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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 134/135
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [10]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Rivière, Jacques: Gauguin
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Leonhard, Rudolf: Kandinsky
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0204

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■dem nur sich selbst wieder erleben wollte. Dem
Prälaten gegenüber, der das „Werk“ wohl ganz
anders gemeint hatte (nämlich, daß er sich selbst
wegschenken solle, um einen andern Menschen zu
erleben!), hätte er sich damit durchaus nicht ver-
teidigen können. Aber so lebhaft wirkte bei Ba-
ron Frangart auch in dieser Sache die Ueberzeu-
gung seines höheren Menschentums, der Glaube an
•seine besondere Wohlgeborenheit nach . . .
Fortsetzung folgt

Gauguin
Von Jacques Rivtere
Zauberer, Magier, Sopkist
Plato
Ich sehe ihn so, wie er sich gemalt hat. Sein
großes ironisches Gesicht unter der Mütze ist das
eines Abenteurers, der Magier sein könnte. Es ist
von irgendeiner Kraft durchdrungen, zu der noch
Scharfsinn kommt. Er ist der Mensch, der die
Geheimnisse natürlich entdeckt hat, und weil er
sich ihrer zu bedienen versteht, ist in seinen Zügen
die Intelligenz ein Lächeln. Er liebt die Dinge;
weil er sie versteht, beherrscht er sie. Und be-
herrscht von dem1 Gefühl, allein dieses Reich zu
besitzen, scheint er, der Wissende, zu schweigen.
Gauguin entblößt Landschaften. Ganz sanft
erschließt er sie, läßt sie ihrem Temperamente an-
gemessen steigen, voller Süße. Er erfindet sie
nicht. Er legt sie einfach bloß und leitet ihre Ent-
wicklung mit dem Wissen des Magiers. Unter
der Macht seiner Augen wird die Natur ordentlich.
Ganz ihrer Eingebung folgend, ordnet sie sich an.
Sie wird ein großer unberührter und doch gepfleg-
ter Garten: ewig sind die Blätter üppig, aber es
scheint, als wolle eine geheimnisvolle Hand sie
zu irgend einem Akkorde stimmen. Alles wird or-
ganisiert wie unter einer unfaßbaren Beschwörung.
So entsteht ein maßvolles Paradies. Die Weis-
heit durchläuft es, vereinigt alle seine Teile, singt
wie ein Vogel auf seinen Bäumen, und ahmt zärt-
lich auf den rosigen Ufern die hohen, gewölbten,
ruhigfließenden Wogen seines Ozeans aus blauem
Tüll nach.
#
Zuerst erkenne ich in der Zeichnung eine be-
zaubernde Mäßigung.
Inmitten Gauguins Bildern erhebt sich aufrecht
und voll die menschliche Form. Am häufigsten
steht sie in der Haltung der Vegetabilien und der
Wesen, die die Natur inspiriert. Diese Vertika-
lität ist nicht, wie bei Cdsanne, durch die Schwere,
durch das Rufen der Erde bedingt. Sie ist das
Produkt des Erdsaftes, der ohne Umweg wächst.
Aufrichtiger Schwung hält den Körper sanft auf-
recht.
Aber sie hüpfen nicht; sie sind maßvoll. Sie
sprudeln hastlos. Nichts Rundes. Die Wölbungen
der Hüften und Schultern werden in gerade Linien
abgeschwächt; sonst könnten sie, zurückgebogene
Sprungfedern, den Eindruck erwecken, als schnell-
ten sie vor, als projizierten sie den Körper über
sich hinaus; die Form überragt nur, um ihren
Platz zu behaupten, sobald sie ihn erreicht hat,
hält sie an; nichts in ihr will sich verlängern.
Man könnte glauben, sie schließe sich selbst vol-
ler Liebe ein. Oben krümmt sie sich ein wenig.
Mit Wollust verfolgt der Bleistift die geschlossene
Linie seiner Vollendung. Die einzige Geste, die in
■ihrem Emporsteigen durch nichts beendet wird, die
des früchtesammelnden Mannes, mündet im Ruhig-
fließenden. Er hat etwas Vollendetes, Gekröntes.
Diese Ruhe, diese Passivität der Haltungen,

kommen daher, daß sie sich nicht zueinander zu
neigen oder zu nähern oder sich zu lösen brauchen,
wenn sie sich vereinigen wollen. Eine Verein-
barung scheint unsichtbar über ihnen zu schwe-
ben. Harmonie steigt zu ihnen herab und hält sie
zusammen. Es genügt ihnen, richtig zu sein.
Ihren Sinn erhalten sie von oben, wie wenn man
die Hände auf sie legte. Lange ruhige Gesten
schweben zwischen ihnen, wie Pflanzen sich unter
dem Windeshauch wellen. Er verknüpft sie, ohne
sie anzuziehen, er zeigt sie nur einander. Man
kann zuerst die weite Zeichnung der Glieder für
abgenutzt halten: sie besteht aus zwei Linien, die
hauptsächlich einem herrschenden Parallelismus
dienen. Aber wenn die Muskelansätze verheim-
licht sind, so geschieht es nur, damit die Augen
durch nichts von der Verfolgung der Bewegung
abgelenkt werden. Alle Vereinfachungen suchen
nicht etwa etwas Barabarisches, sondern wollen
nur das Gemäße. Es gibt eine so zarte Verbin-
dung, daß man bemerken muß, man ist im Frie-
den. — Manchmal ist es keine greifbare Geste, die
die Haltungen einander verbindet, sondern nur eine
gewisse Seite der Unbeweglichkeit. Durch ihre
Art sich einsam zu halten, die jede Form hat, macht
sie die anderen sich selbst verantwortlich.
So viel Harmonie kann nur vorher überlegt
sein. Gauguin hat nicht die leichtgläubige Geduld
Cdzannes. Er hoffte nicht, die Dinge durch Ko-
pieren zu versinnlichen. In seinen Landschaften
gehen durch die Felder biegsame Linien, deren
horizontales Geringle Baum an Baum kettet. Und
dennoch wird der Natur keine Gewalt angetan.
Das Werk begnügt sich damit, sie zu erwecken;
es steigt zu den Dingen hinab, berührt sie schwei-
gend, wie man mit der Hand einen Eingeschlafe-
nen ermuntert. Dann läßt es sie ungebunden auf-
stehen. Das Werk unterstützt sie nur durch seine
vielfältige Anwesenheit, es fördert ihre Entwick-
lung durch seine unsichtbare Zartheit.
Der Magier erweckt die schönen lebenden Phan-
tome.
♦ * •
Wie soll man erkennen, in welchem Augen-
blick Gauguins Farbe die Farbe der Dinge verläßt
und künstlich wird? Der Uebergang ist unmerk-
lich. Durch eine feine Umbildung wird sie nach
und nach immer weniger „natürlich“; schweigend
wird sie zum Wunder; sie öffnet sich dem Zauber.
Sie ist unempfindlich und blühend. Sie dehnt
sich in hellen Flecken, die durch die Abwesenheit
der Sonne wie verschleiert sind. Nicht die Tiefe
des Gegenstandes drückt sie aus, aber sein lächeln-
des Antlitz in der Durchsichtigkeit des Schattens.
Jede Nüance blüht in Ruhe auf; sie überflutet,
um sich auszubreiten, stumm. Und doch ist sie le-
bendig. Oft glänzt eine Farbe im Herzen des Bildes;
aber das Ganze ist so zusammengehalten, daß man
sie zuerst nicht sieht. Wie eine Luciole im Blatt-
werk. Und plötzlich wacht sie.
Indern er seine Farbe abschwächt, und derem
Aufgehen irgend einen Zweifel entgegensetzt, ver-
teilt Gauguin sie sorgfältig auf der Leinewand.
Er verteilt die Töne, die im Flecken vielgestaltig
die Oberfläche des Gegenstandes beleben; dann
verdichtet er jeden einzelnen. Ihre ineinander-
gehende Verschiedenheit sammelt sich nach und
nach in Flecken, von denen jeder einzelne ver-
schiedene Auffassungen des Vor-Bildes erkennen
läßt. Es ist das Gegenteil der impressionistischen
Methode. In dem Umriß eines Baumes verteilen
sich die Blätter auf einige farbige Flecken, die mit
Vorsicht nebeneinander liegen. Man fühlt die
Wollust der Farbe, sich so im Innern der Gegen-
stände nach deren Form zu verteilen. Auf einem
abschüssigen Terrain übersteigt dies Rosa doch
nicht seine Grenzen; es hält plötzlich inne.

Aber die Farbtöne, von . denen sich die Gegen-
stände durchdringen lassen, sind ihnen nicht
fremd. Es sind nicht von vornherein fest-
gesetzte Nüancen, die die Farben der Natur er-
setzen sollen. Gauguin benutzt nur die Macht
über die Dinge; er überredet.sie,. sich sacht von
dem abzuwenden was sie sind; er sondiert sie
vorsichtig, er fordert sie zu Aenderpngen auf.
Schweigend ruft er die zerstreuten Elemente an und
vereinigt sie durch seinen Willen, wie man die
Kohlen durch Blasen zu einem hellen Feuer ent-
facht.
In diesem Augenblick entsteht die Harmonie des
Bildes. Alle verschiedenen Farben schließen heim-
lich inspiviert einen Bund. Die Gegenstände sind
allmählich dahin gebracht worden, einander zu
entsprechen; ihre verschiedenen und zarten Ant-
litze sind mir zugewendet. Ich erkenne jedes ein-
zelne und genieße lange seine gesteigerte Abstu-
fung, und voll Entzücken fühle ich, wie sie im sel-
ben Augenblick an der andern Seite des Bildes
durch einen kaum wahrnehmbaren Farbfleck, der
ihm entspricht, verheimlicht wird. Welch zarte
Erinnerung! Mit den zartesten Tönen gemaltes,
süßes Erinnern! Garten des Gleichgewichts!
Vielleicht sind in manchen Bildern zu viel Blu-
men, zu viel ausgebreiteter Reichtum . . . Das
Bild Gauguins, das ich am meisten liebe, dieses
Seltsame, nachdenkliche Paradies, heißt: „Was
sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen
wir?“ Es enthält Hell-Dunkelheiten, Verhüllun-
gen. Die laue tahitische Nacht badet diese Land-
schaft. Und steht nicht die Nacht im Hintergründe,
eine schattenverschleierte Frau?
Autorisierte Übertragung aus des Französischen von
Jean-Jacques.

Kandinsky
Es soll diesmal nicht vom Kunstwert und vom
Malerischen dieser Bilder gesprochen werden;
trotzdem vielleicht, Kritikern gegenüber, betont zu
werden verdiente, daß, wer ein reitendes Paar,
eine alte Stadt und manche Landschaft in so ge-
waltiger Verdichtung romantischer Natur zu
gestalten vermochte, daß der nicht aus Un-
fähigkeit zum Erfassen, sondern aus Absicht
und künstlerischem Zwange auf die äußere
Wahrheit der Dinge, die Wirklichkeit zu verzich-
ten — scheint. Es soll nur (aber doch ergibt das
vielleicht auch etwas über den Kunstwert der
Bilder) eine Eigenschaft dieser Dinge, die in Er-
innerung und Erkenntnis, sich dem Betrachter der
späteren, in klarer Entwicklung nach der Lehre die-
ser Ausstellung den früheren entstammenden Bil-
der Kandinskys enthüllt, bemerkt werden. Die
Wirklichkeit nämlich ist nichts Vollendetes, die
Dinge sind, auch in der äußeren sinnlichen Erschei-
nung, nicht geschlossen. Wer mit klarstem Blick
selbst lange durch die Straßen geht, dem öffnen
sich die Linien der Häuser, vermischen sich die
Erscheinungen: Fensterreihen werden zu Fratzen
Wagen ballen sich und scheinen zu stehn, hinten
schwindet die Straße — saht Ihr das nie? — einen
Torweg zu in den Hals eines aufgerichteten Pfans.
Eine Laterne kann eine Tulpe scheinen, der
laufende Fuß eines Pferdes eine seltsame
gierig sich streckende Orchidee sein. Wer
hat noch nicht (und nicht zum ersten Male ist
das hier gemalt worden) in einem Baum einem
Menschen erkannt, in einem Wachhol der busch eine
gekrümmte Leiche! Wie oft lösen sich die Dinge
und fließen ineinander: daß eine Hand: die sich

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