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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 106
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [2]: Roman
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Kandinsky, Wassily: Formen- und Farben-Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0015

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Am hellen Tage hatte er mit Dämonen und
Gespenstern gekämpft, die er sich erfunden hatte,
wie früher das Geisterheer und war ihnen gar
erlegen, nicht besser als ein abergläubisches
Kindchen.
Sie hatte ein glattes Gesicht wie andere
Mädchen, die Falten ihres Gewandes fielen nicht
stolzer als über andere Mädchenleiber über sie.
Er mußte eine Bewegung seiner Seele mißver-
standen haben, und dieses Mädchen war ganz
schuldlos.
Irene aber suchte sein Gespräch und seinen
Anblick. Er regte sie ängstlich an; er hatte
etwas von einer Kaktee an sich, von dem schloh-
weißen Greisenhaar. Sie suchte Johannes und
er wich ihr nicht aus, denn er ging unberührt
neben ihr her. Und bald fand er ein Vergnügen
darin, sich von einem Menschen suchen zu lassen;
es schmeichelte ihn, wie dieses Wesen, das ihn
so düstere Träume geweckt hatte, sich um ihn
bemühte, ihn anerkannte und sich beugte; es
schmeichelte ihn, wie diese bewunderte und um-
worbene kühle Schönheit gerade auf ihn die
Augen richtete.
Er konnte ihre Stimme, wie er es wollte, zum
Singen und Erzittern bringen, zum Anschwellen
und Abkühlen. Um sich diese freudigen und
spöttischen, spielerisch leichten Gefühle zu er-
halten, ging er neben ihr und dachte heimlich
mit einer verachtenden Dankbarkeit an sein rot-
haariges Spielzeug. Bisweilen stieg aber wieder
das Mißtrauen in ihm auf; vielleicht durchschaute
sie ihn, vielleicht spielte nicht er, sondern sie mit
ihm, und gönnte ihm höhnisch seinen Irrtum;
und er empfand einen Zorn auf sie, und wilde
Wut und Ekel, dann begegnete er ihr schroff,
blickte von ihr fort oder wich ihr ganz aus.
Mit Widerstreben ließ er sich ihre freund-
lichen Worte und Fragen gefallen, die ihn doch
so angenehm wie Taubengurren berührten; —
warum sollte er sie meiden? Ja, er mußte sie
noch loben und ihr ehrlich Anerkennung zollen,
daß sie gerade ihn suchte zwischen vielen. Und
es lockte ihn zu wissen, wie diese Seele gebaut
war, die so seltsame Wahl treffen konnte.
* *
*
Fortsetzung folgt

Formen- und Farben-Sprache
Von Wassily Kandinsky
Die Form im engeren Sinne ist jedenfalls
nichts weiter, wie die Abgrenzung einer Fläche
von der anderen. Dies ist ihre Bezeichnung im
Aeußeren. Da aber alles Aeußere auch unbe-
dingt Inneres in sich birgt (stärker oder schwächer
zum Vorschein kommend), so hat auch jede
Form inneren Inhalt. Die Form ist
also die Aeußerung des inneren In-
haltes. Dies ist ihre Bezeichnung im Inneren.
Hier muß an das Beispiel mit dem Klavier ge-
dacht werden, wobei man statt „Farbe" „Form"
stellt: der Künstler ist die Hand, die durch diese
oder jene Taste (= Form) zweckmäßig die mensch-
liche Seele in Vibration bringt. So ist es klar,
daß die Formenharmonie nur auf dem
Prinzip der zweckmäßigen Berüh-
rung der menschlichen Seele ruhen
muß.
Dieses Prinzip wurde hier als das Prinzip
der inneren Notwendigkeit bezeichnet.
Die erwähnten zwei Seiten der Form sind
zur selben Zeit ihre zwei Ziele. Und deshalb
ist die äußere Abgrenzung dann erschöpfend
wenn sie den inneren Inhalt der Form am aus-
drucksvollsten zum Vorschein bringt. Das Aeußere
der Form, das heißt, die Abgrenzung, der jn

diesem Falle die Form zum Mittel dient, kann
sehr verschieden sein.
Aber trotz aller Verschiedenheit, die die Form
bieten kann, wird sie doch nie über zwei äußere
Grenzen hinausgehen, und zwar
entweder dient die Form, als Abgrenzung,
dem Ziele, durch diese Abgrenzung einen ma-
teriellen Gegenstand aus der Fläche herauszu-
schneiden, also diesen materiellen Gegenstand auf
die Fläche zu zeichnen, oder
die Form bleibt abstrakt, das heißt, sie be-
zeichnet keinen realen Gegenstand', sondern ist
ein vollkommen abstraktes Wesen. Solche rein
abstrakte Wesen, die als solche ihr Leben haben,
ihren Einfluß und ihre Wirkung, sind ein Quadrat,
ein Kreis, ein Dreieck, ein Rhombus, ein Trapez
und die unzähligen anderen Formen, die immer
komplizierter werden und keine mathematische
Bezeichnung besitzen. Alle diese Formen sind
gleichberechtigte Bürger des abstrakten Reiches.
Zwischen diesen beiden Grenzen liegt die
unendliche Zahl der Formen, in denen beide
Elemente vorhanden sind und wo entweder das
Materielle überwiegt oder das Abstrakte.
Diese Formen sind momentan der Schatz,
aus dem der Künstler alle einzelnen Elemente
seiner Schöpfungen entleiht.
Mit ausschließlich rein abstrakten Formen
kann der Künstler heute nicht auskommen. Diese
Formen sind ihm zu unpräzis. Sich auf aus-
schließlich Unpräzises zu beschränken, heißt, sich
der Möglichkeit berauben, das rein Menschliche
ausschließen und dadurch seine Ausdrucksmittel
arm machen.
Andererseits gibt es in der Kunst keine voll-
kommen materielle Form. Es ist nicht möglich,
eine materielle Form genau wiederzugeben : wohl
oder übel unterliegt der Künstler seinem Auge,
seiner Hand, die in diesem Falle künstlerischer
sind, als seine Seele, die nicht über photo-
graphische Ziele hinausgehen will. Der bewußte
Künstler aber, der mit dem Protokollieren des
materiellen Gegenstandes sich nicht begnügen
kann, sucht unbedingt dem darzustellenden
Gegenstände einen Ausdruck zu geben, was man
früher idealisieren hieß, später stilisieren und
morgen noch irgendwie andern nennen wird.
Diese Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit (in
der Kunst), den Gegenstand ohne Ziel zu
kopieren, dieses Streben, dem Gegenstände das
Ausdrucksvolle zu entleihen, sind die Ausgangs-
punkte, von denen auf weiterem Wege der
Künstler von der „literarischen" Färbung des
Gegenstandes zu rein künstlerischen (malerischen)
Zielen zu streben anfängt. Dieser Weg führt
zum Kompositionellen. ,
Die rein malerische Komposition hat für die
Form zwei Aufgaben vor sich:
Die Komposition des ganzen Bildes.
Die Schaffung der einzelnen Formen, die
in verschiedenen Kombinationen zueinander
stehen, sich der Komposition des Ganzen unter-
ordnen. So werden mehrere Gegenstände (reale
und abstrakte) im Bild einer großen Form
untergeordnet und so verändert, daß sie in dieser
Form passen, diese Form bilden. Hier kann
die einzelne Form persönlich wenig klingend
bleiben, sie dient vor allem der Bildung der
großen kompositionellen Form und ist haupt-
sächlich als Element dieser Form zu betrachten.
Diese einzelne Form ist so und nicht anders ge-
staltet; nicht, weil ihr eigener innerer Klang,
abgesehen von der großen Komposition, es un-
bedingt verlangt, sondern größtenteils, weil sie als
Baumaterial dieser Komposition dient. Hier wird
die erste Aufgabe — die Komposition des ganzen
Bildes — als definitives Ziel verfolgt.
So tritt in der Kunst allmählich immer näher
in den Vordergrund das Element des Abstrakten,
das noch gestern schüchtern und kaum sichtbar
sich hinter die rein materialistischen Bestrebun-
gen versteckte.

Und dieses Wachsen und schließliche Ueber-
wiegen des Abstrakten ist natürlich.
Es ist natürlich, da, je mehr die organische
Form zurückgetrieben wird, desto mehr dieses
Abstrakte von selbst in den Vordergrund tritt
und an Klang gewinnt.
Das bleibende Organische hat aber, wie ge-
sagt, eigenen inneren Klang, der entweder mit
dem inneren Klang des zweiten Bestandteiles der-
selben Form (des Abstrakten darin) identisch ist
(einfache Kombinierung der beiden Elemente),
oder auch verschiedener Natur sein kann (kom-
plizierte und möglicherweise notwendig dis-
harmonische Kombinierung). Jedenfalls aber läßt
das Organische in der gewählten Form seinen
Klang hören, wenn auch dieses Organische ganz
in den Hintergrund gedrängt wird. Deswegen ist
die Wahl des realen Gegenstandes von Wichtig-*
keit. In dem Doppelklange (geistiger Akkord)
der beiden Bestandteile der Form kann der
organische den abstrakten unterstützen (durch
Mit- oder Widerklang) oder für ihn störend sein.
Der Gegenstand kann einen nur zufälligen Klang
bilden, der, durch einen anderen ersetzt, keine
wesentliche Aenderung des Grundklanges her-
vorruft.
Eine romboidale Komposition wird zum Bei-
spiel durch eine Anzahl menschlicher Figuren
konstruiert. Man prüft sie mit dem Gefühl und
stellt sich die Frage: sind die menschlichen
Figuren für die Komposition unbedingt not-
wendig oder dürfte man sie durch andere orga-
nische Formen ersetzen und zwar so, daß der
innere Grundklang der Komposition dadurch
nicht leidet? Und wenn ja, so ist hier der Fall
vorhanden, wo der Klang des Gegenstandes nicht
nur dem Klang des Abstrakten nicht hilft, son-
dern ihm direkt schadet: gleichgültiger Klang
des Gegenstandes schwächt den Klang des Ab-
strakten ab. Und das ist logisch und auch künst-
lerisch tatsächlich der Fall. Es sollte also in
diesem Falle entweder ein anderer, mehr zum
inneren Klang des Abstrakten passender Gegen-
stand gefunden werden (passend als Mit- oder
Widerklang) oder überhaupt sollte diese ganze
Form eine rein abstrakte bleiben. Hier wird
wieder an das Beispiel mit dem Klavier erinnert.
Statt „Farbe" und „Form" soll der „Gegenstand"
gestellt werden. Jeder Gegenstand (ohne Unter-
schied, ob er direkt von der „Natur" geschaffen
wurde oder durch menschliche Hand entstanden
ist) ist ein Wesen mit eigenem Leben und daraus
unvermeidlich fließender Wirkung. Der Mensch
unterliegt fortwährend dieser psychischen Wir-
kung. Viele Resultate werden im „Unterbewußt-
sein" bleiben (wo sie ebenso lebendig und
schöpferisch wirken). Viele steigen zum „Ober-
bewußtsein". Von vielen kann sich der Mensch
befreien, indem er seine Seele dagegen abschließt.
Die „Natur", das heißt die stets wechselnde äußere
Umgebung des Menschen, versetzt durch die
Tasten (Gegenstände) fortwährend die Saiten des
Klaviers (Seele) in Vibrationen. Diese Wirkun-
gen, die uns oft chaotisch zu sein scheinen, be-
stehen aus drei Elementen: das Wirken der Farbe
des Gegenstandes, seiner Form und das von
Farbe und Form unabhängige Wirken des Gegen-
standes selbst.
Nun tritt aber an die Stelle der Natur der
Künstler, der über dieselben drei Elemente ver-
fügt. Und wir kommen ohne weiteres zum
Schluß: auch hier ist das Zweckmäßige maß-
gebend. So istes klar, daß die Wahl des
Gegenstandes (das beiklingende Ele-
ment in der Formharmonie) nur
auf dem Prinzip der zweckmäßigen
Berührung der menschlichen Seele
ruhen muß.
Also entspringt ^uch die Wahl des Gegen-
standes dem Prinzip der inneren Not-
wendigkeit.

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