, die das Pflaster
aushöhlte, verwandelte die Straßen jn Tunnels
mit gesprengten Decken . . . Die ganze schwäch-
liche Vegetation der Einwohner Podragas wurde
in den Ofen geschoben. Die Häuser voller
solcher heulenden Zweige zitterten unter dem
Platzregen des Schreckens, der auf die Dächer
prasselte.
Mit plötzlichen Bewegungen und clown-
haften Verrenkungen bestiegen die Verrückten
rittlings die schönen gleichgültigen Kuppen der
Löwen, die sie nicht fühlten . . . Und die bi-
zarren Reiter ergötzten sich an den friedlichen
Schlägen mit dem Schweife, die sie mehr als
einmal aus dem Sattel warfen . . . Plötzlich
hielten die wilden Tiere, die Verrückten
schwiegen vor den Mauern, die sich nicht mehr
rührten . . .
— Die Alten sind tot! Die Jungen sind ge-
flohen! . . . Um so besser! . . . Schnell! . . ,
Man raube die Statuen und Blitzableiter! . . .
Leert die Goldkästen! . . . Goldbarren und
Münzen! . . . Wir werden alle Edelmetalle wieder
zusammenschmelzen, um den großen futuristi-
schen Schienenweg legen zu können! . . .
Man ging hinaus, die Verrückten gestiku-
lierten, die Löwen, Tiger, Panther, auf denen
die Verrückten ohne Sattel ritten, warfen ihre
Reiter hin und wieder ab, die von der Trunkenheit
zerlumpt, erstarrt, zerzaust und zerrissen sind.
Podraga glich nur noch einem riesigen Faß, das
voll reichen Weines war, der sich kräuselte, indem
er zu den Toren hinfloß, zu den Toren mit den
sonoren Zugbrücken, zitternden Trichtern.
Wir durchquerten die Ruinen Europas und
betraten Asien, indem wir die terrorisierten Horden
Podragas und Paralysias verstreuten, wie eilige
Sämänner ihre Samenkörner mit kreisender Ge-
bärde verstreuen.
Schluß folgt

Lasker-Schüler
contra B. und Genossen
Seitdem einige Tageszeitungen um mein lyri-
sches Gedicht: „Leise sagen", soviel Lärm ge-
schlagen und mich für geisteskrank erklärt haben,
hat sich eine Partei um mich erhoben, die es sich
zum Lebenszweck angedeihen läßt, diese gefähr-
liche Behauptung mit allen gerichtlichen Gegen-
beweisen aus der Welt zu schaffen. Das Resultat
ist: Ich werde beobachtet, nicht allein von einem
Psychiater, auch von mir selbst — (ich wollte,
ich könnte mir was dafür anrechnen —). Ich
kann den ganzen Tag nicht auf einen Namen
kommen, auf den Namen meines Urgroßvaters,

der Scheik in Bagdad war. Dieser Zustand ist
unsäglich unerträglich, als ob man gähnen muß
und kann nicht, als ob man in eine Posaune blasen
muß und findet die Oeffnung nicht. Ich war
heute schon überall, wo irgend etwas von Asien zu
spüren ist. Auch im orientalischen Seminar war
ich beim Rektor, der dachte freundlich über den
Namen meines ehrwürdigen Urherrn nach, und
alle seine Schüler taten das, und Schülerschüler,
Muselmänner, Chinesen, Japaner, Studenten aus
Vampur, Koreaner, Sudanesen; es dachten Sia-
mesen, Indier, Serben, Türken, Montenegriner,
Talmudisten, Zionisten, auch die beiden Söhne
einer Kaffernfamilie dachten, und denken wahr-
scheinlich jetzt noch nach. Ich habe kein Ge-
dächtnis mehr, seitdem bei mir Gehirnerweichung
in Frage genommen ist. Rechts vom Gehirn
steht mein Heer — links der Feind. Ich fühle
seitdem auch nicht mehr richtig, ich taste; die
Sternwarte meines Herzens ist getrübt — und
mein Horizont liegt hinter dem Rubikon — und
der Sturm — verweht meinen Geist. Wie soll ich
mich beschäftigen? Ist mein Psychiater nicht
bei mir, fahr ich zu ihm heraus und bringe ihm
einen Kloß meines Gehirns. Ich muß immer
meckern ,wenn ich bei ihm bin; er hat einen
roten Ziegenbart. Ich konnte mich schon als
Kind nicht beschäftigen, meist habe ich mit
Knöpfen gespielt, aber ich habe alle verloren
oder wo angenäht, und wenn der Psychiater nicht
eindringlicher mich beobachtet, werde ich es den
Redaktionen der Zeitungen mitteilen, die mich bei
der Gehirnerweichung ertappten; sie haben ihn
doch für mich engagiert, und er muß seine
Pflicht tun.
Ich laufe jetzt so gern über Wiesen; Kna-
ben gewähre ich mit Vorliebe mein Gehirn, so-
lange es noch einigermaßen hartköpfig ist, zur
Zielscheibe ihrer Gewehre. Das Sprechen wird
mir schwer; wenn ich singen könnte! Dann
könnte ich viel besser alles sagen. Aber ich habe
zu jung gesungen, die frühe Blüte meines Kehl-
kopfs war noch nicht befestigt. Sprechen lernte
ich schon beim Milchtrinken, aber das Singen
hätte ich unterdrücken müssen, Talente sollte man
mindestens fünfzehn Jahre im Steckkissen her-
umtragen. Dabei wird man immer kleiner und
schläfriger. Ich bat heute den Psychiater, er
solle mich ein bißchen in seinem Kinderwagen
herumfahren. Er hat nämlich einen im Neben-
zimmer stehn, darin seine Frau ihre Hoff-
nungen spazierenfährt, schon zwei Jahre,
damit er sie nicht verstößt. Von seinem
zukünftigen Sohne lasse er sich die Fesseln
der Ehe gefallen, aber nicht von seiner Frau,
die geht immer in blau, weil sie den Himmel
auf Erden vermißt. Er aber hat mir ein Rassel-
chen geschenkt, ich hätte viel lieber die Gummi-
puppe gehabt, für in den Mund zu nehmen. Ich
habe einen Brief von mir selbst von früher ge-
funden, an meine britische Busenfreundin, den
lese ich dem Psychiater vor. Seitdem ich diesen
Brief geschrieben habe, ist mein Herz grau
meliert, und Dr. Ziegenbart sagt: „Lesen Sie!"
Dear Mabel! Manchmal hab ich so Sehnsucht,
ich säß wieder nachmittags an einem großen,
runden Tisch neben meiner Mama und so zwischen
meinen Schwestern und Brüdern, und oben sitzt
mein Papa, und wir trinken zusammen um vier! Uhr
Kaffee aus der silbernen Kaffeemaschine durch
Filtrierpapier — und so ganz zusammengerückt
sitzen wir, wie eine Insel, aus einem Stück. Nichts
Fremdes mehr, aber wir fließen ineinander, trotz-
dem wir Geschwister alle anders waren, und
fürchten uns nicht vor dem Tode, weil einer den
andern ersetzt. Das ist lange her, ich weiß auch
nicht, warum ich daran so oft denke, zumal ich
doch Robinson wurde, durchbrannte in die Welt,
weil ich dem Robinson auf dem Deckel seiner Ge-
schichte so ähnlich sah. Und ich liebte das Aben-
teuer, das hat nichts mit der Stube zu tun, und
wenn es auch eine herrliche ist. Aber dreimal im

Leben hatte ich eine große Sehnsucht, wieder
in einer Stube neben Mama und Papa und Ge-
schwistern zu sitzen. Als ich mich zum ersten
Male vermählte. Aber ich fiel ins Haus und ver-
letzte mir die Knie, die bluten seitdem. Und das
zweite Mal, das war noch trauriger; da folgte ich
meinem Verlobten in !seine Heimatstube. Ich
saß neben seiner Schwester; mein Verlobter saß
neben seiner Mama, und oben am Tischanfang
trank sein Papa den Nachmittagskaffee, und auf
einmal sah ich, daß die fremde Mama meinem
Verlobten ein großes Stück Kuchen auf den
Teller legte, ein Stück Torte mit einer Frucht
darauf; und ich bekam ein schmales Stück Torte
ohne eine rote Kirsche; da war ich plötzlich ganz
klein wie zu Haus und weinte. Und zum dritten
Male überkam mich die Sehnsucht, mit meinen
Verehrern in ihr Haus zu gehen. Das erinnerte
mich am wirklichsten an zuhaus. So viel Ge-
schwister, die sprachen wie meine Schwestern
und Brüder und waren schön, aber dann
kam ein großer Hund und schnüffelte um
den Tisch herum, bis er mich fand; denn
einem von den drei Brüdern hatte ich
das Flerz gefressen. Ich sehne mich nun
nicht mehr nach einer Stube, wo eine Mama
und ein Papa und Geschwister um den Tisch
sitzen und eine Insel sind. Mein Angebeteter
verspottet mich und meint, ich ziere mich wie
ein Backfisch. Ich habe kein Verlangen mehr
nach der heiligen Nachmittagsstube, und ich bin
wirklich der Robinson auf dem Deckel seiner
Abenteuer. Aber ich möchte noch die ganze
Nacht so traurig erzählen. Many greetings, dein
Robinson. — Wer mich alles in die drei ersten
Stuben geführt habe, meint der Psychiater, sei
für ihn nicht schwer zu enträtseln, aber den
Angebeteten möchte er kennen lernen, der eine
Ausnahme bilde, da ich seiner Eltern Stube
nicht heimsuchte. Ich verstehe; des Doktors iro-
nische Weise ist mir sympathisch. Der Psychia-
ter nickt mit dem Kopf; er ist Schriftsteller neben-
bei, und hat Momente der Psyche aufzuweisen,
die bei Doktoren ohne Drum und Dran nicht
vorhanden sind. Sein Ton ist mitleidig, wäre
er eine Frau, spräche er wehleidig. Ich habe
das Glück, daß er keine Frau ist. Zwischen ihm
und seiner Frau fällt ein schwarzer Vorhang,
aber über seinem Schreibtisch hängt unver-
schleiert, aber zahm verblümt, ein deutscher Ge-
lehrter mit einem Bart aus Eichenlaub; sein
früherer Universitätsprofessor; den muß er zum
Aufreizen seiner Nerven haben. Auch steht in
seinem Sprechzimmer eine Lampe, deren Birne
streikt, weil sie kein Apfel ist. Der Waschtisch
seiner medizinischen Hände läuft nicht, er steht
auf Plattfüßen. Mein Zimmer funktioniert viel
besser, es liegt am See, an der Waschschüssel.
Und dabei spreche ich immer vom Tigris, nicht
wahr? Verhöhnt mich nur liebwerte, wahrhafte
Leser; o, diese Welt mit ihren Flüssen, Neben-
flüssen und Ueberflüssen! Es hat jemand dem
Psychiater gesagt, ich sei abnorm eifersüchtig.
Das könnte allenfalls ein Symptom von Gehirn-
erweichung sein. Aber was soll ich mit meinem
Mann sprechen, wenn er in der Nacht nach Haus
kommt, als Eifersucht Der Leser soll mir die
Frage ganz aufrichtig beantworten, bitte. Ich
lehne an seinem Rücken wie vor einem blinden
Fenster. Uebrigens ist meine Eifersucht nicht
subjektiv, sie ist eine Landeigenschaft, ein
Kostüm, eine Nationaltracht der Seele. Mei-
nem Psychiater leuchtet die landläufige Logik
wirklich ein; ich bin ein für allemal von
ihm als gesund entlassen, und brauche mich
nicht mehr seinen Beobachtungen zu unter-
ziehen. Der Feind ist verurteilt vom hohen Ge-
richtshof zu 10 Mark Schadenersatz; hätte er
nicht schon Berufung eingelegt, so hätte ich es
ihm geraten, denn er soll in schlechten Verhält-
nissen sein — ich bin zu weich . . .! Was soll
ich nun tun, als über den Namen meines Ur-

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