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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

DOI issue:
Nr. 134/135
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Leonhard, Rudolf: Kandinsky
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0205

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Ludwig Meidner: Originalzeiehnung


dir bietet, fremd dem Körper scheint, wie eine
Qualle hängt und sich regt, daß dein Schauen ein
Fieber wird. Doch dies ist immer nur ein Bei-
spiel, während zehnfach, hundertfach die Dinge
selbst ihr Aussehn wechseln können, jede Erschei-
nung zehn, hundert Erscheinungen ist. Die Dinge
sind nicht nur sie selbst — und dies ist hier gemalt:
die Vieldeutigkeit der Dinge.
Der Blick hat nicht nur die Fähigkeit zu fassen,
er kann auch bewahren. Wenn der Künstler Nach-
bilder oder Erinnerungen mit dem sinnlich Erfaß-
ten mischt, wenn er die Vieldeutigkeit eines Dinges
so gestaltet, daß gleichzeitig einige oder alle Sei-
ten, Formen, Arten zu fühlen sind, wenn die Viel-
deutigkeit selbst gestaltet ist — das nennen wir

(wie noch andres) Groteske. Die Kunst, von der
hier gesprochen wird, gibt andres. Die Vieldeu-
tigkeit ist nicht ihr Thema, sondern der Grund ihrer
Existenz, die vielfältigen Erscheinungen werden,
eben in ihrer VielfältigKeit, gestaltet, nicht das viel-
fältige Erscheinen; und diese mehr lyrische Art,
bei der die Vieldeutigkeit des Vorwurfs im Kunst-
werk erscheint, ohne erkannt im Bewußtsein zu
ruhen, das ist das Märchen (nicht der Mythus«
der anders steht). Märchenhaft sind ihre Erzeug-
nisse; die Märchen der Dinge, das Märchen der
Erscheinung ist ihre — Stimmung. Märchenhaft
sind schon die früheren Bilder Kandinskys: ihr
Russisches, dem Orient Nahes — diese Prinzessin,
die auf zum grünen Vogel in den Zweigen blickt

— ist sie uns nicht aus den Erzählungen tausend
und einer Nacht bekannt?
Nun wissen wir auch, wie Bilder dieser Art
(neben der es viele andre gibt) zur Natur stehn:
sie zeigen nicht die Wahrheit der Wirklichkeit,
vieldeutig ist die Wirklichkeit, sie haben die auch
wieder vielfältige innere Wahrheit der andern
Seite — des Märchens.
Rudolf Leonhard

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