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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 130
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Döblin, Alfred: Einakter von Strindberg
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Adler, Joseph: Vom Altphrasenhandel: Was sind Spitzen?
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Empfohlene Bücher
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Notizen / Ständige Ausstellungen / Siebente Ausstellung Wassily Kandinsky / Verlag der Sturm / Zeitschriften / Anzeigen
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0172

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Kultur wind ihre fragwürdigen Fortschritte machen
—- und die Erde wird schwer daran zu tun haben,
noch einmal ein Geschöpf wie Strindberg zu gebä-
ren. Strindberg hat nicht den psychologischen Blick
vertieft Wie der Russe; man muß an der staats-
bürgerlichen Glaubwürdigkeit seiner Personen mit
Zola oft zweifeln. Aber hinter dem gröbsten Irr-
tum, der absurdesten Linienführung seiner Stücke
brennt die fixsternsichere Wahrheit, die Unverrück-
barkeit des intensiven Erlebnisses. Der sinnfäl-
ligste Fehler Strindbergs, Mystik, Aberglaube, Pa-
ranoia eingeschlossen nimmt es an Lebenstüchtig-
keit und Kraft mit jeder Sechzig-Zentimeter-Panzer-
platte auf. Dies ist es, wenn ich es auf eine kleine
Formel bringen soll: die Werke sind im Angesicht
des ewigen Todes geschrieben. Ihr Ernst wiegt
jede Kirchhofstraurigkeit, Komödientragik langer
Zeitalter auf.
Zwei Einakter also dieses kaum vergleichlichen
Mannes hat Herr Lantz neulich gebracht. Es
wurde, so schien es mir, vortrefflich, teilweise vor-
bildlich gespielt. Es fällt mir nicht ein, hier zu
schnüffeln und Details auseinander zu zerren, das
Urteil bei diesem Spieler zu verstärken, bei jenem
abzuschwächen. Ich fand: die Stücke saßen bei
mir.
Alfred Döblin

Vom Altphrasenhandel
Was sind Spitzen?
Man muß die Sünden des Feuilletonismus in
einer Sonntagsnummer der Morgenpost heimsuchen
bis in die siebente und achte Beilage. Dort be-
kommt über einem Strich, getrennt von der Hoch-
flut fetter Inserate, der eifrige Leser eßlöffelweise
alle die köstlichen Tropfen verabfolgt, die unsere
moderne Publizistik zur Hebung der Allgemein-
bildung der Wissenschaft im Bette des guten An-
rechts abringt. Technische Plaudereien, natur-
wissenschaftliche Betrachtungen sehr gemeinver-
ständlicher Art, gefällige Ueberblicke statistischer
Natur, leichtfüßige Wanderungen für jedermann
durch die Sternenwelt und Lesestücke über allerlei
Wissenswertes lösen sich dort ab, Wand an Wand
mit den großen und den größten Inseraten. Auf
Grund einer zuverlässigen Auskunft, die das
Universal-Lexikon bereitwillig gibt, bereichert sich
der Feuilletonspekulant an der Unwissenheit der
Masse — indem er, man weiß es, aus den großen
Geldstücken die handlichen Kleinmünzen macht.
Er schlägt aus dem Kapital, den Schätzen der Wis-
senschaften Kupfer, und er trägt es ins Volk; aber
was er schreibt, ist Blech. Da ist ein Wiener
Feuilletonist, der in London lebt und sich S i 1
Vara nennt. Der Wiener Pseudononymus in Lon-
don schreibt für Berlin über alles: Es ist nichts,
worüber er noch nicht geschrieben hat. Oder:
Worüber er auch schon geschrieben hat, es ist
nichts. Der schreckliche Zusammenstoß eines gro-
ßen Ozeandampfers mit einem Eisberg läßt mich
kalt, wenn sich Sil Vara in einem Feuilleton daran
wärmt, Auch möchte ich einer rasenden Suffragette
um den Hals fallen, sehe ich, wie sich einer mit zah-
men, abgelegten und abgelebten Phrasen gegen sie
kehrt. Vier Wochen Londoner Regenwetter kann
nicht langweiliger sein als ein Feuilleton darüber:
ein Lappen Melancholie, über ein Gerippe aus hohlen
Betrachtungen gespannt. Aber Elle (Vara heißt die
spanische Elle) hat seine Größe auch an einer kur-

zen Geschichte der Spitze gemessen. Duftig, ga-
lant, lyrisch — jeder Zoll ein Schmock.
Was sind Spitzen, fragt er kurz, aber die Antwort
ist lang, die er sich darauf gibt. Und langwierig.
Unsere Neugierde ist geweckt:
„Spitzen sind gewebte Musik, genähte Lieder
ohne Worte, mit einem Filigranorganismus, den ein
lieblicher Rhythmus durchzieht. Leicht, fast un-
körperlich, zierlich, luftig, duftig, ein Hauch, sind
sie wie der weiße Niederschlag einer graziösen
Melodie, einer Gavotte im alten Stil, deren getra-
gene, vornehme Heiterkeit, matt verschleiert, die
Ahnung süßer Rokokodüfte birgt.
Spitzen sind Liebesgedichte, die um das Haupt
und die Schultern schöner Damen geschlungen wer-
den, kunstvoll gesetzes schmeichelnde, hallblaute
Worte, die das Leiseste, Innigste flüstern, das die
Verführung erfinden kann. Wie erglüht auch die
rosige Haut der Geschmückten — o, das wissen die
Frauen — unter dem schmiegsamen Netz dieser
schneeigen Verse! Sie hüllen sie ein in sanfter Um-
armung, preisen und erhöhen, wie jeder rechte
Minnesang, die Reize der Gebieterin und umschlie-
ßen zärtlich ihre Glieder in einem Wolkenkuß . . .
Spitzen sind Kulturmuster, Höhepunkte, Pointen,
Ausläufer des Schönheitsreichtums eines Volkes.“
Die höchsen Spitzen in der zerklüfteten Ge-
birgswelt des Schönheitsreichtums der Völker hal-
ten die Höhenschmöcke besetzt. Sie jodeln Phra-
sen und juchzen in Adjektiven. In Sturzbächen trü-
ber Druckerschwärze schwatzen sie in die Spalten
der Blätter dürre Feuilletonismen herab. In der
Kollektion menschlicher Errungenschaften hebt der
Superlativenhausierer die Spitze als Kulturmuster
hervor. Auch hört er „aus ihren Arabeskenwellen
und den geometrischen Figuren die Zwirnfaden-
stimmen ihrer Heimat zirpen, die Tamburin-
klänge von Arabien, Indien und Bysanz. Aus jenen
Gegenden schlang sich das fein gedrehte Flachs-
haar über Griechenland und Zypern, westlich nach
Mailand, Genua und Spanien, um dann in wunder-
baren kontrapunktischen Verknotungen nord- und
ostwärts nach Brabant, ins Venetianische und nach
Albion zu greifen, bis zu den grünen Küsten der
Smaragdinsel, nach Irland.“
Würgende Phantasie. Luft! Hilfe! Endlich.
Küste. Smaragdinsel. Mumpitz. Unecht. Täu-
schung. Zurück! „Wie lockiger Meerschaum, wie
weißer Gischt auf dunklen Wasserkanten, so wogt
der zarte Luxus durch die Welt.“
Sie wogt, er wägt. „Sie ist der Frauen ewiger
Stolz und ihre beste Folie, die gefälligste Dienerin
und schönste Geliebte, und nur für ein Jahrhundert
hat sie treulos — cosi fan tutte — sich auch Män-
nern hingegeben; hat sich ihnen (in großen Krau-
sen) an den Hals geworfen, ihnen die Hände und
den Saum der Gewänder geküßt. Dann ist sie
reuig wiederum zur Frau zurückgekehrt . . .“
Ein Jahrhundert lang hat sie sich auch den Män-
nern hingegeben. A u c h. Schöne Schweinerei das.
„Stets fällt ihre Schätzung erst, wenn auch der
Kultus der Frau sinkt. In grauen, nüchternen Ta-
gen, in Puritanerzeiten oder wenn der Krieg brüllt
und der Mann nur was wert ist — da verküm-
mert sie und kränkelt.“ —
Die Dame Spitze kränkelt in Puritanerzeiten.
Sie kränkelt. Nicht: daß die Konjunktur für sie un-
günstig wäre; sie kränkelt. Die Frauen der Wilden
tragen sie nicht. Und sie haben auch unter keinem
Kultus zu leiden, und ihre Männer sind auch in
Friedenszeiten etwas wert.
„Aber der Aufwand, der in Passementen, Bor-
derien, Tressen, Litzen, Spitzen, in Ueberladung
der Kostüme oft betrieben wurde hatte wiederholt

zur Folge, daß Gesetze erlassen wurden, die das
Tragen dieser Kostspieligkeiten, freilich meist ohne
Erfolg, strengstens untersagten. Aber zwei Jahr-
hunderte später hätte die Dame „Spitze“ tatsäch-
lich Gelegenheit und Anlaß gehabt, ihre Rechte zu
verteidigen und sich zu erheben. Doch sie tat es
nicht, stach nicht um sich und siegte dennoch wie
ein verwöhntes hübsches Kind. Das war, als man
vermeinte, ihren Hochmut brechen zu können, als
nämlich die Maschine kam, als sie ihr demokra-
tisches Zeitalter erlebte und ganz prosaisch engros
fabriziert wurde. Sie ließ es lächelnd ruhig ge-
schehen und gab das mechanisch erzeugte Gewebe
mit Patriziergebärde preis. Sie wußte ja: die Glo-
riole, die Bewunderung, der Wert, der Vorzug ge-
bührte immer nur der Handarbeit. Sie blieb
dort, wo sie kongeniales Wesen spürte
und sagte in hochnäsiger Arroganz: Ich gehöre
zu den „Spitzen“. — — Eine Eitle! — Sie
vergaß dabei, woher sie stammte, vergaß die bie-
dere Bauernherkunft und vergaß, daß sie in langen
Winternächten aus Sorgen und dem Schweiß der
Armen geboren wurde. Sie ist ein strebsamer
Emporkömmling, ein Sonntagskind, das sich der
rauhen Arbeitshände seiner Eltern schämt und
ihnen, wo es kann, in weitem Bogen ausweicht; sie
will immer auf den Höhen des Lebens
gehen, von Prunk und Glanz umgeben.“
Der Höhepunkt des Schönheitsreichtums eines
Volkes will auf den Höhen des Lebens gehn.
„Ein undankbares Geschöpf ist sie, das ihre
Pflegemutter schlecht entlohnt, eine elegante, aber
ungeratene Tochter, die sich am liebsten nur
dem reichen Liebhaber verkauft!...
Das muß gesagt werden, um endlich einmal auch
die Spitze gegen die Spitze zu kehren.“
Hier wurde des Blödsinns ganze Niedrigkeit
über die Spitze verbreitet. Ein Tagesschriftsteller
wollte die Psyche eines kulturellen Höhepunktes
ergründen, eines Artikels, der mit dem weiblichen
Geschlecht nur diesen gemein hat, und in Wirk-
lichkeit hat ein Kommis mit dem Weibe abge-
rechnet.
Joseph Adler

Empfohlene Büeher
Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hier
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.
Samuel Lublinski
Teresa und Wolfgang / Novelle
Das erste Buch der Bücherei Maiandros / eine
Zeitschrift von sechzig zu sechzig Tagen
Berlin-Wilmersdorf / Verlag Paul Knorr
Karl Kraus
Die chinesische Mauer / Essays
Heine und die Folgen / Essay
Pro domo et mundo / Aphorismen
München / Verlag Albert Langen
I Poeti Futurist!
Anthologie / Mit einer Einleitung von F. T. Ma-
rinetti und einer Studie über den Freien Vers
von Paolo Buzzi
Mailand / Edizioni Futuriste di „Poesia“

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